Es gibt Bücher, die schreibe ich in einem Rutsch runter, wie »Die gehörnte Prinzessin« oder »Geigenzauber«. Es gibt Bücher, die verbringen ein paar Jahre in Arbeit und liegen dann noch mal auf der Halde, bis ich einen Schluss für sie zustandegebracht habe. Und dann gibt es Bücher, die werden und werden nicht fertig, auch nach über zehn Jahren nicht, und lassen einen doch nicht los. So ein Buch ist »Lichtland«.
Es ist ein bemerkenswertes Buch. Eines, das im Gedächtnis bleibt. Noch Jahre, nachdem ich schon längst nicht mehr aktiv an dem Buch schrieb, fragte meine Mutter danach. Nicht, ob ich noch daran arbeitete – sondern um sicherzustellen, dass ich es nicht tat. Wenn ich ihr von einer neuen Idee erzählen wollte, kam mit gewisser Wahrscheinlichkeit ein »Aber an dieser Licht-und-Dunkel-Geschichte schreibst du nicht mehr, nein?« Und dann war sie erleichtert, wenn ich das bestätigte. Ich freue mich, wenn meiner Mutter meine Bücher gefallen, und ich halte wirklich große Stücke auf ihre Kritik. Aber ich würde jetzt nicht so weit gehen, zu sagen, dass ich nur für sie schriebe. Oder dass es ein Todesurteil ist, wenn sie einmal ein Buch von mir nicht mag. Denn so wenig das Konzept von »Lichtland« meine Mutter überzeugen konnte, so sehr liebe ich das Buch und seine Figuren. Vor allem eine. Und weil dieses Buch lange, laaaaange liegen kann, ohne vergessen zu werden, arbeite ich jetzt wieder dran.
Angefangen habe ich »Lichtland« im November 2007, als ich meinen zweiten Nanowrimo schrieb. Damals hatte ich noch nicht so viele Werke in Arbeit wie heute, und damals fühlte es sich noch wie eine größere Sache an, ein neues Projekt in Angriff zu nehmen – die Liste meiner fertigen Bücher war deutlich kürzer als jetzt, und ich wollte nicht einfach etwas anfangen, das am Ende nicht fertigwerden würde, aber es war Nanowrimo, und das Regelwerk sagte klipp und klar, dass man am 1. November ein neues Buch anfangen musste, und wer wäre ich denn, mich einer Regeln zu widersetzen? So schwor ich mir, dass das neue Buch innerhalb eines Jahres fertig zu sein hätte, sonst dürfte ich im drauffolgenden Jahr keinen Nano schreiben … Ich lache immer noch bei der Vorstellung. Fast sechzehn Jahre später ist »Lichtland« immer noch nicht fertig, und ich habe viele Nanos seitdem geschrieben, viele neue Bücher angefangen und auch viele fertiggeschrieben, und mein Herz schlägt immer noch für dieses Buch.
»Lichtland« spielt in einer Welt, die von meiner eigenen psychischen Erkrankung inspiriert ist. Heute lebe ich mit der Diagnose »schizo-affektive Psychose«, aber damals stand eine bipolare Störung im Raum (nicht ungewöhnlich, es können Jahre bis zur endgültigen Diagnose vergehen, und selbst die, die ich jetzt habe, muss nicht in Stein gemeißelt sein). Bipolar ist auch die Welt, in der das Buch spielt: Es gibt helle und dunkle Länder, und sowohl Licht als auch Dunkel sind absolut, und keines von beidem ist gut. In meiner Interpretation entspricht das Licht den manischen Episoden, die als etwas Positives wahrgenommen werden, und das Dunkel den depressiven Phasen – aber das ist wirklich nur die Metaebene, mein Ansatz für die Geschichte, und der Grund, warum ich es, kurz nach meiner ersten Psychose, unbedingt schreiben wollte. Auch wenn meine Mutter mit der Idee nicht viel anfangen konnte.
Die hellen und die dunklen Länder sind einander spinnefeind, aber es gibt eine Prophezeiiung, dass einer kommen wird und dem immerwährenden Kampf zwischen Licht und Dunkel (gell, ich lasse hier echt keine Tropes aus!) ein Ende setzen . In der ersten Version des Buches, 2007, ist dieser Auserwählte Nomi, und er lebt sein Leben in dem Wissen, dass er derjenige welche ist. Er ist ein ziemlich verwöhntes Stück, spielte seine Freunde gegeneinander aus um die Ehre, ihn auf seiner Queste zu begleiten, und leidet zugleich unter der Erwartungshaltung, die ganze Welt retten zu müssen. Er lebt zwar in einem hellen Land, aber er kokettiert damit, dass die Prophezeiung sich nicht darüber auslässt, auf welcher Seite der Auserwählte steht, und wenn er nicht seinen Willen bekommt, dann wird er sich vielleicht für das Dunkel entscheiden … Kurzum, der 2007er Nomi war ein rechtes Aas. Ich mochte ihn trotzdem, aber noch mehr mochte ich den geheimnisumwitterten Flötenspieler Shen, der plötzlich in Nomis Leben tritt und ihn dazu bringt, alles, woran er jemals geglaubt hat, zu hinterfragen. Und an dessen Seite Nomi dann aufbricht, nur um zu erfahren, dass er selbst nur im Licht existieren kann und ein anderer wird, wenn er die Grenze zum Dunkel überschreitet …
Der Nanowrimo 2007 lief gut, ich fuhr den Sieg ein, doch das Buch war noch lange nicht am Ende – am letzten Tag des Nanos war Nomi gerade an der ersten Grenze angekommen, und das Buch, darauf ausgelegt, dass Nomi/Imon sich von Land zu Land bewegen sollte wie über ein Schachbrett, hatte noch nicht einmal richtig angefangen. Meine Bücher werden ja gerne mal was dicker, oder enden gleich als Mehrteiler. »Lichtland« sollte, so der ursprüngliche Plan, in einem Band abgeschlossen sein. Fragt mich das später noch mal. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann ich nichts zum Umfang dieses Buches sagen. Aber wenn es eine Trilogie werden sollte, bin ich der letzte, sich darüber zu beschweren …
Ich liebte »Lichtland«. Aber nach dem Nano schlief die Arbeit daran ein bisschen ein. Imon, Nomis anderes Ich, war nicht Nomi, an den ich mich gewöhnt hatte, und ich brauchte zu viele Anläufe, mich der Figur anzunähern. Die dunklen Länder mit ihrer pechschwarzen Finsternis waren zu abstrakt zum Beschreiben und überforderten mich. Und mein Plot hatte auch nur bis zu dieser ersten Grenze gereicht … Trotzdem arbeitete ich daran, immer mal wieder ein bisschen, wollte das Buch im Nanowrimo 2014 noch mal mit neuem Leben füllen, und musste feststellen, dass es sich überholt hatte. Ich hatte mich in der Zwischenzeit so sehr weiterentwickelt, dass ich in die alte Geschichte nicht mehr hineinkam, ich war nicht mehr die Maja von 2007, und mir gefiel zu vieles an der Geschichte nicht mehr. Nach nur einem Tag brach ich den Nano ab und wechselte das Projekt. Sollte dies das Ende von »Lichtland« sein? Es sah schwer danach aus. Und doch liebte ich das Buch noch immer …
2015, wieder wurde es Nano, tat ich etwas, das ich bis dato noch nie getan hatte. Ich kloppte alles, was ich an dem Buch geschrieben hatte, in die Tonne – schmerzlich, denn es waren über 350 Seiten, und nicht alles daran war schlecht – und fing noch mal komplett von vorne an. Ich behielt das Konzept der hellen und dunklen Länder, ich behielt einen Großteil der Figuren, aber ich änderte vieles. Der Nomi von 2015 hat keine Ahnung, dass er der Auserwählte ist. Er lebt mit einem großen Geheimnis – sein Schatten, von dem niemand wissen darf, in einer Welt, in der es keine Schatten gibt, weil Licht wie Dunkel jeweils überall sind – und muss mit dem Misstrauen der Leute leben, die ahnen, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Der 2015er Nomi ist ein deutlich umgänglicherer Charakter als der kleine Kotzbrocken von 2007. Auch er zweifelt, sehnt sich nach der Dunkelheit – aber das Buch wurde nuancierter, reifer, weniger plakativ als bei seinem ersten Auftritt, ganz so, als wäre ich selbst in der Zwischenzeit acht Jahre älter geworden.
Der Nanowrimo 2015 ließ sich gut an. Ich schrieb zwei Bücher, »Lichtland« und »Die Spiegel von Kettlewood«, und legte mit beiden einen guten Start hin. Die neuen Szenen für »Lichtland« waren super, ich liebte das Buch wieder wie am ersten Tag, alles war bestens – dann fuhr ich für ein paar Tage nach München, um dort eine Lektorin zu treffen, die an meiner »Gauklerinsel« interessiert schien, verkaufte stattdessen mit einem Spontanpitch meine bei erst rund 10.000 Wörtern stehenden »Spiegel von Kettlewood«, rutschte darüber aus dem Schreiben raus, und kam, nachdem ich einmal einen Rückstand eingefahren hatte, nicht mehr rein. Zu schwer wog die Frage »Was habe ich mir da nur eingebrockt?«, ein unfertiges Buch verkauft zu haben, zu groß war plötzlich die Angst, das Buch vor die Wand zu fahren … Und so endete der Nanowrimo 2015 zwar mit einem verkauften Manuskript, aber nanomäßig einer doppelten Niederlage. Irgendwas knapp über 30.000 Wörter hatte das neue »Lichtland«, weniger als die Hälfte des alten, und ich schrieb nicht weiter daran. Nicht nur 2015 nicht mehr – auch in keinem der folgenden Jahre.
Immer wieder tauchte es auf meinen To-Do-Listen auf, immer wieder nahm ich mir vor, daran weiterzuarbeiten, aber ich schaute mir das Manuskript nicht einmal an, geschweige denn schrieb ich daran. Irgendwann war ich dann so weit, dass ich dachte, ich müsste bis zum Nanowrimo 2023 warten, ehe ich wieder etwas daran machen könnte, genau alle acht Jahre an dieser Geschichte arbeiten … Aber ehrlich, ich bin gerade achtundvierzig geworden, und ich will dieses Buch noch innerhalb meiner Lebensspanne fertigbekommen, und ich bin keine Fee, die nur alle so-und-so-viel Jahre in die Welt von Licht und Dunkel eintauchen darf, und ich hatte JETZT Bock auf diese Geschichte und keine Lust, noch bis zum November darauf zu warten.
So habe ich mich hingesetzt und mein Material gesichtet. Und ich hatte echt Angst davor. 2015 war mein acht Jahre alter Text nicht mehr zu verwenden, bis auf wenige Szenen, die ich adaptieren konnte. Wie würde mein nun ebenfalls acht Jahre alter Text im Jahr 2023 aussehen? Aber ich hatte Glück. Klar, der Text ist überarbeitungsbedürftig. Es ist eine Rohfassung aus dem Nanowrimo. Doch es gefiel mir. Durch und durch. Es gefiel mir – und es irritierte mich. Denn ich vermisste eine lange Szene, von der ich mir sicher war, sie geschrieben zu haben. Ich hatte sie genau im Kopf. Aber offenbar hatte ich sie 2015 übersprungen. Jetzt konnte ich an genau der Stelle einsetzen. Und es war, als wäre ich nie weggewesen.
Nomi war sofort wieder da. Shen, der eine sehr spezielle Figur ist, brauchte ein kleines bisschen mehr Anlauf und war dann doch wieder sein altes enigmatisches Selbst (Shen liebe ich so sehr, dass ich ihn von 2007 nach 2015 nahezu unverändert hatte übernehmen können, und ich liebe ihn ungebrochen auch heute noch). Ich flickte das Loch, das zwischen den bereits geschriebenen Kapiteln vier und sechs klaffte, und jetzt schreibe ich Kapitel sieben, habe neue Ideen und Plotwendungen, an die ich vor acht Jahren noch nicht gedacht habe und vor sechzehnen erst recht nicht, und bin wieder mittendrin in dieser Geschichte, die mich niemals so wirlkich losgelassen hat.
Und ich denke, das Buch könnte jetzt sogar meiner Mutter gefallen.