Nachdem ich Ende Juli erfahren habe, dass ich nicht nur auf der Shortlist beim Phantastikpreis der Stadt Wetzlar stehe, sondern den Preis sogar allen Ernstes gewonnen habe, war es jetzt so weit – ich bin nach Wetzlar gefahren, und ich habe den Preis in Empfang genommen. Das klingt toll, und war das auch. Aber mein innerer Saboteur hat mir die Zeit von Juli bis jetzt schwerer gemacht, als ich es ihm lieber gegönnt hätte. Am Anfang war es eigentlich noch einfach: Da hatte ich verstanden, und das auch realisiert, dass ich wirklich diesen Preis gewonnen habe.
Aber dann, mit jedem Tag, der zwischen der Mail, die ich von der Stadt Wetzlar bekommen hatte, und der eigentlichen Preisverleihung lag, wurde das Ganze immer unwirklicher für mich. Diese fiese kleine Stimme in mir meldete sich wieder, und sie meinte nicht nur, dass mir doch überhaupt kein Preis zustünde – sie meinte auch, dass ich mir das Ganze nur eingebildet hätte. Dass ich den Phantastikpreis überhaupt nicht gewonnen hätte. Und ich bald eine entschuldigende Mail bekommen würde, die dieses Missverständnis aufklären sollte. Denn was sollte es anderes sein als ein großer peinlicher Irrtum?
Wirklich, Depressionen sind ein Arschloch, ich kann das nicht anders sagen. Genau in der Zeit, als ich endlich einmal Grund gehabt hätte, mich zu feiern, als ich die Bestätigung hatte, dass ich wirklich etwas kann und etwas geschafft habe, versuchten sie, mir dazwischenzugrätschen und mit meinen Preis madig zu machen. Ich ließ mir nichts anmerken, ließ mich feiern und freute mich darüber, wie mir von allen Seiten gratuliert wurde – und während ich auf der einen Seite schon an meiner Dankesrede feilte, legte ich mir auf der anderen die Erklärung zurecht, weswegen es doch nicht geklappt haben sollte – und mit jeder Woche, die ins Land ging, ohne dass Wetzlar zurückruderte, jeder Woche, die ich da auf der Webseite unwiderrufen als Gewinnerin stand, wurden meine internen Argumente perfider und abstruser – und das Schlimme ist, dass ein Teil von mir sie trotzdem glaubte, dieser Teil, der immer das Schlimmste erwartet und versucht, mir die Errungenschaften, auf die ich eigentlich stolz sein sollte, schlechtzureden.
Zum Glück musste ich nur bis zum achten September warten, bis der Preis wirklich verliehen werden sollte – und dann, so hoffte ich, wenn ich ihn wirklich in Händen hielte, wäre auch die letzte verhinderte Ecke von mir überzeugt, dass wirklich ich wirklich den Phantastikpreis der Stadt Wetzlar gewonnen habe, ungelogen und in echt. Aber bis es so weit war, gab es ein zähes Ringen, über das ich kaum mit jemandem reden konnte – es erschien mir so lächerlich, daran zu zweifeln, auch wenn ich es tat, und ich wollte nicht, dass jemand denken sollte, ich fischte nur nach Glückwünschen und müsste allen Leuten meinen Preis noch mal unter die Nase reiben. So machte ich ab und an einen »Witz« darüber, dass bei der Preisverleihung doch eine andere Autorin nach vorne gerufen würde, worüber niemand lachen mochte, am allerwenigsten ich selbst.
Heute bin ich dann also nach Wetzlar gefahren, und was soll ich sagen? Ich habe den Phantastikpreis bekommen. Er gehört mir. Niemand kann ihn mir mehr wegnehmen, noch nicht einmal mein innerer Saboteur. Ich habe es schriftlich, in Form einer Urkunde, die ich mir an die Wand hängen kann, damit sie mich immer an diesen Tag erinnert (und das werde ich wahrscheinlich tatsächlich tun – nimm das, innerer Saboteur!), und natürlich es ein haltloses Hirngespinst, dass sich das Ganze als Irrtum herausstellen würde.
Aber bis das soweit war, war ich ein hibbelndes Wrack. Schlimmer noch, ein hibbelndes, schwitzenes Wrack. Ich hatte den Wetterbericht für Wetzlar nachgelesen und mich angesichts vom angekündigten Temperaturen um die dreißig Grad weise dagegen entschieden, Hemd und Krawatte zu tragen – sondern für eine Kombination aus Sakko und T-Shirt. Ich besitze ein sehr schönes braunmeliertes Sakko, das sehr gut zu meiner liebsten Mütze passt – ohne Kopfbedeckung mag ich nicht unter die Leute gehen, weil mich meine fusseligen Haare immer sehr unsicher machen. Aber das Sakko hatte einen nicht zu verachtenden Nachteil: Es war aus einem sehr schönen Wollstoff. Und wenn man eines bei dreißig Grad im Schatten eher nicht tragen sollte, ist das eine wollene Jacke. Egal, wie schick sie ist. Und nachdem ich so aus dem Hotel in Wetzlar in die Stadt ging, um dort meine Lektorin und meine Agenten zu treffen, zerfloss ich beinahe vor Hitze.
Bis ich eine knappe Stunde vor Preisverleihung in der Phantastischen Bibliothek ankam, war ich einmal mariniert im eigenen Saft. Und so, fürchtete ich, sollte ich dann auch auf allen Pressefotos aussehen: Durchgeschwitzt und puterrot im Gesicht. Ich bin unsicher wegen meines Gewichts, wegen meines Aussehens, und plötzlich geriet ich in Panik. Gleich muss ich auf die Bühne, und ich sitze da und schwitze wie ein Tier! Die Jacke wanderte an die Garderobe, was gut war, weil ich sonst wohl noch einen Hitzeschlag darin erlitten hatte. Ich bekam ein kaltes Mineralwasser und Küchentücher, um mir den Schweiß vom Gesicht zu tupfen. Und bis die Veranstaltung dann um neunzehn Uhr losging, hatte ich mich wieder einigermaßen beruhigt. Ich bekam sogar beinahe wieder Luft.
Nächste Herausforderung: Nicht in Tränen ausbrechen. Ich wollte da gleich einen professionellen Eindruck hinterlassen, und verheult wollte ich ebenso wenig in die Annalen des Phantastikpreises eingehen wie verschwitzt. Und ich bin, das muss ich gestehen, nahe am Wasser gebaut. Besonders bei traurigen Liedern brechen bei mir leicht die Schleusentore, was mir auf Filk-Conventions eine gewisse Berüchtigung eingebracht hat. Und als dann Oberbürgermeister Wagner mit seiner Rede anfing und anschließend Frau Schleifer, die stellvertretende Leiterin des Jugendamtes, die Laudatio hielt, hatte ich zugegeben Probleme, an mich zu halten. Aber es gelang mir, standhaft zu bleiben und druchzuahlten, ohne laut zu heulen. Ich zerdrückte ein paar Tränchen, vor allem während der Laudatio, die wirklich wunderschön war und dem Buch Aspekte abgewann, die mir selbst noch nicht einmal so bewusst gewesen waren (Ehrlich, dass der Name Nevo »Neubeginn« bedeutet, habe ich heute zum ersten Mal gehört – das wusste ich jedenfalls nicht, als ich ihn mir ausgedacht habe).
Doch als ich dann selbst auf die Bühne durfte, war ich ganz gefasst – wenn man davon absieht, dass ich die ganze Zeit über gegrinst habe wie ein Honigkuchenpferd. Nach den ganzen Selbstzweifeln war es so eine Wohltat, einmal von allen Seiten gefeiert zu werden, dass ich gar nicht mehr damit aufhören wollte. Und wären nicht zwischen Reden und Laudatio musikalische Darbietungen gewesen, Bach und Händel, dargeboten von zwei jungen Blechbläserinnen, ich wäre wahrscheinlich völlig abgehoben. So konnte ich mich während der Musik zurücklehnen und genießen und einmal durchatmen, bevor die Lobpreisungen weitergingen.
Und dann war ich dran – mit meiner Dankesrede und einer kurzen Lesung. Vor der Lesung hatte ich keine Angst. Lesen, das weiß ich, kann ich, und da habe ich auch keine Angst vor einem Saal voll Publikum. Aber eine Rede, das ist eine völlig andere Sache. Die erste und letzte Rede, die ich verfasst habe, war im Deutschunterricht, zehntes Schuljahr, als wir Rhetorik durchgenommen haben. Und auch wenn diese Tatsache ein sehr schöner Aufhänger für meine Rede war, mit dem ich einen Lacher zum Einstieg ernten konnte, half mir das doch nicht über den Rest meiner Rede hinweg. Und da trat ich ein Erbe an, von dem ich wusste, dass ich mich damit nicht messen kann.
Die Vorjahressiegerin, die großartige Sabrina Zelesny, hat als Siegerin eine Dankesrede gehalten, wie ich kaum jemals eine bessere gelesen habe, hat Parallelen gezogen zwischen der Rolle eines Kulturanthopologen und des Erzählers in einer Geschichte, und nachdem ich sechs Wochen auf meiner Rede herumgekaut hatte, war mir klar, so eine Rede kann ich nicht halten. Man kann nicht alles können. Und auch wenn ich 1990 eine glatte Eins für meine Rede bekommen habe, werde ich wohl noch kein professioneller Redeschreiber mehr. Ich schreibe gute Bücher, das ist gerade wichtiger, und wenn ich noch mal einen Preis gewinne, sollte ich weniger verkrampft ans Redeschreiben rangehen und nicht auch noch unmittelbar davor die Dankesrede einer Literaturnobelpreisgewinnerin lesen und versuchen, der nachzueifern.
Aber meine Rede heute war auch nicht schlecht. Ein kleines Plädoyer für phantastische Literatur, ein Rückblick auf meine Oma, die mit selbiger nichts anfangen konnte und die doch Anteil an meinem Werdegang genommen hat – und die Geschichte eines Buches, das von der Wirklichkeit eingeholt wurde, als die Welt in den Lockdown ging und meine düstere Vision einer Gesellschaft, die im Haus festsitzt, plötzlich Wirklichkeit wurde. Vor allem war wurde die Rede kurz. Das freute mich besonders, denn ich bin nicht so gut darin, mich kurz zu fassen, aber in der Rede konnte ich es auf den Punkt bringen. Und als ich diese Rede dann hielt, passierte etwas, das ich nicht einkalkuliert hatte: Ich war ergriffen, bewegt, und plötzlich war da etwas in meiner Stimme, das ich so von mir nicht kannte und das aufs Publikum übergriff. Vielleicht bin ich nicht die beste Redenschreiberin. Aber ich habe sie so gut gehalten, dass das niemand gemerkt hat. Wer die Rede in Gänze nachlesen möchte, findet sie jetzt hier.
Vor der anschließenden Lesung hatte ich die geringste Angst. Lesen vor Publikum, das kann ich – ich muss dabei nur aufpassen, dass ich nicht zu schnell lese, damit mir die Leute noch folgen können, aber wenn ich mich zwischendurch ein bisschen bremse, lese ich sehr gut. Und ich wusste auch, dass ich mir eine echt starke Szene rausgesucht hatte, die alles, was das Haus ausmacht, kondensiert auf den Punkt bringt: Die Szene mit den Arbeitern im Block Rosa, die »das Soll wiederherstellen«. Und die Reaktionen der Zuhörenden waren genauso, wie ich sie mir erhofft hatte, sie gingen mit, lachten an den richtigen Stellen, und auch wenn ich am Stehpult gelesen habe und eigentlich beim Lesen lieber sitze als stehe, hat alles gut geklappt.
Dann war der offizielle Teil des Abends vorbei. Ich durfte noch mit dem Bürgermeister, der Laudatorin Frau Schleifer und meiner Siegerurkunde für Fotos posieren (und ahnte bereits, dass sie unvorteilhaft ausfallen würden) und danach noch in zwangloser Runde Bücher signieren, Fragen beantworten und mich mit einigen Mitgliedern der Jury unterhalten. Ach ja, und einen riesigen Blumenstrauß habe ich auch noch bekommen, den nach Hause zu kriegen eine echte logistische Leistung war. Aber da war ich dann auch endlich die Aufregung und Anspannung los, die mir zwischendurch echt den Atem geraubt hatte, und mir war auch nicht mehr ganz so warm. Und es tat wirklich, wirklich gut, mit all diesen Menschen zu sprechen, die mein Buch gelesen hatten und denen es etwas bedeutete.
Beim anschließenden gemeinsamen Abendessen war ich dann endgültig erleichtert und entspannt, und endlich war auch bei mir angekommen, dass ich wirklich diesen Preis gewonnen habe. Und den lasse ich mir von niemandem mehr wegnehmen – am allerwenigsten von mir selbst. Ich weiß nicht, wie viele Preise noch folgen werden, aber ich hoffe, sie werden genau so ein tolles Erlebnis wie dieser hier – minus innerer Saboteur.
Nachtrag, 12. September
Weil ich selbst zu aufgeregt war, eigene Fotos zu machen, haben mir meine Agenten Micha und Klaus Gröner freundlicherweise gestattet, ihre zu verwenden. Und um zu verhindern, dass ich jetzt endgültig abhebe, hat die Wetzlarer Neue Zeitung in dem Artikel, den ich heute per Mail bekommen habe, meinen Namen falsch geschrieben. Aber ich freue mich trotzdem. Das war ein toller Abend. Und ich werde noch lang davon zehren können.