Wenn ich sage, dass ich meine erste Welt mit elf Jahren gebastelt habe, klinge ich wie ein Routinier, aber kaum etwas stimmt weniger als das. Und die Bezeichnung »Welt« ist dafür auch zu weit gegriffen – es war eine einzelne Insel, die ich in einer Freistunde malte, und der ich den Namen »Gauklerinsel« gab. Wie detailliert oder nicht das Ganze war, kann ich heute schlecht nachvollziehen, das Blatt ist nicht erhalten, ich weiß aber noch, dass ich nicht zufrieden mit meiner Arbeit war – ich wollte mir Geschichten ausdenken, die in diesem Land spielen sollten, und fand keine; ich hatte das Bedürfnis zu schreiben, aber mir fehlte alles, was heute mein Handwerk ist, und wirklich, ich war elf Jahre alt und sollte nicht allzu hart mit mir sein.
Von der Gauklerinsel blieb nur der Name, den ich zwanzig Jahre später für das Setting einer anderen Geschichte benutzte – nun kein ganzes Land mehr, sondern nur noch ein winziges Inselchen mit einer einzigen Stadt drauf, und es wurde die beste, lebendigste, fühlbarste Welt, die ich je erschaffen hatte, aber an der Stelle denke ich, die Ansprüche an ein Inselchen sind deutlich geringer als an eine ganze Welt. Und mit ganzen Welten tue ich mich schwer, so unnötig schwer, dass meine Geschichten darunter leiden müssen.
Selbst Länder auszudenken fällt mir schwer. Losgelöst vom Rest der Welt, haben sie vielleicht noch ein paar Nachbarländer, vielleicht noch nicht einmal das, sie haben ein paar Städte und Dörfer, die in der Geschichte erwähnt werden, aber wehe, die Leser:innen wollen wissen, wie es jenseits der in der Geschichte bereisten Pfade aussieht! Dann habe ich nur noch die Rückseiten von Pappkulissen und ganz viel leeren Raum. So erging es mir, als ich 2010 das »Gefälschte Siegel« schrieb – ich gab dem Land einen Namen, und das war es dann auch schon. Die Figuren waren mir wichtig, die Welt war es nicht, wie ein modernes Theaterstück, das auf einer leeren Bühne gespielt wird und trotzdem fesselt, wollte ich einfach nur meine Geschichte erzählen – und bekam die Quittung dafür in zwei Etappen.
Die erste war, als mein Lektor meinte »So können wir das nicht machen!« und mir erklärte, nicht mit dem Lektorat anfangen zu können, bevor ich nicht den fehlenden Weltenbau nachholen würde, um die Geschichte fühlbarer, erlebbarer zu machen. Ich versuchte, nach allen Regeln der Kunst, eine Welt unterzuheben wie Eischnee, und empfehle niemandem, das nachzumachen – das Ergebnis blieb nichts halbes und nichts ganzes, die Welt, welche der Geschichte eine Grundlage hätte bieten sollen, fühlte sich an wie nachträglich drangeklatscht, und bei den Leser:innen fiel sie durch – nicht jedem machte das viel aus, aber alles war sich einig, dass der Weltenbau nicht die große Stärke dieses Buches war. Und als ich dann die beiden Fortsetzungen schrieb, konnte ich nur mit dem weiterarbeiten, was ich hatte – die Welt wurde fühlbarer, weil diesmal von Anfang an da, aber sie blieb der Schwachpunkt der Geschichte.
Ein Fehler, den ich nicht wiederholen wollte. Als ich 2019/20 mit der Arbeit an meinen »Tränenjägern« anfing, wollte ich es besser machen. Diesmal wollte ich mit dem weltenbau anfangen, so ausführlich und detailliert, wie das nur irgendwie geht, eine lebendige, dreidimensionale Welt erschaffen, kein Wort schreiben, bevor ich eine ausführliche Landkarte habe – und was ist draus geworden? Meine Figuren reiften, mein Plot wuchs, inzwischen habe ich den ersten Band fertig – eine Landkarte fehlt immer noch. Aber mein Problem geht noch weiter als das. Ich weiß nicht, was das sein soll, eine Welt.
Was nur auf einer Insel spielt, nur in einem Land, lässt sich leicht definieren. Aber die »Tränenjäger« ziehen im Lauf der Geschichte wirklich durch die ganze Welt. Was heißt das? Ist die Welt ein Planet, in einem Sonnensystem, in einem Universum? Immerhin, es gibt einen Mond, der spielt eine ordentliche Rolle in der Geschichte, kann sich sogar verfinstern – dann muss das doch ein Planet sein! Aber ich mag das Wort »Planet« nicht für das Setting eines High Fantasy-Romans benutzen. Es klingt mir zu sehr nach Science Fiction, Space Opera, etwas in der Art. Meine Welt ist eine Welt. Die Göttin Nuus, die Bienenmutter, hat sie erschaffen, indem sie das Ei gelegt hat, aus dem die Welt geschlüpft ist (Nuus hat auch 999 weitere Eier gelegt, die noch nicht herangereift sind und als Sterne im Himmel hängen). Und weil die Götter in dieser Geschichte eine tragende Rolle speielen, muss ich diese Schöpfung nicht als Mythologie betrachten, sondern als »So und nicht anders war es«.
Und wenn ich jetzt eine Karte male – ist das dann die ganze Welt? Was ist mit der Rückseite, die dem Götterhimmel abgewandt war, als Siru auf der Flucht die Tränen verlor und sie sich aus dem Himmel über die Welt ergossen haben? Wie alt ist meine Welt? Jahrmillionen? Jahrtausende? Hat es Tektoralverschiebungen gegeben? Vulkanische Aktivitäten? Wenn nicht, woher kommen dann Berge? Was ist mit anderen Völkern auf dieser Welt, die andere Religionen haben, andere Götter verehren, wenn nur Nuus die echte Weltenmutter ist? Wie soll es fossile Brennstoffe geben, wenn es nie Fossilien gegeben hat? Ich will eine Welt erschaffen, die greifbar ist, realistisch, fühlbar, besonders – und stehe mir nur selbst im Weg, auch vier Jahre später. Und auch wenn ich wirklich viele Welten erschaffen habe, fühle ich mich wie ein blutiger Anfänger, der nicht weiß, wie er es anstellen soll.
So viele Welten habe ich erschaffen – zum Beispiel das Lande Blau, in dem ich einen ziemlich komplexen Roman ansiedelte, die auch noch auf mehreren Zeitebenen spielen konnte, weil ich mir nicht nur zur Geographie des Landes Gedanken gemacht hatte (wie sich Klein Fritzchen Irland vorstellt), sondern auch zur Mythologie und Geschichte des Landes. Am Lande Blau arbeitete ich mehrere Jahre lang, das meiste davon existierte nur in meinem Kopf, ich zeichnete nie eine Karte dazu, selbst der Name erschien mir mehr wie ein Platzhalter, aber es war eine Welt. Sie lebte so lange, bis das Buch, das ich da spielen ließ, scheiterte, und ich niemals mehr zurückkam.
Ein anderes Land, das Land Hinter Den Weiden, kam über seinen Namen nicht hinaus, und das dritte Land, das während meiner Mittelstufenzeit entstand, war ein abstrakter Fiebertraum mit Namen »Pattertons Traum« – und wenn ich auch im Geiste in diesen Ländern spazierengehen konnte, blieben sie doch so wenig konkret, dass ich sie nicht mit anderen hätte teilen können. Aber das wollte ich auch nicht. Meine Welten waren Fluchtpunkte, und das mit dem Punkt konnte ich wörtlich nehmen, sie waren und blieben eindimensional. Ich schrieb viel in dieser Zeit, aber vor allem Krimis, die auf keinen Weltenbau angewiesen waren – und so blieben meine Welten und meine Geschichten lange zwei getrennte Dinge.
Eine Welt zum teilen, eine Welt zum Anfassen, entstand, als ich im Studium zusammen mit zwei Freundinnen gemeinsam einen Fantasyroman schrieb. »Die Öbba« wurde niemals fertig, aber dafür hatten wir eine richtig detailliert ausgearbeitete Welt. Es existierten sogar zwei Landkarten – die erste Fassung von meiner Freundin Monica gemalt, die zweite von mir, wobei ich die Landesgrenzen von Raköb und Asböb, getrennt durch den Fluss Twa, kurzerhand von den Kölner Stadtgrenzen abpauste, und ich mag die Idee immer noch: Das sah wirklich wie eine echte, historisch gewachsene Grenze aus, und die Anspielung auf Köln, wo wir studierten, war völlig legitim, weil das ganze Buch einfach nur aus Anspielungen auf unser Studium bestand. Ich erschuf das Land Asböb mit allem, was dazugehört, ich schrieb eine Verfassung, Volkslieder, und erstellte sogar mehrere Exemplare einer Tageszeitung.
Der Weltenbau war das eigentliche Highlight dieser Kollaboration, und es gemeinsam machen zu können, machte es zu etwas besonders schönem. Doch das, was ich allein schrieb, existierte wieder nur in meinem Kopf, kam ohne Landkarten aus, und als ich mit Monica im Anschluss an die »Öbba« noch eine ganz klassische Fantasywelt entwarf, in deren Mittelpunkt die Länder Angor und Gondria lagen, und diese Welt mit den Jahren auf mehrere Kontinente anwuchs und dort angesiedelte Geschichten einen Zeitraum von zwölfhundert Jahren abdeckten, wurde der weltenbau doch wie wieder so ein detaillierter Selbszweck wie zu Öbba-Zeiten, war die Welt mehr eine Kulisse, auf die um so weniger eingangen wurde, je mehr das Setting der Geschichte dem klassischen Fantasymittelalter entsprach – diesmal: wie sich Klein Fritzchen Wales vorstellt.
Da war die Welt so generisch, dass wir unser gemeinsames Projekt »Fenoriels Augen« schreiben konnte, ohne uns überhaupt mit weltenbaufragen aufhalten zu müssen – jede von uns beschrieb Orte, die zum Thema und zur Stimmung passten, und man hätte die Teile zu einem stimmigen, aber sehr beliebigen Ganzen zusammensetzen können, das nicht von jeder anderen Fantasymittelalterwelt unterscheidbar gewesen wäre. Auch meine »Flöte aus Eis«, der erste Roman, der wirklich fertig wurde, war in dieser Welt angesiedelt, hätte aber, zugegeben, auch überall anders spielen können. Interessant waren die Elfenvölker, die wir ausgearbeitet hatten, die Feen und Elben und Alifwin – die Welt selbst blieb generisch und erwachte erst zum Leben, als ich dort ebenfalls meine »Spinnwebstadt« ansiedelte und die Welt, dem Mittelalter entwachsen, plötzlich in einem Äquivalent unserer Achtzigerjahre angekommen war. Da schimmerte für einen Augenblick lang Brillanz durch. Aber eben nur für einen Augenblick.
Für die nächste Geschichte fing ich wieder bei Null an. Ich hatte genug in der Welt von Angria und Gondor angesiedelt, die Welt war für mich auserzählt, ich wollte etwas Neues – und ich erschuf, episch, für die »Chroniken der Elomaran«, eine ganz neue Welt. Aber da ging es los, die Frage »Was genau ist eine Welt?« Und ich malte eine Karte und sagte »Das ist sie«, und ich ließ sie flach sein und hängte sie zwischen zwei Abgründe. Sehr metaphorisch bediente ich mich des Orbitalmodells, das ich in der Oberstufenchemie gelernt hatte, und beschloss, dass diese Welt definitiv kein Planet ist, noch nicht einmal kugelförmig, sondern auf einer völlig anderen Wirklichkeitsebene spielt.
Diese Welt funktionierte so, wie ich sie erschaffen hatte, ganz gut. Aber das Modell kann ich nicht jedes Mal benutzen. Die Welt der Tränenjäger hängt nicht zwischen dem Obereren und dem Unteren Abgrund. Sie ist, ganz klassisch, weltenförmig. Und dabei könnte ich es belassen, nicht wahr? Denk dir Länder aus, denk dir Orte aus, mal eine Karte, nenn es Welt, sei glücklich. Wenn ich einen Fantasyroman lese, der mit einer Weltkarte ankommt, habe ich auch kein Problem, zu akzeptieren, dass dies die Welt, und die ganze Welt, ist. Ich sage nicht »Wir brauchen aber einen Planeten, dessen Masse mit der Erde vergleichbar ist, um eine vergleichbare Graviation zu haben, und brauchen dementsprechend eine mit der Erde vergleichbare Fläche«. Ich kann akzeptieren, dass die ganze Welt de fakto nur aus einem Kontinent besteht. Dass es auf der ganzen Welt nur eine Religion gibt und genau neun Götter …
Jetzt hänge ich zwischen zwei Extremen. Entweder, ich mache mir zu wenige Gedanken über die Welt, wie bei den Fälschern, oder ich zerdenke das Ganze komplett, wie jetzt bei den Tränen. Alles, was ich will, ist eine Landkarte, anhand derer ich die Reiseroute planen kann und den Plot der übrigen Bände. Kann das so schwer sein? Aber da stehe ich jetzt, metaphysisch-philosophisch herausgefordert