Wenn es eine Sache gibt, die ich wirklich immer gerne tue, ist das Vorlesen. Ich habe meinen Geschwistern vorgelesen, als sie noch kleiner waren und sich über Gute-Nacht-Geschichten freuten, und als sie und ich älter wurden, habe ich andere Ausreden gefunden, ihnen vorzulesen – vorzugsweise die Bücher, die ich selbst gerade mit Begeisterung gelesen hatte. Ich erinnere mich noch zu gut, wie ich meiner Schwester »Das letzte Einhorn« in Gänze vorgelesen habe, und weiß bis heute nicht, ob sie mich nur zu lieb hatte, um Nein zu sagen, oder ob sie da genauso viel Spaß dran hatte wie ich selbst.
Aber das reichte mir nicht. Ich wollte immer theaterspielen, aber die Theater-AG meiner Schule war so elitär, dass man ohne persönliche Empfehlung noch nicht mal zum Vorsprechen durfte, und so blieb mir das Vorlesen als nächstbeste Sache. Als ich so sechzehn, siebzehn Jahre alt war, nahm ich meinen Mut zusammen und marschierte ins Altersheim meiner münsterländischen Heimatstadt, wo ich erklärte, dass ich gern den alten Leuten vorlesen würde. Egal was sie hören wollten, ob Rosamunde Pilcher oder Agatha Christie, selbst Konsalik hätte ich angefasst, solange man mich nur vorlesen ließ. Die Frau an der Rezeption notierte sich meine Telefonnummer, ich ging nach Hause – und hörte nie wieder etwas davon. Bis heute finde ich das schade, und ich weiß nicht, warum die sich nie wieder gemeldet haben.
Ich studierte Bibliothekswesen und nutzte während meiner Praktika in verschiedenen Stadtbüchereien die Gelegenheit, mir die Vorlesestunde unter den Nagel zu reißen – aber das wurde kein Dauerzustand, denn die Kolleginnen, die das normalerweise machten, hingen an dieser Tätigkeit und ließen sie mich nur einmal vertretungsweise ausüben. So las ich dann weiterhin im privaten Umfeld vor. Meiner besten Freundin las ich Krimis vor, und sie, die auch gern vorliest, las mir im Gegenzug den »Herrn der Ringe« vor – wobei sie mir bis heute übelnimmt, dass ich bei Galadriels Spiegel eingeschlafen bin. Wir kamen bis zur Mitte von »Die zwei Türme», und dann ist das irgendwie eingeschlafen, so dass ich bis heute, dreißig Jahre später, Tolkiens Epos nicht weiter als bis zu der Stelle kenne, an der eine weißgekleidete Gestalt ans Lagerfeuer der Rest-Gefährten tritt.
Aber was ich zu dem Zeitpunkt am allerliebsten vorlesen wollte, waren meine eigenen Geschichten. Und ich fand ein williges Opfer in meinem Freund, dem ich die ersten zwei Bände meines damaligen Opus Magnum, der »Spinnwebstadt«, vorlas, bis die erste Phase der klaglosen Verliebtheit abgeklungen war und er zugab, dass er gar nicht so gern vorgelesen bekommt. Ich habe ihn trotzdem geheiratet, aber schade war das trotzdem. Ich lese wirklich extrem gerne vor! So blieben mir immerhin die damals noch regelmäßiger stattfindenden Autorentreffen, die unter dem Motto »Eat and read« standen und auf denen der Reihe nach alle Anwesenden eine Kostprobe vorlesen durften.
Später, als ich bereit war, für Tintenzirkeltreffen quer durch die Republik zu fahren und froh war, andere vorlesebegeisterte Autor:innen zu treffen, haben wir das System verfeinert: Wir haben nicht mehr aus unseren eigenen Texten vorgelesen, sondern die jemand anderem in die Hand gedrückt, und den eigenen Text aus fremdem Mund zu hören, war eine echt interessante Möglichkeit, zu sehen, wie gut sich die eigenen Sätze von anderen erschließen ließen und mal von außen zu sehen, wie ein Text auf andere wirkt. Ich halte das immer noch für eine tolle Sachen.
Aber Tintenzirkeltreffen hatten wir nur ein, zweimal im Jahr, und ich hätte wirklich gern öfter vorgelesen. Am liebsten hätte ich mal eine richtige Autorenlesung abgehalten – aber ich ahnte, als unveröffentlichte Autorin hatte ich dafür keine Chance. Andere aus dem Tintenzirkel, d immerhin, hatten die – Buchverträgen sei dank, lasen sie in Cafés oder sogar auf der Leipziger Buchmesse, und ich lauschte gespannt, aber mit irgendwie blutendem Herzen, weil ich das selbst nicht konnte. Ich war unveröffentlicht, ich blieb das auch ziemlich lange, während um mich herum eine nach der anderen Bücher herausbrachte – und als ich dann selbst mein Debüt auf dem Markt hatte, ging das Trauerspiel nur in die nächste Runde.
»Das Puppenzimmer« erschien nur als Ebook. Und mit einem reinen Ebook an Lesungen zu kommen, stellte sich als ein Ding der Unmöglichkeit heraus. Einmal durfte ich am Stand des dotbooks-Verlags lesen, auf der Frankfurter Buchmesse, und war im siebten Himmel – aber ansonsten? Fehlanzeige. Ich kontaktierte Büchereien, Buchhandlungen, Veranstalter – immer wieder kam das gleiche Argument: »Kommen Sie wieder, wenn Sie was Richtiges haben!« Ich hatte was Richtiges, einen richtig guten Roman – ich hatte nur nichts zum Herzeigen, nichts zum Auf-den-Verkauftisch-legen, und, was das Schlimmste war, nichts zum Signieren. Der Verlag hatte mir sogar Werbepostkarten zum Buch gedruckt, die hätte ich zum Signieren benutzen können, aber ich hatte wirklich nur sehr selten die Gelegenheit dazu.
Als ich eine Anzeige vom »Aachener Offenen Mikrophon« sah, einer Gelegenheit, wo interessierte Autor:innen, ob veröffentlicht oder nicht, aus ihren Werken lesen konnten, stürzte ich mich drauf und hatte einen schönen Abend, sogar mit richtig viel Publikum, auch wenn ich die zum Teil sehr esotherischen Texte der anderen arg durchwachsen fand – die sahen sich eher als wesentliche Literataren, und ich saß da mit meinem phantastischen Mysteryroman ein bisshcen fehl am Platz, aber das hat dem Spaß beim Lesen wenig Abbruch getan. Leider hat das danach irgendwie nie wieder stattgefunden, oder wenn doch, nicht, dass ich das nochmal mitbekommen hätte. So blieb das im Raum Aachen meine bis heute einzige Lesung.
Es wurde besser, als ich die erste gedruckte Veröffentlichung vorweisen konnte, und richtig gut, als dann »Das gefälschte Siegel« als Hardcover erschien und ich richtig was zum Signieren hatte. Ich fuhr zu Lesungen nach Berlin oder nach Celle, ließ mich hochherschaftlich im Hotel unterbringen und las vor Leuten, die an den richtigen Stellen lachten und mir das Gefühl gaben, dass nicht nur ich einen schönen Abend hatte – schließlich waren sie freiwillig auf meine Lesungen gekommen, und das rechnete ich ihnen hoch an!
Aber natürlich kam, als dann »Das gefälschte Herz« erschien, zeitgleich Covid, und damit hatte es sich mit Lesungen. Die Leipziger Buchmesse, wo ich 2019 noch bei der Großen Lesenacht aus dem »Siegel« hatte lesen dürfen und das für das »Herz« auch geplant war: Abgesagt. Das Festival Mediaval, wo ich im Herbst lesen sollte, fiel ebenfalls ins Wasser. Autorenlesungen und Social Distancing, das passt nicht zusammen. Die Gesundheit ging vor, das sah ich ja auch alles ein, ich wollte kein Superspreaderevent verwantworten – so dauerte es bis 2022, bis ich endlich wieder lesen durfte.
Sogar das zweimal ausgefallene Festival Mediaval lud mich, inzwischen mit dem »Gefälschten Land« ein – und ich freute mich so lange, den offensichtlichen Top-Lese-Slot am Samstagabend ergattert zu haben, bis ich verstand, dass zu dem Zeitpunkt natürlich der Top-Music-Act spielte, was bedeutete, dass kaum jemand für meine Lesung übrig blieb, weil alles vor der großen Bühne stand und Corvus Corax hörte. Und die waren laut! Das Lesezelt war am anderen Ende des Festivalgeländes, aber das schütze meine Lesung nicht vor wummernden Beats. Ich las, so laut ich konnte, kam offenbar bei meinem kleinen Publikum gut an, und war hinterher so heiser wie nur war. Ich gebe zu, ich hätte doch lieber nachmittags gelesen, wo das Literaturzelt richtig voll war. Aber ich hatte trotzdem meinen Spaß, und die Zuhörerer:innen ebenfalls. Und meine Zeit für volle Säle sollte noch kommen.
Sagte ich Säle? Ich meine Aulen. Aulen mit hundertzwanzig Elfjährigen. Als Anfang 2023 »Unten« erschien, schloss sich der Kreis zu den Stadtbücherei-Bilderbuchkinos und Vorlesenachmittagen. Und ich merkte wieder, wie viel Spaß ich daran habe, vor Kindern zu lesen. Kinder sind ein großartiges Publikum, wenn man bereit ist, mitzuspielen und sich nicht einschüchtern zu lassen. Meine erste Schullesung war in einem Gymnasium in Kassel, und ich zehre heute noch davon: Da ist ein Deutschlehrer an mich herangetreten, der das Buch mit seinem sechsten Schuljahr im Unterricht durchgenommen hatte, und der mich eingeladen hat, mit den Kindern über das Buch zu diskutieren, Fragen zu beantworten, und vor der ganzen Jahrgangsstufe vorzulesen.
Ich war erst ein wenig bang, zugegeben. Ich musste wieder dran denken, wie sehr ich mit elf Jahren gemobbt worden bin – und dass diese Kinder in genau dem Alter waren, wo sie so richtig grausam sein konnten. Was, wenn sie mich auslachen würden? Wenn sie meine Lesung über rumhampeln würden, Faxen machen, laut sein, alles tun außer zuhören? Aber meine Sorge war unbegründet. Mein Publikum war großartig, die Kinder waren aufmerksam, hörten zu, und hatten sogar die Aula passend zu meinem Buch dekoriert, und ich fuhr platt, aber glücklich nach Hause – das war einer der tollsten Tage überhaupt.
Seitdem weiß ich, wie gern ich vor Kindern lese. Sie haben vielleicht nicht die längsten Aufmerksamkeitsspannen, aber ehrlich – viel länger als eine Dreiviertelstunde lang halten auch die wenigsten Erwachsnen durch. Es ist immer ein bisschen unruhig, wenn die reinkommen, sich ihre Plätze suchen, und ich bin froh um die Lehrer:innen, die dabei sind und ein bisschen Autorität ausstrahlen – aber wenn ich dann zu lesen anfange, dann hören sie mir zu. Und wenn ich fertig gelesen habe und sie mir fragen stellen dürfen – dann dauert das immer ein bisschen, bis sich jemand traut, aber dann kommen die Fragen auch, und das so richtig.
Nicht, dass ich nicht auch gerne für Erwachsene lese – aber wenn ich dann ins Publikum schaue und einlade, mir Fragen zu stellen, schauen die tendenziell auf ihre Füße und fragen nichts. Kinder hingegen fragen alles. Wenn ich aus »Unten« lese, ist immer jemand dabei, der wissen will, was im Fall einer Katastrophe mit den Bewohnern des Hauses passiert – Feuer, Erdbeben, etc, was ist mit den Menschen, wenn sie das Haus nicht verlassen können und es doch eigentlich müssten? Die Kinder fragen mich nach all den Dingen, die im Buch selbst nicht beantwortet werden, und es ist gut, dass ich meine Geschichte gut kenne und schnell reagieren kann, und so habe ich noch jede Frage zur allgemeinen Zufriedenheit beantworten können. Warum dies, warum jenes, und was ist draußen, und kommen die da jemals hin, und dann ist dem Jungen in der hintersten Reihe die nächste Katastrophe eingefallen, nach der er noch nicht gefragt hatte – und ich kann gar nicht sagen, wie viel Spaß mir das macht!
Zur Zeit habe ich vielleicht drei, vier solche Lesungen im Jahr. Ich würde ein paar mehr schaffen, denke ich, aber ich brauche vor einer Lesung meine Vorbereitungszeit, ich bin hinterher platt, und man darf nicht vergessen, dass da auch üblicherweise noch eine Menge Fahrzeit dazu kommt, wenn ich in Bayern oder Norddeutschland lese oder in Orten, die einfach schlecht mit der Bahn zu erreichen sind, sodass ich fünfmal umsteigen muss. Aber das tue ich gern. Das Lesen ist es mir wert. Aber noch mehr wert, das muss ich inzwischen sagen, sind die Leute im Publikum. Ich will, wenn ich vorlese, meinen Spaß haben. Doch noch wichtiger ist mir, den Leute vor mir etwas Schönes zu bieten. Ob das nun hundertundzwanzig Sechstklässler sind oder, wie gestern, ein Halbdutzend interessierter Erwachsener, die trotz des Schneetreibens gekommen waren, um mich zu hören: Hauptsache, alle haben eine schöne Zeit.
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