Alles, aber auch wirklich alles, ist aus dem Ruder gelaufen, seit ich vor bald vierundzwanzig Jahren mit der Arbeit an den »Chroniken der Elomaran« angefangen habe – auch die Perspektivträger. Und jetzt, wo die beiden ehemals getrennten Handlungsstränge zusammengelaufen sind, muss ich das irgendwie ausbaden. Ich habe schlichtweg zu viele Perspektiven.
Ich mag Bücher, die stringent vom Anfang bis zum Ende aus einer einzigen Perspektive erzählt werden. Da wissen die Leser:innen niemals mehr als der Perspektivträger, wichtige Dinge passieren auch mal off-camera, so wie man im wirklichen Leben ja auch nur weiß, was man selbst weiß, und nicht anderen in die Köpfe schauen kann. Nachdem ich meine »Flöte aus Eis« aus vier Perspektiven erzählt hatte, wollte ich mich an das Risiko wagen, einmal wirklich bei einem Perspektivträger zu bleiben, mit allen Chancen und Einschränkungen, die damit einhergehen. Und das habe ich durchgezogen.
Auf insgesamt über achthundert Seiten wird die »Spinnwebstadt« komplett aus Sicht des jugendlichen Einbrechers und notorischem Schulschwänzer Mowsal erzählt. Und weil sich Mowsal gerade zu Anfang der Geschichte für vieles einfach nicht interessiert – seine typischste Geste ist das Schulternzucken – gibt es dann auch entsprechend viel, das die Leser:innen erst nach und nach erfahren. Mowsal ist ein durchaus starker Perspektivträger, macht eine interessante Wandlung vom egoistischen Arschloch zum einfühlsamen Weltenretter durch, und seine Perspektive wandelt sich entsprechend mit ihm.
Aber solche Ein-Perspektiv-Bücher sind nicht der Weisheit letzter Schluss. Sie steigen und fallen mit der Frage, ob die Leser:innen den Perspektivträger leiden können oder nicht. Bei mehreren Perspektiven kann man damit leben, einen davon nicht zu mögen – um so mehr freut man sich dann, wenn die Lieblingsperspektive wieder drankommt. Aber wenn man bei einer Perspektive bleiben muss, die man nicht mag, landet das Buch dann auch schon mal in der Ecke. Multiple Perspektiven helfen auch, verschiedene Stimmungen zu erzeugen. Je nach Typ des jeweiligen Perspektivträgers kann man eine empathische oder zynische Weltsicht erzeugen und damit dem Buch viele verschiedene Farben geben.
Deswegen variiere ich heute Bücher, die nur aus einer einzelnen Perspektive erzählt sind, mit solchen, die mehrere Perspektivträger haben. Es gibt da nicht die Patentlösung, sondern hängt von der Geschichte ab, die ich erzählen will. Springt sie zwischen verschiedenen Handlungsorten, sind mehrere Perspektiven Pflicht, aber auch in einer gemeinsam reisenden Heldengruppe kann man interessant mit verschiedenen Perspektiven arbeiten. So habe ich in der »Traumstadt« nur die Perspektive des nicht immer sympathischen Sandros, während die »Neunte Träne« kapitelweise zwischen Kamu, Kell, Arnnis und, gelegentlich, Andreu hin und her springt.
Der Grund, warum ich Andreu nur selten ans Ruder lasse, ist, dass er zu mächtig ist – ein Perspektivträger, der alles weiß und alles kann, funktioniert längst nicht so gut wie einer, der selbst erst verstehen muss, die Dinge zu verstehen. Deswegen werden ja auch die Sherlock Holmes-Geschichten aus Sicht von Doktor Watson erzählt. Bei Andreu kommt hinzu, dass ich bestimmte Sachen erst einmal vor den Leser:innen geheim halten möchte – und da nur Andreu weiß, was er vorhat, habe ich beim »Lächeln des Mondes« dann lieber auf Kamus oder Arnnis‘ Perspektive zurückgegriffen – wobei Arnnis‘ Weltsicht, bedingt durch die Tatsache, dass sie ein Geist ist, besonders interessant, aber für mich als Autor auch herausfordernd ist.
Auch bei der »Neraval-Sage« habe ich mit den verschiedenen Perspektiven gespielt. Im ganzen »Gefälschten Siegel« bekommt Tymur Damarel kein einziges Mal die Perspektive, und als es dann an den zweiten Band ging, habe ich lang überlegen müssen, ob ich ihn dann zum Erzähler mache oder nicht. Seine Perpektive ist faszinierend, kalt, berechnend und böse – aber natürlich verrate ich auf die Weise auch schnell, ob Tymur wirklich von einem Dämon besessen ist oder nur so tut, als ob. Es war also durchaus ein Risiko, das ich da eingegangen bin – aber eines, das sich ausgezahlt hat, denn Tymurs Perspektive hat sich als eine der beliebtesten entpuppt, neben Kevrons, währen viele Rezensent:innen sich beschwerten, dass sie Enidins Perspektive überhaupt nicht mochten.
Ich nehme das als Beweis dafür, dass ich ein vielseitiger Autor bin, gut darin, verschiedene Rollen zu spielen und die verschiedenen Perspektiven auch wirklich verschieden rüberzubringen. Dabei achte ich auch immer sehr darauf, wie meine unterschiedlichen Perspektivträger die Welt sehen, was ihnen wichtig ist und was nicht, ob ihre Sicht mehr nach innen gekehrt ist oder mehr nach außen, und auch, wie intelligent sie sind. Roashan zum Beispiel, einer von drei Perspektivträgern aus der »Gauklerinsel«, ist einfach nicht die hellste Kerze am Christbaum, hält sich aber für sehr schlau und gerissen, und ich hatte großen Spaß daran, das entsprechend umzusetzen.
Eine Perspektive bei der »Spinnwebstadt«, »Traumstadt« oder »Wie Haut so kalt« – und natürlich auch bei meinen als Ich-Erzählung geschriebenen Gaslichtromanen. Zwei Perspektiven habe ich bei »Funkenschwarz«, dem »Lied aus Glas« oder »Lichtland«. Drei sind es bei der »Gauklerinsel« oder den »Stadtkindern«. Vier bei der »Neraval-Sage«, der »Neunten Träne« oder den »Schattenklingen«. Und dann gibt es die »Chroniken der Elomaran«. Die »Chroniken der Elomaran« haben nicht weniger als zwölf Persektivträger. Zwölf. Was habe ich da nur angerichtet?
Angefangen hat das Ganze noch ganz unschuldig. »Engelsschatten«, das erste Buch, beginnt mit wenigen Perspektiven. Wir haben Halan, der als Ich-Erzähler durch den Prolog führt und später ein regulärer personaler Erzähler wird, Alexander, und dann kommt die Totenmagd Lyda hinzu, die von mir als dritte Hauptperson konzipiert war und sogar festes Mitglied der Heldengruppe werden sollte, bis sich Alexander rundheraus geweigert hat, mit ihr zusammenzuarbeiten. Drei Perspektiven, zwischen denen sich die ersten neun (von dreizehn) Kapiteln abwechseln. Drei Perspektiven, mit denen ich gut hätte arbeiten können.
Aber mit dem zehnten Kapitel führe ich eine neue Perspektive ein. Eine Figur, die bis dahin nur einen winzigen, namenlosen Gastauftritt hatte, wird als neue Hauptfigur und Perspektivträgerin eingeführt: Die erst elfjährige Natara, die ins königliche Schloss berufen wird, soll dort frischen Wind in die Sache bringen und einen Blick auf die intrigante Königswitwe Aralee erlauben, ohne Aralee selbst die Perspektive zu geben. Natürlich hätte ich dafür auch die inzwischen nach Koristan zurückgekehrte Lyda nehmen können – aber mit Lyda hatte ich damals große Probleme, fand sie zu sperrig, und wollte mit Nataras kindlich-unschuldigem Blick eine neue Sicht eröffnen, einen kontrast zu der düsternen Schwere der anderen Perspektiven.
Sie ist ein sympathischer Charakter, die kleine Natara. Aber heute weiß ich nicht, ob es eine kluge Idee war, sie in die Geschichte hineinzuschreiben und ihr die Perspektive zu geben, denn es hat dem, was danach kommen sollte, Tür und Tor geöffnet: Im zweiten Band, der immer noch Alexanders Seite der Geschichte folgt, kommen weitere Perspektiven hinzu. Jurik bekommt den Prolog, wieder in der Ich-Perspektive, und tritt dann deutlich später als regulärer Perspektivträger wieder auf. Lyda darf wieder ein Kapitel haben, Natara kriegt zwei davon, und zu allem Überfluss geht auch noch ein Kapitel an die gefangene Konkubine Roveen, damit Arale ihre sanftere Seite zeigen darf. Dazu kommen weitere Kapitel in Halans und Alexanders Perspektive, so dass wir allein für »Schwanenkind« auf sechs verschiedene Perspektiven kommen.
Mit dem dritten Band, »Dämmervogel«, verlassen wir Halan und Alexander für die nächsten beiden Bücher und wenden uns dem parallelen Handlungsstrang, Varyns Geschichte zu. Und die soll der ersten Hälfte natürlich in Sachen Perspektivträgern nicht nachstehen. Schließlich will ich dem, was ich in den ersten beiden Büchern begonnen haben, treu bleiben, und dann kann ich nicht plötzlich auf eine Ein-Perspektiven-Erzählung wechseln. So beginnen wir mit den Brüdern Gaven und Varyn und erweitern das Portfolio später um den Königssohn Dannen und Hauptmann Mendrion – vier Perspektiven, die eigentlich auch für den Folgeband, »Falkenwinter«, hätten ausreichen sollen, wäre mir nicht eine Sache aufgegangen.
Ich hatte »Dämmervogel« komplett aus Männersicht erzählt. Zwar gab es mit Hana und Leota immerhin zwei Frauen in, kleinen, Nebenrollen, aber das ganze Buch handelte de fakto nur von Männern – während auf Alexanders Seite der Geschichte immerhin drei von sechs Perspektiven weiblich waren. Zwar anteilsmäßig unterrepräsentiert, aber immerhin vorhanden. Für »Falkenwinter« wollte ich das ändern und machte damit auch Hana zur Perspektivträgerin, so dass ich damit für Varyns Geschichte auf fünf Perspektiven kam.
Soweit noch alles vertrebar – bis »Zornesbraut« ankam, das fünfte Buch. Das machte mit dem Prolog nicht nur Aralee, die damit endlich ihre Karten auf den Tisch legen durfte, zur Ich-Erzählerin – es brachte auch die bis dahin räumlich komplett getrennten Handlungsstränge unter einem Buchdach zusammen, und mit ihnen ihre Perspektivenvielzahl. So habe ich auf fünfzehn Kapitel, die dieses Buch hat, nicht weniger als zehn Perspektiven im Einsatz. Lediglich Mendrion und Hana, die in diesem Buch beide nur am Rand auftreten, dürfen nicht ans Ruder. Kaum jemand kommt zweimal dran – selbst Gaven, in »Dämmervogel« noch die wichtigste Erzählstimme, hat nur ein Kapitel bekommen, Lyda und Halan zwei und lediglich Varyn und Alexander dürfen dreimal dran.
Die Kapitel sind entsprechend lang geworden, um den Leser:innen den Wechsel zwischen so vielen verschiedenen Perspektiven nicht noch schwerer zu machen. Natürlich, »Zornesbraut« ist auch mit Abstand das dickste Buch der Reihe. Aber ich weiß, dass es zu viel ist. Zehn Perspektiven – bei so viel Kopfhüpfen wird den einfühlsamsten Leser:innen schwindelig. Ich bin selbst schuld, ich habe so viele Perspektiven verteilt, und da muss ich jetzt durch. Ich kann die nicht einfach alle sang- und klanglos wieder verschwinden lassen, sondern muss mit dem arbeiten, was ich habe. Die »Chroniken der Elomaran« sind epische Fantasy, da haben sie auch eine epische Anzahl an Perspektiven, um die Geschichte aus wirklich jedem Blickwinkel zu beleuchten.
Nun ist »Zornesbraut« im Kasten, und ich stehe vor der Arbeit am sechsten Band, Arbeitstitel »Himmelsgrund«, und ich muss schauen, was ich mache mit meinem dreckigen Dutzend. Ein bisschen Entspannung habe ich im Vergleich zu »Zornesbraut«. Eine meiner Perspektiven lebt nicht mehr. Jurik und Roveen haben sich erst einmal aus der Handlung katapultiert und werden in diesem Buch nicht auftreten – dafür wird aber Hana zurückkehren, und Mendrion sollte auch mal wieder vorkommen und etwas zu sagen haben, und wenn ich jetzt nicht noch jemanden von meinen Hauptfiguren umbringe, stehe ich auch fürs sechste Buch wieder mit nicht weniger als neun Perspektiven da – acht, wenn ich Natara außen vor lasse, was tatsächlich sein kann.
Die erste Entscheidung, die ich treffen muss, ist, wem ich den Prolog gebe. Die Prologe der Reihe unterscheiden sich immer vom Rest der Bücher, indem sie als Ich-Erzählung aufgezogen sind, und da möchte ich keine Perspektive zweimal verwenden. Ich hatte schon Halan, Jurik, Gaven, Dannen und Aralee, die scheiden also alle aus. Varyn bekommt das erste Kapitel, von dem ich schon ein bisschen geschrieben habe, und aus Plotgründen möchte ich erst einmal geheimhalten, wie es bei Alexander aussieht, so dass der auch aus dem Spiel ist. Im Moment tendiere ich dazu, den Prolog an Lyda zu geben, die gegenwärtig als Botin unterwegs ist, um die Welt vor dem Abgrund zu warnen. Lyda könnte damit gut ein »Was bisher geschah« vermitteln, in das bislang noch nicht erwähnte Land Lavaliria, das noch eine Rolle spielen soll, einführen, und das Buch direkt auf einer düsteren Note beginnen lassen.
Die Vielzahl der Perspektiven für dieses Buch bedeutet auch, dass ich nicht mehr einfach drauflos schreiben kann. Ich muss strategisch planen, am besten das ganze Buch bis zum Ende, was wann wo und in wessen Perspektive passiert. Und das, wo ich doch viel lieber einfach aus dem Bauch raus schreibe! Aber ein paar Sachen kann ich versprechen. Ich werde zumindest in »Himmelsgrund« nicht noch mehr neue Perspektiven verteilen, sondern bei denen bleiben, die ich habe. Sind ja auch weiland genug.
Und noch einmal werde ich mich nicht zu solchen Auswüchsen hinreißen lassen. Wenn ich nochmal so ein episches Werk wie die Elomaran in Angriff nehme – was ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht plane, es wird schwer genug, diese eine Reihe zu meinen Lebzeiten zu Ende zu bringen – dann muss die mit weniger Perspektiven auskommen. Deutlich weniger. Nicht mehr als vier, sag ich mal. Aber die »Chroniken der Elomaran« sollen ihre Perspektivträger behalten. Die sind so. Die müssen auch so. Die Perspektiven machen einen Teil des Charmes dieser Reihe aus. Und die soll ja was besonderes bleiben. Ein Alleinstellungsmerkmal hat sie damit schon. Jetzt muss sie nur noch gut sein.