Der Romanfriedhof: »Die Kinder des Hauses Otrempa«

Nicht alles, was ich auf meinen Romanfriedhof hinaustrage, ist auch wirklich schon mausetot, mumifiziert, kaputt. Manches ist dabei, da denke ich, eigentlich zuckt das ja noch – und dann geht mir auf, dass ich seit zehn Jahren nicht mehr daran geschrieben habe und auch schon genauso lange keinen Plan mehr, wie es weitergehen sollte, und dann ist es doch an der Zeit, mich in Trauerkleidung zu werfen und das Projekt zu Grabe zu tragen. Es muss ja nicht für immer sein. Das Schöne an einem Romanfriedhof ist ja, dass die dort liegenden Werke die Möglichkeit haben, ins Leben zurückzukehren, mit verändertem Vorzeichen oder völlig ausgeschlachtet.

Bei dem Buch, auf dessen Grabstein ich heute mein Rampenlicht richten möchte, habe ich ein bisschen die Hoffnung, dass es irgendwann noch einmal aufwachen könnte. Aber anders als bei den »Chroniken der Elomaran«, wo ich nach zwölfjähriger Pause einfach weiterschreiben konnte, als wäre ich nie weggewesen, werde ich hier, wenn, bei Null anfangen müssen. Denn das, was ich da 2013 zu Papier gebracht habe, ist nichts, was ich jemals irgendwie im Druck sehen möchte, so problematisch ist der vorliegende Text in weiten Teilen.

Angefangen hat alles im November 2010 mit einem Traum. Manchmal habe ich da – einen Traum, so intensiv, so plotreich, so ausgefeilt, dass ich das Gefühl habe, einen Roman zu träumen oder im Traum selbst eine Figur in einem Roman zu sein. Ich träumte von großer Magie, von den vier Sphären Wolken, Schatten, Spiegel und Zeit, ich träumte von den vier Kindern in dem riesigen leeren Palast, und von dem Weltkanzler, der sie dort gefangenhält, und als ich wach wurde, war mir klar, das will ich schreiben. »Wolken Schatten Spiegel Zeit« wurde mein Arbeitstitel, und ich wusste, das ist ein Projekt für später – denn zu der Zeit steckte ich gerade mitten im Nanowrimo, schrieb an »Geigenzauber«, und das neue Buch, kurz WSSZ genannt, wurde für später geparkt. Aber echt, ich liebte die Idee, und ich freute mich schon drauf, aus diesem Traum etwas zu machen.

2011 und 2012 kamen und gingen, und ich machte mir Gedanken über die Geschichte, aber ich schrieb sie nicht. Ich träumte auch nie wieder davon. Aber ich fand einen Namen für meine Hauptfigur und dann für seine Geschwister, ich fand erst einen Familiennamen für sie und dann einen neuen Arbeitstitel für das Projekt, und so nannte ich das Ganze dann »Die Kinder des Hauses Otrempa«. Und ich freue mich immer noch unheimlich darauf, aber ich wusste, es war noch nicht so weit. Die Nanowrimo dieser Jahre wurden meine ersten doppelten Erfolge, aber obwohl ich WSSZ in der engeren Projektwahl hatte, schrieb ich andere Sachen, hatte Spaß damit, und bereute nichts.

Aber ich hatte so oft von meinen Otrempas erzählt, dass ich , als ich ein Projekt für den Nanowrimo 2013 suchte, ganz viel Zuspruch bekam, mich endlich dem meinen vier Magiern zu widmen. Drei Jahre lang ging ich jetzt schon mit der Idee schwanger, und ich fühlte mich ihr gewachsen. Ich hatte Ideen. Ich hatte Plot. Viel Plot, sogar. Ich stellte einen Soundtrack zusammen, den ich als Mixtape verwichtelte, und dazu erstellte ich einen Handzettel, für den ich meinen gesamten Plot aufschrieb und den Liedern zuordnete, mit Lyricszitaten passend zur Szene. Ich hatte noch nie einen Soundtrack so eng am Roman geplant, sonst geht das bei mir nach dem Motto »Was möchte ich gerade hören?«, und diesesmal schaute ich, was wirklich zu welcher Figur, zu welcher geplanten situation passen würde.

Wirklich, ich ging akribisch vorbereitet an diesen Nanowrimo heran. Ich hatte für mein Buch sogar schon einen Schluss geplottet, etwas, das ich normalerweise nicht tue – ich mag es eigentlich nicht, beim Schreiben so viel über ein Buch zu wissen, ich möchte mich flexibel darauf einrichten können, wie sich das Buch entwickelt, aber hier fühlte ich mich so sicher, dass ich tatsächlich ein komplettes Exposé erstellte und mich gut damit fühlte. Es gab noch ein paar offene Fragen, mit Absicht – ich wusste, ich kann kein Buch schreiben, über das ich schon alles weiß, aber ich wollte ein Buch darüber schreiben, wie Wahn und Wirklichkeit verschwimmen, wie Macht korrumpiert, und wie unerwartete Freiheit das Leben von vier jungen Menschen, die nur Gefangenschaft kannten, auf den Kopf stellen sollte.

Dabei folgte ich immer noch sehr eng meinem Traum von 2010. Ich hatte vier Jugendliche – Kjerom, den Wassermagier, Yiouwhee, die Windmagierin, den Feuermagier Inxiru, und Tan, die Steinmagierin, zusammen bekannt als die Kinder des Hauses Otrempa. Niemand auf der Welt, das ist in einem entscheidenden friedensvertrag festgealten, darf über mehr Magie verfügen als die Kinder des Hauses Otrempa – aber die, im Gegenzug, behalten ihre Macht für sich und leben abgeschieden und allein in der Verbotenen Stadt, wo sie keinen Schaden anrichten können, ihre Freiheit dem weltfrieden geopfert.

Automatoi und Hologramme kümmern sich um ihre Erziehung und ihr leibliches Wohlergehen, sie haben genug Platz, um sich aus dem Weg zu gehen – und natürlich kann es nicht so bleiben. Kjerom findet Hinweise darauf, dass die echten Otrempas lange tot sind, und dass ihre Sphären nicht Wasser, Wind, Feuer und Stein waren, sondern, wer hätte das gedacht, Wolken, Schatten, Spiegel und Zeit. Es stellt sich heraus, dass die vermeintlichen Geschwister gar keine sind, sondern vier Kinder mit magischer Grundbegabung, die aus ihren Familien genommen worden sind, das Gedächtnis gelöscht bekommem haben, und dann so sehr mit Magie vollgepumpt worden sind, dass sie nur gerade so eben noch überlebensfähig damit sind.

Denn je mehr Magie die Kinder des Hauses Otrempa haben, als Obergrenze, desto mehr kann auch jeder andere Magier auf der Welt haben. Und Hugard, der Weltkanzler, der die Kinder immer wieder zumindest als Spiegelbild besucht und berät, hat selbstverständlich eine Menge Dreck am Stecken. Und bis hier klingt das doch wie ein tolles Buch, für das es auch im Jahr 2024 noch einen echt großen Markt geben könnte. Wir haben die Verbotene Stadt als surreales, weitläufiges Haus mit Eigenleben, so wie ich es gerade in Susanna Clarkes »Piranesi« und Kai Meyers »Fürimmerhaus« geliebt habe, wir haben vier ungleiche Geschwister, mächtige Magie, Dark-Academia-Vibes, und allein damit könnte ich doch jetzt versuchen, das Buch zu verkaufen, es passt besser auf den heutigen Markt als den von 2013, wo also liegt das Problem –

Kein Problem, ehrlich. Nur, dass ich alles, was ich damals geschrieben und geplottet habe, in die Tonne treten müsste, und es mir in zehn Jahren nicht gelungen ist, mich von dem alten Plot zu lösen. Denn da habe ich eine Liebesgeschichte, wie ich sie heute nicht mehr anfassen würde. Zwischen Kjerom und Yiouwhee funkt es nämlich. Sie sind keine echten Geschwister, es ist also kein Inzest – aber das wissen sie zu dem Zeitpunkt noch nicht. Um das ganze noch schlimmer zu machen, hat Kjerom regelmäßig wiederkehrendes wahnhaftes Fieber, das mit anschließendem Gedächtnisverlust einhergeht – und Yiouwhee weiß das, und schläft mit ihm an den Tagen, von denen sie weiß, dass er sich im Fieber enthemmt ist und sich hinterher nicht mehr daran erinnern kann. Und das ist, ich habe heute kein anderes Wort dafür, Missbrauch.

Natürlich, sie muss keine Gewalt anwenden, Kjerom will es auch, wenn das Fieber über ihn kommt – aber er ist dann nicht mehr er selbst, und sie weiß das, und nutzt das aus. Und das – es tut mir nicht einmal leid – ist keine Geschichte, die ich erzählen will. Das ist nicht die Art Beziehung, die ich als heiß oder erotisch verkaufen möchte. Ich hatte zwar vor, ein Buch darüber zu schreiben, dass die Kinder auf ihre Weise durch Hugard und Co. missbraucht werden – aber nicht darüber, dass sie sich gegenseitig sexuell missbrauchen. Auch wenn das vielleicht eine logische Folge ist, wenn man vier pubertierende Jugendliche ohne kontakte zu anderen gleichaltrigen und vor allem ohne Erwachsene, in ein Haus sperrt.

Aber so, wie ich diese Szenen geschrieben habe, war das in keiner Weise problamatisch dargestellt. Es lief unter »Zwischen Kjerom und Yiouwhee entwickelt sich eine Liebesbeziehung«, und das Problem liegt darin, dass Yiouwhee sich zwischen ihrer Freiheitsliebe und der zu Kjerom entscheiden muss, als die Verbotene Stadt sie ausspeit und sie plötzlich mit mehr Magie, als ein einzelner Mensch haben darf, auf die Welt losgelassen werden. Dazu gab es noch einen Murder Mystery-Plot (mit verschlossenem Raum), und das Geheimnis der echten Otrempas, und ganz viel Wahnvisionen – die Liebesgeschichte war nur ein Plotpunkt unter vielen. Aber sie ist der Grund, warum ich es heute nicht einmal mehr schaffe, das Material von damals zu sichten.

Entsetzlich viel Material ist es nicht. Ich habe knapp den halben Nanowrimo lang fleißig geschrieben an den »Kindern des Hauses Otrempa« und meinem anderen Projekt in dem Jahr, »Museion« – dann bekam ich, beinahe ironisch in Anbetracht des Otrempa-Plots, eine dicke Grippe, verlor den Anschluss, und schrieb nicht weiter. Und dafür, dass ich den Plot bis zum Ende festgehalten hatte, war ich nicht weit mit ihm gekommen. Nach dem verlorenen Nano versuchte ich nochmal, in die Geschichte reinzukommen, aber die Niederlage wog schwer auf meinem Gemüt, und ich hatte keinen Spaß mehr an diesem Buch, das mich nur noch an das erinnerte, was trotz akribischer Vorbereitung nicht geklappt hatt.

Manchmal fragte meine Agentin noch nach diesem Projekt, dessen Prämisse sie sehr interessant und wohl auch gut verkäuflich fand, aber ich hatte nicht vor, daran so schnell weiterzuarbeiten, und wir dass wir es nirgendwo angeboten haben, macht mich heute froh. Dieses Buch, in der vorliegenden Form, möchte ich wirklich nicht mit mir in Verbindung gebracht wissen. Sex funktioniert nicht ohne Consent, und Kjerom im Fieberwahn ist nicht mehr in der Lage, einvernehmlich zuzustimmen. Dass ich im Nano gescheitert bin, dass ich an dem Buch nie weitergeschrieben habe – hier bin ich froh darüber.

Und doch, ich mag die Prämisse immer noch. Und vielleicht, irgendwann in absehbarer Zeit, werde ich es schaffen, mich von den Schatten der ersten Version zu lösen und etwas neues draus zu machen; etwas, mit dem ich nicht mehr versuchen werde, sexuellen Missbrauch als die große Liebe zu verkaufen. Vielleicht erstelle ich ein neues Exposé. Vielleicht bekomme ich diese Wendungen wieder aus meinem Kopf raus. Und vielleicht kommt noch einmal ein Traum, der mir helfen wird, das alles ins rechte Licht zu rücken – mit Wolken, Schatten, Spiegeln und Zeit. Oder etwas ganz, ganz anderem.

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