Manchmal hat man ein Buch, das erscheint so dermaßen wichtig, dass es seine Autor:innen vor Respekt in die Knie zwingt. So ergeht mir das gerade mit meinem neuen Kinderbuch, Arbeitstitel »Die verborgenen Bilder«. In einer Zeit, in der »Kinderbuchautor« als Beleidigung verwendet wird, ist es mir wichtig zu zeigen, wie wertvoll es ist, mit Büchern diejenigen zu erreichen, die einmal über das Schicksal dieser Welt entscheiden werden; in den Köpfen etwas zu bewegen, das Denken anzuregen und das Verstehen. Kinderbücher sind wichtig, Kinderbücher sind mächtig – so mächtig, dass sie den Menschen, die etwas gegen Selbstdenken haben, Angst einflößen.
Nicht von ungefähr sind Kinderbücher das erste, was in autokratischen Systemen verboten wird, was erst vom Lehrplan, dann aus der Schulbibliothek, der Stadtbücherei und am Ende den Buchhandlungen verbannt wird: Bücher über queere Selbstfindung, über kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, über Unterdrückung und Befreiung – in Russland und Ungarn wie in den USA finden reaktionäre Kräfte Argumente, weswegen diese Bücher von den Kindern ferngehalten werden müssen, und die Kinder von den Büchern. Und ich habe Angst, dass, bis Anfang 2026 »Die verborgenen Bilder« erscheinen, auch Deutschland in einer politischen Situation ist, wo Kinderbücher auf der Abschussrampe landen.
Als ich die Idee für das Buch hatte, waren von solchen Sorgen mir noch fern, und statt einer politisch aufgeladenen Geschichte sollte das ganze eine nette Gruselstory werden. Die Idee für diese Geschichte ist mit 2010 gekommen, aber angefangen hat das Ganze schon 2008, als ich mit meinem Freund in unsere erste gemeinsame Wohnung gezogen bin. In Aachen, im Frankenberger Viertel, in einem Altbau aus den 1920ern wurden wir fündig. Die Wohnung hatte einen Renovierungsstau, seit den Fünfzigern hatte dort die gleiche Frau gewohnt, hatten die jeweiligen Hausbesitzer nur das absolut nötigste an der Wohnung getan, aber wir erkannten das Potenzial, sie das uns bot: Hohe Wände für die Bücherregale, Wohn- und Esszimmer und je ein eigenes Zimmer für uns, genau das, was uns vorgeschwebt hatte, und noch dazu bezahlbar.
Wir steckten eine Menge Arbeit in die Wohnung, und wir wurden nicht enttäuscht. Sieben sehr schöne Jahre sollten wir im Frankenberger Viertel verbringen, bevor wir, mitlerweile verheiratet, in unser Eigenheim umziehen sollten. Aber alte Häuser bringen Überraschungen mit sich, und unsere saß direkt unter der hässlichen alten Tapete: Bleistiftzeichnungen an der Wand, wahrscheinlich aus der Zeit, als das Haus noch neu war und die Leute die Wände nicht tapeziert, sondern mit gelber Ölfarbe gestrichen hatten. Da waren zwei kunstvolle Frauenköpfe, die uns gut genug gefielen, um sie beim Tapezieren auszusparen, und verschiedene weniger gelungene Skizzen, die wir übertapezierten. Weniger schön: In meinem zukünftigen Schlafzimmer fanden wir ein überdimensioniertes Hakenkreuz, das wir, ehe wir es übertapeziertzen, einmal quer durchstrichen, als es sich nicht ausradieren ließ.
Alte Häuser haben eine Geschichte, und das galt auch für unseres. Wir lebten mit den Bildern, dachten uns nicht mehr viel dabei, bis ich zwei Jahre später auf die Idee kam, sie zur Grundlage einer Geschichte zu machen. So kam mir Frieke in den Kopf, die nach der Trennung ihrer Eltern mit Mutter und Schwester in unsere Wohnung zieht und über die Bilder an der Wand in die Vergangenheit reist, wo sie die gleichaltrige Ilsabeth trifft, die sich die Zeit vertreibt, indem sie an die Wände ihrer Wohnung malt. Die beiden Mädchen freunden sich über die Zeitengrenzen an, und Scheidungskind Frieke findet in Ilsabeths vergnügter Großfamilie die heile Familie, nach der sie sich sehnt. Sie merkt nicht, dass sich Ilsabeths Einfluss auch auf ihre Gegenwart zu erstrecken beginnt, dass sie den Geist ihrer Freundin, die als Kind gestorben ist, geweckt hat, und ahnt nicht, in welcher Gefahr sie selbst schwebt …
Das war der Plot des Buches, das, auch wenn meine damals noch ganz frische Agentin die Idee mochte, nie über die ersten drei Seiten hinauskam. Irgendwie fand ich nicht in die Geschichte hinein, irgendwie fehlte noch etwas, und so blieb die Idee im Order »Geplant« und schaffte es nie bis nach »in Arbeit« – und über die Jahre verlor ich sie aus den Augen. Wir zogen aus der Wohnung aus, und ob unsere Nachmieter am Ende die Bilder wieder übertapezierten oder sie wie wir in Ehren hielten, haben wir nie erfahren. Im neuen Haus waren andere Dinge wichtig, wieder viel zu renovieren, und ich dachte nicht mehr an die »Verborgenen Bilder«.
Dann kam der Sommer 2024, die Veröffentlichnug von »Die vierte Wand« stand ins Haus, und damit war es an der Zeit, ein Nachfolgeprojekt einzutüten – nur war ich völlig ideenlos. Wochenlang versuchte ich, ein Kinderbuchkonzept auf die Beine zu stellen, verrannte mich in etwas, das ich »Candypunk» nannte, eine Geschichte, in der in einer Parallelwelt eine Stadt unter Bonbonmasse verschwindet, aber es wippte nicht. Schließlich brauchte ich nicht irgendeine Geschichte – ich brauchte etwas, das es mit dem preisgekrönten »Unten« und der hochphilosophischen »Vierten Wand« aufnehmen konnte, und alles, was ich an Ideen hatte, war zwar nett, aber ihm fehlte die Ebene des Wesentlichen.
Aber dann, als ich schon drauf und dran war, die Segel zu streichen, kamen mir plötzlich wieder meine »Verborgenen Bilder« in den Kopf. Nur, dass ich das Ganze nicht mehr als Gespenstergeschichte aufziehen wollte. Die Geister der Vergangenheit, die in der neuen Fassung der Geschichte geweckt werden, sind die abscheulichen Fratzen des Nationalsozialismus. Wie schon in der ersten Planung, reist auch in der Neufassung Frieke ins Jahr 1928 – und muss dort miterleben, wie sich Ilsabeth und ihre Familie für Hitler begeistern. Diese nette Familie entspricht überhaupt nicht Friekes Vorstellung von Nazis, und vielleicht ist an dem Ganzen ja doch etwas dran, vielleicht hat dieser Mann ja in mancher Hinsicht auch Recht gehabt …
Dieses Buch fällt mir schwer, ich kann das nicht anders sagen. Ich muss sehr viel recherchieren, damit die historischen Zusammenhänge stimmen, aber das bedeutet, dass ich mich mit eienr Menge ekligen Gedankenguts auseinandersetzen muss – in meinen historischen Quellen wie in der Gegenwart, denn »Die verborgenen Bilder« versucht nicht mehr und nicht weniger, als die Jahre des frühen Nationalsozialismus in Relation zu stellen zu den aktuellen politischen Entwicklungen. Man spricht immer so unschuldig von Hitlers »Machtergreifung«, als ob die NSDAP damals nicht gewählt worden wäre, und ich hatte die Hoffnung, dass mein Buch noch vor der nächsten Bundestagswahl auf den Markt kommen und vielleicht noch etwas bewegen könnte.
Dann zerschellte die Ampelkoalition, stellte Scholz die Vertrauensfrage, und jetzt wird schon im Februar gewählt, und ich habe davor so viel Angst wie nur irgendwas. Ich habe Angst, dass die AfD noch stärker abschneidet, und Angst, dass die CDU, um ihr Stimmen abzujagen, weite Teile des AfD-Programms und Jargons übernimmt. Ich fürchte einen Kanzler Merz, ich fürchte eine Eskalation an allen Fronten, ich fürchte wirklich alles, was mit dieser Wahl zusammenhängt – und genau in diese Angst hinein muss ich ein Buch schreiben für eine Generation, die erst bei der übernächsten Bundestagswahl wahlberechtigt sein wird und für die ich fürchte, dass sie dann vielleicht gar keine Wahl mehr haben. Weil meine Generation es verbockt hat, weil wir nichts aus der Vergangenheit lernen, sondern sie um jeden Preis wiederholen müssen …
Aber ich will dieses Buch schreiben. Ich muss dieses Buch schreiben. Es war noch nie so wichitg, eine Stimme zu haben und sie hörbar zu machen. Ich bin nicht so ohnmächtig, wie ich immer denke. Ich bin nicht irgendwer. Ich bin Kinderbuchautor. Ich schreibe Bücher, die Menschen aller Altersgruppen im Gehirn kitzeln sollen. Und vielleicht, vielleicht, vielleicht komme ich mit diesem Buch ja doch noch rechtzeitig. Letzten Winter sind in Aachen über hunderttausend Menschen gegen Rechts auf die Straße gegangen. Mit der Szene wird mein Buch enden. Auf einer hoffnungsvollen Ebene. Auch wenn mir selbst das Hoffen zugegeben schwer fällt.
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