Als das Jahr losging, hatte ich große Pläne, aber kleine Hoffnungen. Zum nicht weniger als dreizehnten Mal bin ich mit einem Jahresziel von 500.000 Wörtern gestartet, und nur einmal, im Jahr 2011, habe ich das geschafft – in allen anderen Jahren bin ich so groß gestartet, dass ich meistens noch nicht einmal die Hälfe meines Ziels erreicht habe. Ich bin trotzig, ich versuche es trotzdem immer wieder aufs Neue – und in diesem Jahr, zum ersten Mal seit Ewigkeiten, werde ich dieses Ziel voraussichtlich nicht nur schaffen, sondern noch dazu deutlich übertreffen. Ich habe einen großzügigen Vorsprung vor dem Zeitplan, ich könnte zwei Monate lang pausieren und wäre dann immer noch im grünen Bereich – aber ich darf nicht pausieren, ich muss an jedem einzelnen Tag schreiben, sonst habe ich verloren.
Grund dafür ist die Laufliste. Die habe ich vor einigen Jahren im T12, dem Ganzjahreskampfschreiben des Tintenzirkels, eingeführt, und sie zählt fortlaufend die Tage, an denen man mindestens 1/365 seines Jahresziels geschrieben hat – in meinem Fall sind das 1.370 Wörter, die ich Tag für Tag zu schreiben habe, um auf der Liste zu bleiben. Eigentlich ist es kein Problem, auch mal einen Tag Pause einzulegen – dann endet der Lauf, und sobald man wieder schreibt, arbeitet man sich erneut hoch. Nur ist es ein Unterschied, ob man nach einem guten Monat wieder neu auf der Liste startet, oder nach knapp 250 Tagen. So lange dauert mein Lauf nämlich schon. Heute ist der sechste September, der 249. Tag des Jahres, und seit dem ersten Januar habe ich an jedem Tag mein Pensum geschrieben. Das hatte ich sonst so bis Februar durchgehalten, einmal sogar bis zur Leipziger Buchmesse im März – aber jetzt haben wir September, und ich laufe immer noch. Und plötzlich, von einem Tag auf den anderen, fühlt es sich wie Arbeit an.
Ich sehe, was ich seit Anfang des Jahres geleistet habe. Fast 1.500 Seiten habe ich geschrieben an insgesamt sieben verschiedenen Romanprojekten, zwei angefangene Bücher habe ich fertiggestellt, ein drittes im Finale, ich hatte einen Heidenspaß und bin stolz auf das Erreichte, und einen freien Tag habe ich dabei tatäschlich nicht vermisst. Ich habe mir das ein bisschen schöngeredet – das Schreiben ist mein Beruf, und mir sollte, wie jedem Berufstätigen, zumindest ein freier Sonntag zustehen, besser ein richtiges Wochenende, aber nach meiner Argumentation bin ich ein Berufsautor, der wochenends seinem Hobby, dem Schreiben, nachgeht, und nach dieser Logik habe ich seit dem ersten Januar stramm durchgearbeitet. Habe an Feiertagen geschrieben und an meinem Geburtstag, durchschnittlich 1.740 Wörter am Tag und niemals weniger als 1.370. Das sind Zahlen, auf die ich stolz sein kann, und ich bin darauf stolz.
So stolz, dass zur Zeit mein gesamtes Selbstvertrauen auf diesen Zahlen basiert. Da kann ich was, da habe ich was geschafft – was ich von anderen Bereichen meines Lebens derzeit nicht so sagen kann. Einen geregelten Alltag vermisse ich nach wie vor. Es kostet mich große Überwindung, auch nur das Haus zu verlassen. Meine Depressionen machen mir zu schaffen, immer wieder, schubweise. Wochenlang bin ich komplett auf dem Zahnfleisch gegangen, habe es noch nicht einmal auf die Beerdigung meines Onkels geschafft, weil es mir so schlecht ging – nur schreiben, das konnte ich noch, auch wenn es das einzige war, das ich noch konnte. Daran habe ich mich festgekrallt. Dies ist das Jahr, in dem das Schreiben klappt, und daran ziehe ich mich hoch, und nächstes Jahr klappt auch der Rest – bis der September kam, und plötzlich fällt mir das Schreiben schwer.
Die Schuld dafür liegt nicht bei mir oder meinen Depressionen. Die Bücher sind schuld – die beiden, an denen ich gerade arbeite. Da ist mir schlichtweg synchron der Plot weggebrochen. Bei »Zornesbraut« bin ich jetzt im vorletzten Kapitel angekommen, und ich komme nicht rein. Ich schreibe es aus Halans Sicht, der war immer einer meiner Haupt-Perspektivträger, einer, mit dem ich immer sehr gut zurechtgekommen bin, aber diesmal sperrt er sich mir. Das Buch soll dramatisch und tragisch enden, das vorletzte Kapitel auf die Katastrophe zusteuern, und stattdessen ist es zäh und statisch, sie reden nur, statt zu handeln, und ich finde alles, was jemals Leute an meinen Büchern auszusetzen hatten, in den ersten Seiten des Kapitels (mehr habe ich noch nicht geschafft) vereint, und ich hasse jedes einzelne Wort davon.
Was ich bräuchte, wäre eine ausgiebige Plottingsession mit meinem Mann, der dieses Buch noch aus jedem Loch gerettet hat. Aber mein Mann ist nicht da. Er ist in der Eifel in einer Reha-Klinik, ist dort schon seit bald fünf Wochen und noch für zwei weitere, und seine Abwesenheit macht mir zu schaffen – mir fällt nicht, wie ich zuerst befürchtet hatte, die Decke auf den Kopf, und wir können jeden Tag ausgiebig telefonieren, sogar mit Bild, aber es ist nicht das gleiche wie ein leibhaftiges Treffen, und er fehlt mir. Wir sind seit über fünfundzwanzig Jahren zusammen, seit fünfzehn haben wir eine gemeinsame Wohnung, und ich bin einfach daran gewöhnt, dass er da ist, und jetzt ist er es eben nicht. Der Großteil ist durchgestanden, mehr als die Hälfte der Zeit rum, und am Wochenende sehe ich ihn auch wieder – nur jetzt, jetzt gerade, ist es schwer.
Ich mache mir mehr Stress, als gut für mich ist, und dabei kommt jetzt das Schreiben unter die Räder, weil leider gerade nichts anderes mehr zum Unter-die-Räder-kommen übrig ist. So große Pläne hatte ich für meine Zeit als Strohwitwe, wollte meine Familie besuchen und Freunde, und natürlich Wochenends meinen Mann in der Klinik, und dann war da noch eine Lesung beim Erlanger Poetenfest, und das habe ich erfolgreich einen knappen Monat lang gestemmt – und dann wurde mir einfach alles zu viel. Zum Glück habe ich erst nach Erlangen schlappgemacht, und die Lesung dort war toll, aber es ist einfach so viel Fahrerei, und ob ich nun mit der Bahn fahre oder mit dem Auto, alles ist stressig. Letztes Wochenende habe ich die Segel gestrichen und bin nicht in die Klinik gefahren, und ich hatte gehofft, dadurch wieder emotional zu Kräften zu kommen, aber der Stress ist immer noch da.
Freitag, also übermorgen, kann alles besser werden. Freitag ist die Verleihung des Phantastikpreises der Stadt Wetzlar, und dass ich den in diesem Jahr gewonnen habe ist immer noch ein Traum – leider auch wörtlich: Ich habe das immer noch nicht wirklich realisiert, und weite Teile von mir können einfach nicht dran glauben, dass das wirklich sein soll. Aber Freitag ist die Preisverleihung, und dann muss es endlich bei mir ankommen. Freitag sehe ich meinen Mann wieder und kann mit ihm plotten. Und Freitag treffe ich auch meine Agentin und, zum allerersten Mal, meine Kinderbuch-Lektorin, und dann bekomme ich, wahrscheinlich auch Feedback zu dem anderen Buch, an dem ich gerade schreibe – und komme damit dann, hoffentlich, auch damit wieder in den Quark.
»Die vierte Wand« heißt das Buch, von dem Agentin und ich hoffen, dass es der Nachfolger von »Unten« wird. Die Geschichte vereint Elemente aus Philosophie und ganz sanftem Grusel, meine Vergleichstitel sind »Der kleine Prinz« und »Sophies Welt«, es gibt liminale Räume, ein kaskadierendes Haus und die Frage, wer und was wirklich ist – und nachdem ich eine hundertseitige Leseprobe eingereicht habe und noch mal drei Kapitel dran geschrieben, ist mir das Ganze unter den Fingern weggebrochen, weil ich noch nichts wieder von meiner Lektorin dazu gehört habe und überhaupt nicht weiß, ob die Geschichte auf dem richtigen Weg ist und das, was sie sich nach dem Exposé und den ersten fünfundzwanzig Seiten als Leseprobe vorgestellt hat. Da kann ich gerade nicht gut ins Blaue rein schreiben, wenn ich, alter Pessimist, der ich bin, schon wieder fürchte, dass der Verlag sich etwas ganz anderes darunter vorgestellt hat.
Zwei tolle, zwei sehr unterschiedliche Projekte, und an beiden komme ich nicht weiter, nur zwei Tage, bevor ich einen epischen Lauf von 250 Tagen rum habe. Und auch sonst fällt mir gerade nichts zum Schreiben ein. An meinen anderen Projekten fehlt mir gerade der Plot. Bei den »Tränenjägern« ist der erste Band fertig – den zweiten muss ich überhaupt erst einmal plotten, das scheitert aber gegenwärtig schon beim Weltenbau, und darum ruht das gerade. Bei »Lichtland« habe ich allen alten Plot in einem aktuellen Text aufgearbeitet, weiß aber nicht, wie es weitergeht, weil nach dem alten Plot kein neuer gewachsen ist. »Sturmtrinker« und »Glaslabyrinth«, »Wie Haut so kalt« und »Tinte und Rauch« – allen Plot, den ich mir für eine dieser Bücher ausgedacht habe, habe ich auch geschrieben.
Das ist der Preis für acht produktive Monate: Ich habe keine aufgeschobenen Szenen mehr übrig, müsste mich für jedes dieser Bücher hinsetzen und ausgiebig plotten, um herauszufinden, wie es weitergeht. Und eigentlich möchte ich erst einmal die beiden Bücher, an denen ich gerade arbeite, fertigschreiben, bevor ich mich wieder auf etwas Neues (oder Altes, je nachdem, wie man es betrachtet) einstelle. Beides, »Zornesbraut« und »Die Vierte Wand«, will ich im Kasten haben, bevor der Nanowrimo anfängt, weil ich dann »Funkenschwarz« schreiben will – und was das Buch angeht, juckt es mich gerade ganz gewaltig in den Fingern. Da habe ich Plot, da habe ich Ideen, da bin ich hochmotiviert – und darf nicht. Ich will einen klassischen Nano schreiben, bei dem ich am 1. November die ersten Wörter verfasse, und kein Wort früher. Also muss ich mich da in Geduld üben.
Ich hoffe wirklich, dass es eine vorübergehende Durststrecke ist und ich ab dem Wochenende wieder mit den beiden Büchern vorankomme. Dass mich die Preisverleihung beflügelt und das Treffen mit Mann, Agentin und Lektorin ebenfalls, dass ich positives Feedback zur »Vierten Wand« bekomme und nicht noch mal alles neu konzipieren muss. Und dass ich die letzten beiden Kapitel von »Zornesbraut« auf die Reihe bekomme und nicht noch mal alles zwölf Jahre liegenlasse, eh es da weitergeht. Ich habe so viel geschafft dieses Jahr, ich jammere auf dem höchsten aller Niveaus. Aber auch mit einem Lauf von 248 Tagen muss ich akzeptieren, dass ich nur ein Mensch bin – und dass es eine wirklich stabile Leistung ist, jeden Tag 1.370 Wörter zu schreiben. Das mache ich mit links, aber nur deswegen, weil ich Linkshänder bin und es mir zu schwer fallen würde, um es mit rechts zu machen.
Aber aufgeben kommt nicht in Frage. Gerade weil ich nicht weiß, wie das nächste Jahr aussehen wird, will ich dieses Jahr maximal durchziehen. Ich habe es bis September geschafft. Dann schaffe ich den Rest auch noch. Ich ziehe die Laufliste durch – nicht bis zum bitteren Ende, sondern bis zum größten Triumph. Und dass es sich jetzt wie Arbeit anfühlt – das macht mich nur um so stolzer, es zu bewältigen. Auf die nächsten 250 Tage!