Von allen wiederkehrenden Rubriken in diesem Blog ist mir der Romanfriedhof wahrscheinlich die Liebste. Ich denke gerne an meine alten Geschichten zurück, um mich daran zu erfreuen, wie sehr ich mich weiterentwickelt habe – und da die meisten meiner alten Geschichten nie fertiggeworden sind, sind das dann schöne Fallbeispiele, die ich hier wiederaufarbeiten kann und analysieren, woran sie gescheitert sind. Heute gibt es eine Geschichte, deren Abgang ich hier schon öfter zitiert habe, ein Fall, in dem ich mich im Plot völlig verrannt habe und nicht mehr hinauskam. Und der einzige Grund, warum ich dieses Buch noch nie früher auf dem Romanfriedhof behandelt habe, ist einfach der, dass dieses Buch nie auch nur einen Arbeitstitel hatte, und was schreibe ich dann in die Betreffzeile?
Mein erster Fantasyroman war 1993 genau das: Mein erster Fantasyroman. Er hatte keinen Titel. Wenn ich auf ihn Bezug nehmen wollte, reichte es aus, ihn »den Fantasyroman« zu nennen, denn alles anderes, was ich damals sonst geschrieben hatte – oder versucht zu schreiben – waren Krimis. Keiner von ihnen war wirklich über ein paar Seiten hinausgekommen. Nachdem ich »Alibi für einen Geist« auf über 270 Seiten versenkt hatte, war meine Hoffnung, jemals etwas Längeres fertigzuschreiben, gleich Null. Ich verfasste verschiedene Grotesken und Satiren, die Titel trugen wie »Lonnie lebt und Lennie lobt« oder »Hölle, Alles Inklsuive« und die auf zwanzig bis fünfzig Seiten auch fertiggeworden waren – aber ich wollte etwas richtiges, ich wollte einen Roman schreiben, und weil es mit den Krimis nicht geklappt hatte, wandte ich mich der Fantasy zu.
Das klingt jetzt ein bisschen, als wäre Fantasy für mich die zweite Wahl gewesen, aber so stimmt das natürlich auch nicht. Fantasy ist ein Genre, das ich schon seit sehr, sehr langer Zeit geliebt habe, ich habe die Fantasyabteilung meiner Stadtbücherei buchstäblich leergefressen, erst im Kinder- und Jugendbuch, dann im Erwachsenenbereich, und ich wollte immer ein Fantasybuch schreiben – es erschien mir nur noch schwieriger als ein Krimi. In einem Krimi brauchte ich nur einen Mord, den es aufzuklären galt, da konnte ich auf meine Chemiekenntnnise zurückgreifen, und für das Setting brauchte ich nicht mehr als ein Haus und eine Vorstellung von Großbritannie, denn ich hatte das Land zu dem Zeitpunkt noch nie besucht: Aber für einen Fantasyroman brauchte ich eine eigene Welt. Und das erschien mir wie ein großes Stück Arbeit.
Dass es auch Fantasy gibt, die in unserer Welt gibt: Geschenkt. Das war damals noch kein großes Thema, es sei denn, man nahm eine Geschichte, bei der Menschen aus unserer Welt in ein Fantasysetting versetzt wurden. Fantasy, für mich, war eine märchenhaft-phantastische Welt, in der Menschen und fremde Geschöpfe Seite an Seite lebten, High Fantasy, wie sie klassischer nicht hätte sein können, oder bestenfalls Portal Fantasy. Und eigentlich hatte ich auch schon ein Setting. Ich hatte eine Welt im Hinterkopf, bestimmt seit dem neunten oder zehnten Schuljahr, und hatte auch schon ein paar Geschichten ausgedacht, die da spielten, aber es fühlte sich zu groß an, um das wirklich als Roman aufzuziehen.
So schrieb ich erst einmal ein paar kleinere Geschichten um Llinwell Finhdy, den König der Gonover, was ein Volk von Kobolden war, und dessen Lebensmotto lautete »Wenn du etwas nicht bekommen kannst, tu einfach so, als ob du das könntest«. Die Gonover lebten unteridisch, das Land über der Erde gehörte den Menschen, und die hatten alle Alten Völker vertrieben oder ausgerottet – lang zurück lagen die Zeiten, in denen die Königin Anaibelfair friedlich im Sinne der Vier Elemente Feuer, Stein, Wind und Regen geherrscht hatte … Und plötzlich merkte ich, dass ich nicht nur ein Land hatte, ich hatte auch eine Geschichte. Und ich hatte Lust, sie aufzuschreiben.
Es war im April 1993, ich war gerade achtzehn Jahre alt geworden, als ich mich daransetzte, das, was sich in den vergangenen drei Jahren in meinem Hinterkopf zusammengeballt hatte, auch zu Papier zu bringen. Ich hatte weniger eine zusammenhängende Geschichte als mehr verschiedene Bruchstücke, die an einzelnen Personen oder Personengruppen hingen, von denen ich nicht wusste, wie sie jemals zusammenfinden sollten, aber epische Geschichten mit verschiedenen Handlungsorten sind ja ausgerechnet in der High Fantasy nichts neues. Und immerhin hatte ich einen roten Faden, einen Schurken, sie alle irgendwie zu vereinen.
Dieser Schurke nannte sich »der Sprecher«, und er hatte den Menschen ihre Musik genommen – hatte einen Dauerregen fallen lassen, der den Leuten jede Erinnerung, dass es überhaupt Musik gibt, schlichtweg aus den Köpfen gespült hatte, denn über den Verlust der Musik verlieren die Menschen ihre Kultur, und über die verlorene Kultur lassen sie sich dann leichter versklaven. Ich hatte historische Vorbilder, wie die Briten, die den unterworfenen Iren das Spielen ihrer Lieder verboten hatten, und die europäischen Kolonialmächte, die in den eroberten Ländern in Afrika Sprachen, Kulturen und Religionen auszurotten versucht hatten, und ich wollte eine Analogie dazu schaffen. Zugegeben, der Sprecher hatte jetzt nicht den kreativsten Namen, aber es war immerhin ein Ansatz, den ich so in anderen Büchern noch nicht gefunden hatte.
Gegen den Sprecher formierte sich Widerstand: Da war die unter Kobolden aufgewachsene Diebin Shauwnee, die unter dem persönlichen Schutz des Koboldkönigs ihre Musik behalten hatte, und die Barden Nira und Merwyn, die durch ihre besonderen, auf einer Harfe gewebten Umhänge von der Gehirnwäsche verschont geblieben waren. Parallel dazu suchte aber noch das Mädchen Karroll ihren vom Fluss davongetragenen kleinen Bruder, der irgendwie zum Spielding des Sprechers geworden sein sollte, und der schöselige Königssohn, Prinz Djurimir, zog aus, um zu verhindern, dass die Macht seiner Familie über das Land gebrochen werden sollte – natürlich war der König ein Tyrann und nicht viel besser als der Sprecher, außer, dass er den Leuten ihre Musik gönnte, aber ich war achtzehn Jahre alt und eine Sozialistin im Herzen, und jeden nicht demokratisch gewählten Herrscher konnte man in der Pfeife rauchen.
Ich stürzte mich auf die Geschichte wie ein Verhungernder auf eine Fischfrikadelle. Am ersten Tag schrieb ich, handschriftlich, acht Seiten, und ich hatte noch nie, niemals in meinem ganzen Leben, so viel an einem Stück an einer Geschichte geschrieben. Das war, zumindest für einen Tag, Nanopensum, wie ich das erst mehr als dreizehn Jahre später regelmäßig zu Papier bringen sollte. Ich fühlte mich beflügelt, ich war glücklich, so glücklich, wie einen nur das Schreiben in seinen besten Zeiten machen konnte. Zwar hatte ich meine erste Hauptfigur gleich wieder ausgebaut, als Shauwnee direkt in ihrer allerersten Szene verhaftet und in den Kerker gebracht wurde – aber ich hatte ja noch so viele andere Figuren, auf die ich ausweichen konnte!
Leider waren diese Figuren noch nicht die ausgereiften Charaktere, die heute in meinen Büchern auftauchen. Sie waren, vielleicht mal abgesehen von Shauwnee, die mit einer Hintergrundgeschichte und einem rotzig-trotzigen Anflug von Persönlichkeit ausgestattet war, blass und farblos, und ich wurde auch nicht warm mit ihnen. Vor allem der Prinz blieb ein ironisches Abziehbild, eine Schießbudenfigur, die ich selbst nicht bereit war ernst zu nehmen. Auch meine Barden bestanden aus nicht viel mehr als ihren Namen, und der einzige Unterschied zwischen ihnen war, dass Nira eine Frau war und Merwyn ein Mann – sie verhielten sich identisch, es war egal, wer von beiden was sagte, sie waren austauschbar, und ich hätte ebenso gut einen einzigen Barden nehmen können, um die Handlung voranzutreiben – aber dann wieder war das auch egal.
Denn schon nach einem gemeinsamen Kapitel fanden sich meine Barden im Kerker des Sprechers wieder. Dort trafen sie auf Shauwnee, wunderbar, die Charakerzusammenführung war geglückt – aber da blieben sie dann auch. Mein Plot, das, was ich geplant hatte, sah vor, dass sie alle im Kerker landen. Ich hatte nicht geplant, wie sie da wieder rauskommen sollten. Und damit war ich dann, zehn Jahre später, wieder in der gleichen Situation wie bei »Zirkus in der Stadt« – ich hatte entscheidende Figuren unwiederbringbar festgesetzt. Zwar schrieb ich noch eine Szene, wie es im Kerker weiterging, und konnte durch eine Bardenerzählung noch eine Rückblende in die Zeit der holden Königin Anaibelfair einflechten, aber es war klar, dieses Buch war zum Scheitern verdammt.
Ganze zehn Tage beträgt die Kernarbeitszeit an der Geschichte, was vielleicht auch erklärt, warum sie nie einen Titel bekommen hat. Über sechzig Seiten, viel für meinen damaligen Output, hatte ich in der Zeit zusammengetragen. Ich schrieb später noch mal daran, zeilenweise, aber es war klar, das wird nichts mehr. Ich ließ das Buch sterben. Ich trauerte um die Geschichte. Aber ich wusste nicht, wie ich sie hätte retten sollen.
Vieles hatte ich richtig gemacht bei meinem ersten Versuch, einen Fantasyroman zu schreiben. Das Lande Blau, auch wenn es komisch benamst war, nach dem ewig blauen Himmel der Menschen, die den Regen in die Nacht verbannt hatten, war ein interessantes und schon ziemlich ausgefeiltes Setting. Ich hatte Weltenbau betrieben, viele nette Details, ich hatte Handlung auf zwei Zeitebenen, doch soweit, dass Shauwnee in die Vergangenheit versetzt wird, wo sie feststellt, dass sie selbst die legendäre Generälin Fretta der Stein ist, bin ich nie gekommen. Und auch nicht dahin, wo sie den Sprecher mit der Macht subversiver Musik besiegen. Zu viele an sich gute Ideen haben es nie in das Buch geschafft, weil ich an einer früheren Stelle im Plot hängengeblieben bin.
Hätte es geholfen, einen Computer zu besitzen und nicht linear an der Geschichte zu schreiben? Es sollten noch zwei Jahre ins Land gehen, ehe ich mein Schreiben auf die digitale Ebene heben und niemals aufs Analogzeitalter zurückblicken sollte – und natürlich hätte ich dann die späteren Stellen, für die ich schon Plot hatte, auch aufschreiben können. Aber ohne das Problem lösen zu können, wie es mit den Eingekerkerten weiterging, wäre dieses Buch, dann eben mit mehr Seiten, trotzem auf dem Romanfriedhof gelandet.
Es sollte 2019 werden, bis ich, gezwungenermaßen, ein vergleichbares Plotproblem lösen konnte. Da waren in der ersten Fassung des »Gefälschten Herzes« meine Helden in einem Höhlensystem verlorengegangen, und ich hatte aufgehört zu schreiben, jahrelang, weil ich nicht wusste, wie es da weitergehen sollte und welchen Sinn und Zweck diese Höhle überhaupt hatte. Aber als das »Gefälschte Siegel« erschienen war und das »Gefälschte Herz« fertigwerden musste, hatte ich keine Wahl mehr. Und die Lösung bestand darin, sehr viel Text in die Tonne zu treten und die drei überhaupt niemals in diese Höhle hineingehen zu lassen. Manche Plotprobleme bekommt man nur retroaktiv gelöst.
Aber 1993 war ich nicht soweit, einen schritt zurück zu machen. Ich hatte noch nie ein Buch überarbeitet, außer, beim Abtippen Tippfehler zu korrigieren und neue zu machen. Wie so ziemlich alles, was ich in der Zeit geschrieben habe, existiert nur in handschriftlicher Form – es war so aufwendig, Sachen mit der Schreibmaschine zu schreiben, dass ich noch nicht einmal die fertigen Novellen mehr abgetippt habe. Ich habe die Geschichte, nachdem ich sie einmal vor die Wand gefahren hatte, noch nicht einmal mehr gelesen, ich habe mich geschämt, einen guten Ansatz ruiniert zu haben, und es hat mit frustriert, nichts zu einem Ende bringen zu können.
Heute finde ich, dass vier Jahre nicht viel Zeit sind. Vier Jahre, so lange liegt bei mir schon mal ein angefangenes Buch, bis ich daran weiterschreibe, als wäre ich nie weggewesen. Aber in den vier Jahren, nachdem ich mein »Lande Blau«-Romanfragment fabriziert hatte, sollte viel passieren. Ich machte mein Abitur, ich zog nach Köln, ich bekam einen Computer, und ich fing an, wirklich viel zu schreiben. Eine Zeitlang nahm ich quasi monatlich oder noch öfter neue Projekte in Angriff, einfach weil ich es konnte. Im letzten Jahr meines Studiums schoss ich mich auf ein einziges Manuskript ein, von dem ich beschlossen hatte, dass es fertig werden sollte, und diesmal zog ich es durch. So entstand meine »Flöte aus Eis«.
Nur vier Jahre vom ersten gescheiterten Versuch bis zum ersten fertigen Roman, ich finde, das klingt ganz schön schnell – es hat sich aber angefühlt wie eine schiere Ewigkeit. Vielleicht, weil ich in der Zeit so viele Sachen angefangen habe, so viele neue Welten angerissen – aber obwohl ich wirklich einiges an Material zu meinem »Lande Blau« hatte, habe ich nie wieder damit gearbeitet, nicht versucht, eine andere Geschichte dort anzusiedeln, nicht mehr mit meinen Kobolden gespielt oder mit der großen Königin Anaibelfair. Deren Name, zugegeben, ziemlich blöd klingt, wenn man ihn aufgeschrieben sieht. Aber ich war ein Anfänger, und ich lernte ja noch. Und wenn ich heute dahin zurückblicke, sehe ich nichts mehr, dessen ich mich schämen müsste. Ich sehe einen Lernprozess. Versuch und Irrtum. Und gelernt habe ich seitdem eine Menge. Ausgelernt? Das habe ich so schnell nicht. Der Romanfriedhof wird weitere Opfer finden. Nur, hoffe ich, nicht so bald.