Engel auf meiner Schulter

Wie ich schon angekündigt habe, ist 2025 für mich ein Jahr der runden Jubiläen, und das erste ist gerade ziemlich unvorbereitet über mich hereingebrochen. Eigentlich wollte ich einen Kuchen backen, eigentlich hatte ich lustige Spiele in den sozialen Medien geplant, und stattdessen reicht es jetzt nur für einen Blogartikel – und ich denke nicht, dass irgendjemand die lustigen Spiele vermisst hat, denn den Geburtstag, den ich heute feiere, feiere ich doch ziemlich allein. Die Geschichte, um die es geht, ist weitgehend unveröffentlicht, kaum jemand außer mir kennt sie, und das kleine Fandom, das sie tatsächlich einmal hatte, hat sich längst in alle Winde zerstreut. Und doch feiere ich heute, im Kleinen, den fünfundzwanzigsten Geburtstag einer Geschichte, die einfach nicht totzukriegen ist.

Ich war noch keine fünfundzwanzig Jahre alt, Buchhandelsauszubildende, lebte in Köln in einer richtig coolen WG, als ich auf dem Heimweg in der Straßenbahn nach Holweide mein Schreibzeug auspackte und mit einer Geschichte anfing, die mir seit ein paar Tagen durch den Kopf geisterte. Nicht im Traum wäre ich damals auf die Idee gekommen, dass ich, wenn ich einmal doppelt so alt wäre, immer noch an genau diesem Werk schreiben würde, dass ich über dieses Buch einmal eine Literaturagentur finden würde und eine ganze Reihe von Freund:innen, dass dieses Buch an mir kleben würde wie der Kaugummi unterm Schuh und immer wieder zu mir zurückkehren, auch wenn ich zwischendurch kurz davor stand, meine Engel zu Grabe zu tragen.

Ich schrieb per Hand, jeden Tag mindestens drei Seiten, und ich schrieb überall – ich schrieb zuhause in meinem Zimmer, ich schrieb in der Bahn, ich schrieb auf dem Fußboden vor der Tür meiner Mitbewohnerin, die sich dort eingeschlossen hatte und die Musik aufgedreht, wie sie das tat, wenn es ihr wirklich schlecht ging, und ich hoffte, wenn ich die richtige Szene schrieb, würde sie wieder herauskommen. Ich schloss meine Ausbildung ab, trat eine neue Stelle an und fuhr nach Berlin, wo ich, buchstäblich beflügelt, nachts auf den Stufen der Siegessäule im Schatten des Engels schreib, bis um mich herum die Lichter ausgingen. Ich hatte schon vorher geschrieben, ich hatte mich auch schon vorher in meine Geschichten verliebt, aber noch nie war es so tief, so intensiv. Und ich war noch nie so zufrieden mit meinem eigenen Stil.

Im Jahr davor, als ich im Rahmen meiner Ausbildung beschlossen hatte, mehr Klassiker zu lesen, war ich an Dostojewskis »Schuld und Sühne« geraten und unter so viel sprachlicher Brillanz schier zusammengebrochen. Nicht nur las ich das Buch nie zu Ende – es führte auch dazu, dass ich über Monate selbst kein Wort mehr schrieb: Die Tatsache, dass ich nie so gut sein würde wie Dostojewski ließ mich alle Brocken hinschmeißen, und das, obwohl ich im letzten Band meines vierteiligen Großwerks (zugegeben, die einzelnen Teile waren nicht so lang, aber immerhin!) »Die Spinnwebstadt« war und so kurz davor, diese Geschichte zu einem Abschluss zu bringen. Tatsächlich blieb die »Spinnwebstadt« liegen bis 2003, ich schrieb sie erst fertig, als ich mit den »Elomaran« einen Durchhänger erreicht hatte, aber wenigstens habe ich sie irgendwann zum Abschluss gebracht.

Aber meine Elomaran! Da stimmte jeder Satz. »Ich hatte noch nie einen Toten berührt, und noch nie meinen Vater«, schrieb ich an diesem ersten Tag, und es war, als wäre ich literarisch neu geboren worden. So vieles, was diese Buchreihe bis heute ausmacht, verdanke ich meinen Mitbewohnerinnen. Sie waren die künstlerischen, die Goths, die ihre Zimmer mit schwarzem Pannesamt und getrockneten Rosen dekoriert hatten, deren Bilder die Wände unseres Flurs zierten, und die mir völlig neue Welten eröffneten. Ich selbst war kein Goth, wurde auch nie einer, und mein Stil bestand aus Jeans und T-Shirts, damals wie heute – aber in mir erwachte ein Flehen und Ziehen, selbst Teil dieser dunkelgotischen Welt zu sein.

Ich wurde fünfundzwanzig in dem Jahr, ein gutes Alter zum Stürmen und Drängen, zum Sich-selbst-Finden und Herumexperimentieren. Wenn ich heute »Engelsschatten« lese, das erste Elomaran-Buch, das ich 2000 in einem Rutsch runtergeschrieben habe, sehe ich mein fünfundzwanzigjähriges Selbst vor mir, fühle wieder den Liebeskummer, den ich in dem Jahr erleben musste, und die Grenzen, die ich in mir selbst gesprengt habe. Ich war damals sehr frisch mit Depressionen in Behandlung, und auch die ziehen sich wie ein roter Faden durch dieses Buch, das so viel emotionaler war als alles, was ich zuvor geschrieben hatte.

Und ich denke wieder daran zurück, wie wir drei nachts auf unserem Balkon saßen und Absinth getrunken haben, wie überall in der Wohnung Kerzen brannten, und wie wir uns mit Lord Byron, Mr. Shelley und Mr. Keats angeredet haben, deren Personas wir in einer Art Rollenspiel übernommen hatten. Ich war Mr. Keats, habe das mit der Schwindsucht ernstgenommen und bildschön gehustet, und hatte immer vor Augen, dass dieser Mann in genau dem Alter, in dem ich da war, schon hatte sterben müssen und doch ein so schönes Werk für die Ewigkeit hinterlassen hatte. Das wollte ich auch: ein Werk für die Ewigkeit hinterlassen. Und ich fand es in meinen Elomaran.

Wie ich auf die Idee gekommen bin, mal nicht über Elfen zu schreiben, sondern über Engel? Ich hatte mit Engelchen eigentlich nie viel am Hut, ich fand sie verkitscht, und besonders religiös war ich auch nicht. Vielleicht war es am Ende wieder nur ein Versuch, diese beiden Freundinnen, die ich heimlich beide liebte, zu beeindrucken, zu betören, zu gefallen. Aber während ich an »Engelsschatten« schrieb, wandelte sich mein Verhältnis zu diesen würdevollen gefiederten Götterboten, wurde zu Achtung, zu Bewunderung. Ich habe immer noch nicht viel für blondgelockte Putten übrig, aber gebt mir einen würdevollen Grabengel, einen schwertbewehrten Sankt Michael, eine triumphierende Nike, und ich weiß wieder, warum ich dieses Buch so schreibe, wie ich es schreibe.

Ich verdanke ihnen so viel, meinen Elomaran. Die WG hat sich 2003 aufgelöst, ich bin noch über Jahre mit meinen ehemaligen Mitbewohnerinnen in Kontakt geblieben – heute sind wir nur noch lose über Facebook verknüpft, und ich muss sagen, das bedauere ich doch sehr. Aber immerhin meinen Elomaran bin ich treu geblieben, lang über das Ende von Hollow Willow, wie wir unsere Wohnung in Holweide nannten, hinaus. Es ging nicht mehr nur darum, von diesen Beiden geliebt zu werden – längst hatte die Geschichte ein Eigenleben entwickelt, schrieb ich sie um ihrer Selbst willen. Ich schrieb mal mehr, mal weniger – in manchen Jahren mehrere hundert Seiten, in anderen nur ein paar Dutzend – aber ich blieb dran, schrieb per Hand und tippte ab, und wenn ich ein Kapitel fertig hatte, lud ich es auf meine Webseite hoch.

Nie zuvor, und niemals wieder, ist ein Buch von mir derart öffentlich entstanden. Ich hatte Leser:innen, die der Geschichte online folgten, die per Newsletter über jedes neue Kapitel informiert wurden und sich dafür bei mir mit lieben Worten bedankten. Manchmal malten sie Bilder für mich, die ich dann auf der Webseite hochladen durfte. Aber das genügt mir noch nicht, ich wollte mehr, mehr Leser:innen, mehr Feedback, mehr Lob, wo mir mein eigenes nicht ausreichte. Über einen amerikanischen Print-on-Demand-Anbieter veröffentlichte ich die ersten beiden Bücher als Selfpublisher, lange bevor Selfpublishing ein Thema war, und verkaufte großartige zweiundzwanzig Exemplare davon, was gemessen daran, dass ich nur meine eigene Webseite als Plattform dafür hatte, wirklich ein stolzes Ergebnis ist.

Andere Sachen habe ich hier im Blog schon sehr oft erzählt: Wie ich 2008 über die Elomaran-Webseite meine Agentur gefunden habe, wie wir gemeinsam versucht haben, dieses monströse Großwerk an einen richtigen Verlag zu verkaufen, und natürlich daran gescheitert sind, wie es mir trotzdem Türen geöffnet hat, damit ich dann andere Bücher verkaufen und veröffentlichen konnte. Von 2010 bis 2023 haben die »Chroniken der Elomaran« brachgelegen, dachte ich, aus ihnen herausgewachsen zu sein, bis ich zu alter Liebe und alter Form zurückfand. Seitdem schreibe ich wieder dran, mal mehr, mal weniger. Zurzeit, weil ich mein Buch für Oetinger erst fertigschreiben muss, bevor ich wieder viel Energie in andere Geschichten investieren kann, ist es wieder weniger, und das wird auch der Grund sein, warum die Geburtstagsfeier so klein ausgefallen ist – ich bin einfach nicht so drin, wie ich zu anderen Zeiten war.

Aber ich gebe mich, und meine Engel, nicht auf. Die Zeit wird kommen, wo ich wieder intensiver dran arbeiten kann, und ich plane, den sechsten Band, »Himmelsgrund«, im Verlauf des Jahres fertigzustellen. Und wenn nicht dieses Jahr, dann nächstes. Ich habe es nicht eilig. Ich bin keine fünfundzwanzig mehr, und ich habe vor, noch ein paar Jährchen zu leben. Aber wenn ich daran denke, dass ich jetzt bald fünfzig werde, dass ich mein halbes Leben lang an dieser einen Geschichte schreibe – dann fühle ich mich doch ein bisschen alt. Ich kenne veröffentlichte Autor:innen, die waren noch nicht auf der Welt, als ich mit »Engelsschatten« angefangen habe. Aber ich werde in diesem Leben kein Wunderkind mehr, und dann kann ich mir auch alle Zeit nehmen, die ich brauche.

In diesem Jahr sind große Umstürze für die Geschichte geplant. Die Katastrophe wird hereinbrechen, ich werde eine Hauptfigur der ersten Stunde töten, und wirklich, ich freue mich nicht darauf, aber es muss sein. In einer epischen Fantasy-Chronik müssen auch mal epische Sachen passieren. Das ist, und war nie, Cozy Fantasy. Das ist eine dunkelgotische, stürmisch-drängende Geschichte von monumentaler Gewalt – zumindest würde ich sie gern einmal so verkaufen, Und wenn ich jetzt daran schreibe – dann fühle ich mich tatsächlich noch einmal so jung, wie ich damals war, vor fünfundzwanzig Jahren.

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