Es ist lange her, dass ich ein Waldkind war. Damals, als ich im Ruhrgebiet gelebt habe, war ich wirklich viel draußen. Wir hatten über eine längere Zeit keinen Garten – unser Vermieter hatte das Grundstück, wo unser erster Garten war, als Bauland verkauft – aber das hat mir nicht so viel ausgemacht: Auf unserer Straße gab es etwas viel besseres. Sie endete in einer Sackgasse, danach kam ein Brennesseldickicht, dann ein Stück Brachland, wo ein alter Tiefbunker war, in dem wir Mutproben abhielten, und hinter dem Brachland kam ein riesiger Wald, der Kärling. Wenn man »kindheit im Ruhrgebiet« hört, denkt man wahrscheinlich erst einmal an dreckige Häuserschluchten, aber ich hatte wirklich viel wildes Grün, um dort zu spielen, und das habe ich, allein oder mit meinen Freunden oder Geschwistern, wirklich gern getan. Später bekamen wir dann noch einen neuen Garten, aber der war keine Konkurrenz zu dieser wunderbaren Wildnis.
Wir sind da weggezogen, als ich acht Jahre alt war, und ich trauere meiner Straße, meinen Freunden und meinem Kärling immer noch nach. Stattdessen landete ich im Münsterland, wo wir einen wirklich großen Garten hatten, aber keinen Wald mehr, wo die Kinder zu sauber und ordentlich waren, um eine Wildnis zum Spielen auch nur zu vermissen, und wo ich mich schwer tat, Fußzufassen. Manchmal fuhren wir mit unseren Fahrrädern raus in die Felder, wo ein Bach floss, und spielten dort, aber ich fing an, mehr und mehr Zeit drinnen zu verbringen – und mehr Zeit damit, allein in meinem Zimmer zu lesen. Allein war das, was ich mich oft fühlte, und im Haus war ich sicher.
Natürlich habe ich auch in unserem Garten gespielt, ich habe aus Holzresten eine Hütte gebaut, die ich dann mit hilfe meiner Eltern zu einem richtigen kleinen Häuschen ausgebaut habe, aber sie hat nur ein, zwei Sommer lang gehalten, und später haben meine Eltern den Sandkasten mit einem richtigen Spielhaus gekrönt. Es war ein schöner Garten mit viel Platz für uns Kinder, aber für mich hat es trotzdem nicht mit Wald und Wildnis konkurrieren können, und die Kinder in unserer Nachbarschaft waren nicht mehr in meinem Alter, sondern in dem meiner jüngeren Geschwister. Vielleicht hätte ich mir mehr Mühe geben sollen, mich anzupassen, aber ich habe in unserem kleinen münsterländischen Dorf nie Fuß fassen können, habe mich auch zehn Jahre später noch fremd gefühlt.
Ich zog in die Großstadt, um zu studieren, und ab da hatte es sich mit dem Rausgehen. Meine studentenbude hatte keinen Garten, und ich vermisste auch keinen – immerhin, mit meinen Freundinnen unternahm ich lange Spaziergänge durch die kölner Innenstadt, über den Melaltenfriedhof oder manchmal auch durch einen Park, und überhaupt musste ich ja jeden Tag aus dem Haus, um zur FH zu kommen, und das fiel mir auch nicht schwer. Mit einer Ausnahme: Ich hatte ein echtes Problem mit meiner Nachbarin und meiner Vermieterin, die im gleichen Haus lebte. Da gab es oft Zwist, wer damit dran war, das Treppehaus zu putzen, und ich ging dazu über, mich in der Wohnung zu vergraben, wenn ich hörte, dass jemand bereits im Haus unterwegs war, selbst wenn das bedeutete, mal einen Bus zu verpassen und ein bisschen zu spät zu kommen. Meine Nachbarin war nicht mal garstig oder so – ich wollte ihr nur nicht über den Weg laufen.
Später, als ich nicht mehr in dem Haus wohnte, sondern in einer WG, wurde das nicht besser. Mein Studium war vorbei, ich machte eine Buchhandelsausbildung, und damit fielen auch die Freistunden weg und die ausgedehnten Stadtspaziergänge, auch wenn ich mit meinen Mitbewohnerinnen noch mehrmals auf Melaten war. Aber alles in allem verließ ich das Haus in erster Linie, um zur Arbeit zu kommen, und wenn die vorbei war, kam ich auf dem schnellsten Weg wieder nach Hause. Ich betrachtete das als einen normalen Prozess, den ich dem Erwachsenenwerden zuschrieb, aber tatsächlich war es nur teil einer langsamen Degeneration. Ich verwuchs mit meinem Haus, mit jedem Jahr ein bisschen mehr, so, dass es erst einmal kaum auffiel. Aber wenn ich jetzt die Zeit vorspule – aus der WG bin ich immerhin auch schon 2003 wieder ausgezogen – ist das Ergebnis schmerzhaft offensichtlich. Ich kann das Haus nicht mehr verlassen.
Vorbei ist die Zeit, als ich noch jeden Tag zur Arbeit gefahren bin und einen Grund hatte, jeden Morgen das Haus zu verlassen. Seit Ende 2011 bin ich keiner geregelten Arbeit mehr nachgegangen – ich war erst arbeitslos, dann habe ich mich als Schriftstellerin selbständig gemacht, und es war einfach nicht mehr nötig, aus dem Haus zu gehen. Und ich tat es nicht mehr. Natürlich, wenn ich einkaufen ging, wenn ein Arztbesuch anstand, wenn ich meinen wöchentlichen Gesangunterricht hatte, war da ein Grund, und ich ging vor die Tür, ohne mit der Wimper zu zucken – bis auch das langsam nachließ. Das Einkaufen übernahm mein Mann, wenn der für die Arbeit unterwegs war und auf den Heimweg beim Supermarkt vorbeikam. Arzttermine waren so oft auch wieder nicht. Und den Gedangsunterricht konnte ich auch problemlos absagen, das war mein eigener Verlust …
Und so kam der Tag, an dem ich verstand, dass ich das Haus nicht mehr verlassen konnte. Ich kam bis zur Türschwelle und nicht weiter, und mein Herz begann zu rasen, und mir brach der kalte schweiß aus, und ich geriet in sinnlose Panik. Sinnlos deswegen, weil ich gleichzeitig genau wusste, dass ich da draußen nichts wirklich fürchten muss. Mir wird der Himmel nicht auf den Kopf fallen. Niemand da draußen lauert auf mich, um mir wehzutun oder mich auch nur auszulachen. Da ist nichts, nichts, nichts, vor dem ich Angst haben müsste – aber das sag einmal meiner Angst!
Ich habe seit über einem Jahr das Haus nur noch verlassen, wenn es sich nicht mehr vermeiden ließ. Wenn mein Mann dabei ist, geht es einfacher, in seiner Nähe fühle ich mich sicher, und so kann ich dann auch unsere wöchentliche Rollenspielrunde wahrnehmen oder auf Besuch fahren oder ab und zu auswärts essen gehen – aber wenn ich allein bin, schaffe ich es noch nicht einmal bis zu den Mülltonnen oder dem Briefkasten. Ich weiß, dass ich dringend mehr Bewegung brauche, ich würde gern wieder mit dem Sport anfangen, aber ich komme einfach nicht aus dem Haus. Da helfen auch keine liebgemeinten Tipps, einfach mal ein bisschen spazierenzugehen, wenn schon nicht gleich mit dem Laufen anzufangen – das Hindernis, das ich nicht überwinden kann, ist meine Haustür.
Ich habe versucht, mit meiner Nervenärztin darüber zu reden, aber alles, was sie dazu sagte, war »Sie müssen das Haus öfter verlassen«, was ich ja weiß, aber nicht kann, und »Ich verschreibe ihnen aber jetzt nichts dagegen.« Wahrscheinlich bräuchte ich eine Therapie, aber ich schtecke davor zurück, mich um eine zu bemühen: zum einen sind die Wartelisten endlos, das Ergattern eines Platzes mit großem Aufwand verbunden, den ich gerade nicht stemmen kann – und: Um zur Therapie zu kommen, muss ich ja wieder das Haus verlassen, und wenn ich das wieder kann, brauche ich ja auch die Therapie nicht mehr und muss niemandem einen Platz wegnehmen …
Und so beißt sich die Katze in den Schwanz. My Home is my castle – innen fühle ich mich sicher, habe meine Bücher, meinen Rechner, meinen Schutzraum. Aber alles, was außerhalb dieser Mauern liegt, ist feindliches Land. Ich bin gefangen, mehr in meinem Kopf als in meinem Haus, und ich weiß nicht, wie ich da wieder rauskommen soll. Große Pläne habe ich und keine Ahnung, wie ich sie umsetzen soll. Aber ein Gutes hat es: Ich bin da angekommen, wo es eigentlich nicht mehr schlimmer werden kann. Und damit bleibt mir nur wieder der Weg nach oben. Und über diese Aussicht freue ich mich wirklich.
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