Wenn man ein Buch fertig hat, gibt es nichts Schöneres, um einen wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen, als die Erinnerung an ein Buch, das es nicht geschafft hat – das krachend vor der Wand gelandet ist oder still schlafend von uns gegangen. Ich bin immer noch mehr der große Romanruinierer denn der große Romanfertigsteller, und ausgerechnet dann, wenn ich was fertiges zu feiern habe, kommt das wieder hoch bei mir – vorzugsweise, wenn ich versuche, etwas zu finden, das die Lücke füllen soll, die das fertige Buch hinterlassen hat. Und was wäre ein besserer Kandidat für meinen Romanfriedhof als ein Buch, das nie etwas anderes sein sollte als ein Lückenbüßer?
Im Februar 2011 hatte ich ein Problem: Ich hatte ein Buch fertiggeschrieben, und es war das beste Buch der Welt. Selbst heute noch ist meine »Gauklerinsel« eines meiner absoluten Lieblingsbücher, und die sieben Jahre, die ich daran arbeiten durfte, waren eine wirklich schöne Zeit. Bei keinem anderen Buch war ich so dermaßen traurig, das Wort »Ende« unter die Geschichte zu setzen, bei keinem anderen hat es sich so angefühlt, als ginge mit Fertigstellung des Manuskripts eine Ära zu Ende. Und auch wenn ich andere, gute Bücher in Arbeit hatte – darunter das »Gefälschte Siegel« oder das ganz frisch geplante »Puppenzimmer« – wollte ich einen Ersatz für die »Gauklerinsel«, etwas, das diese Lücke in meinem Herzen füllen sollte. Und auch wenn ich weder Plot noch Plan hatte, machte ich mich ans Werk.
Ich begann mit dem ältesten Trope, das ich kannte: Dem Aufhänger, ein Rollenspielabenteuer auf einem Con anzubieten, ohne etwas vorbereitet zu haben – ganz ohne fertige Charaktere, ohne Spielleitermaterlien, konnte man anfangen mit »Du wachst auf, du fühlst dich scheiße«, und dann sehen, was passiert. Spieler lernen ihre Figuren kennen, Spielleiter die Gruppe, man schaut, was kommt, und hat am Ende eher nicht die Welt gerettet, aber dafür eine Menge Spaß gehabt. Und Spaß war genau das, was ich gerade brauchte. Denn ich war nicht nur durch das Ende der »Gauklerinsel« in ein Loch gefallen. Hinzu kam auch, dass ich mich danach sehnte, endlich eine veröffentlichte Autorin zu werden – und auch wenn ich seit über zwei Jahren bei meiner Agentur war, noch nichts von mir vermittelt worden war.
Absagen über Absagen, mittendrin ich, umgeben von Autorenfreunden, die alle Verträge unterschrieben, die ihre Debüts erscheinen sahen, und ich war, zugegeben, neidisch. Es sollte noch bis Ende 2012 dauern, ehe auch ich einen Vertrag für ein Ebook unterschreiben durfte, und bis 2018, ehe ich ein erstes gedrucktes Buch von mir in Händen halten durfte. All das war 2011 noch nicht abzusehen. Alles, was ich sah, waren die Absagen – und auch wenn mir die »Gauklerinsel« das Liebste Buch der Welt war, hielt ich sie für so unvermittelbar, dass ich es erst mal gar nicht versuchen mochte, überzeugt, dass das, was ich liebte, sich ohnehin nicht verkaufen würde. Ich wollte mir und diesem Buch die Zurückweisung ersparen. Stattdessen boten wir meine ebenfalls frisch fertiggewordene Romantasy »Geigenzauber« an, die ich für markttauglich hielt und auf die ich alle meine Hoffnungen setzte.
Ich hätte hingehen können und versuchen, noch markttauglicher zu schreiben, voll am Puls der Zeit, aber ich wollte das Gegenteil, ein Buch, das nur mir allein gehören sollte und das ich für niemand anderen schreiben wollte als mich selbst. So wie die »Gauklerinsel«, nur ganz anders, denn die »Gauklerinsel« gab es schließlich schon. Und so nahm ich alles, was ich liebte, und schmiss es in einen Topf. Eine komplett verkorkste Hauptfigur. Große Mengen an Alkohol. Geister. Mehr Alkohol. Gift. Unsterbliche und Untote … Ich schrieb einfach drauflos, hauptsache Spaß, und so, wie die allerersten Szenen, die ich für die »Gauklerinsel« geschrieben hatte, mit Roashan anfangen, der mit einem Filmriss zu sich kommt und sich scheiße fühlt, passierte das gleiche nun mit Damon Rickard, der sich in einem abgeranzten Partykeller, umgeben von schlafenden Fremden, wiederfindet und schnell vor die Tür muss, um den Geist loszuwerden, der allmorgentlich in seiner Brust geboren wird und der auf die erste Person übergeht, die Damon berührt.
Und ich hatte Spaß mit dem Buch. Gerade weil es als reines Spaßprojekt konzipiert war, schrieb es sich wie von selbst – die Geschichte von Damon, der einen Pakt mit dem Geisterfürsten abschließt, nachdem er im Internet danach gegoogelt hat, wie das geht, und der sich fortan an Reichtum und Unsterblichkeit erfreuen darf, wenn er im Gegenzug der Geisterwelt hilft, sich auszubreiten, war komplett wirr. Damon, der mit seinem besten Freund Dylan eine herrschaftliche Villa bewohnt, weil ich die Vorstellung mochte, dass sie einen Weinkeller haben, und Klavierstunden gibt für ein unausstehliches kleines Mädchen namens Anastacia, genannt Nasty, war einfach eine Figur nach meinem Geschmack und sonst nichts. Dylan, der geheimnisumwitterte Zyniker, ebenfalls.
Ich hätte Tag um Tag aus ihrem Leben beschreiben können und sie Darjeeling-Tee, Gurkensandwiches und Sherry konsumieren lassen, dass es nur so eine Freude gewesen wäre – aber ich mochte kein Buch ohne Plot schreiben. Gerade weil es für mich selbst war, sollte es so richtig vertrackt und raffiniert werden, wie das nur irgendwie ging – und ich verhedderte mich komplett. Spätestens, als auch noch der rätselhafte Gideon Fitch, Esq., auftrat und Damon aufforderte, die Welt zu retten, wusste ich nicht mehr weiter. Ich behalf mich mit einem Trick, ließ Fitch an vergiftetem Sherry sterben und verwandelte ihn in einen Zombie, indem Damon seinem leblosen Körper den nächsten Geist einpflanzte (während auch noch Damons Eltern zum Zufallsbesuch vorbeischauten) – aber ich musste mir zunehmend eingestehen, dass ich mein eigenes Buch nicht verstand.
Ich war wie an eine Rollenspielrunde an dieses Buch herangegangen – an eine, in der ich selbst Spieler war, nicht Spielleiter, und wo sich das Buch bis zu einem gewissen Grad von allein schreiben konnte, während ich Ideen um Ideen hinterhersprang, merkte ich doch mehr und mehr, dass ich zumindest ein Konzept gebraucht hätte, um dieses Buch am Leben zu halten. Bei der »Gauklerinsel« hatte das zwar ähnlich begonnen – aber dieses Buch hatte Jahre gehabt, um langsam zu reifen und sich zu entwickeln, Jahre, in denen ich nur jeweils ein, zwei Kapitel geschrieben und ansonsten gemütlich vor mich hingeplottet habe, während ich »Geistersaat« in einem Rutsch runtergeschrieben habe, ob da nun Plot war oder nicht. Vielleicht hätte es besser funktioniert, wäre das Ganze in einem Nanowrimo passiert, oder hätte ich mit Betalesern austauschen können – aber so war es ein Buch von mir, für mich, Schleife drum und fertig … Und auch wenn es seine Momente hatte, war es eines nicht: Ein gutes Buch.
Aus »Geistersaat« war »Geistersalat« geworden: Ein Spaßprojekt nicht mehr in dem Sinn, dass es mir Spaß machte, sondern dem, dass ich es selbst nicht ernstnehmen konnte. Und damit war es das genaue Gegenteil zu den Gauklern geworden. Die hatten planlos begonnen, aber dabei einen Tiefgang entwickelt, den ich so schnell nicht wieder erreicht habe. Eine lustig geschriebene, dabei bitter ernste Geschichte. All das war »Geistersaat« nicht. »Geistersaat« war nur lustig. Es machte Spaß, solange es rund lief. Aber als es das nicht mehr tat, als ich schneller geschrieben hatte, als der Plot mitwachsen konnte, und ich buchstäblich ohne alles dastand, da wurde mir klar, das war nicht meine neue große Liebe. Das war nur ein Lückenbüßer. Ein Urlaubsflirt zwischen zwei geliebten Werken. Die »Gauklerinsel« war eben nicht so leicht zu ersetzen. Nicht in meinem Herzen. Und erst recht nicht als Buch.
»Geistersaat« sollte am Ende daran sterben, dass ich keinen Plot mehr hatte, aber das stimmt so nicht. »Geistersaat« lebte davon, niemals einen Plot gehabt zu haben, immer nur in den Tag hinein geschreiben worden zu sein, ohne jemals zu wissen, was noch kommen sollte. In dem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass das Buch, als ich irgendwann die Arbeit daran einstellte, es immerhin auf knapp 200 Seiten gebracht hatte. 200 Seiten, ohne jemals Plot gehabt zu haben – das habe ich seitdem nie wieder geschafft, und ich habe es auch nicht vor. Ich habe nie wieder ein Buch angefangen, für das ich noch nicht einmal ein Konzept hatte. Ich brauche keinen ausgefeilten Plot, im Gegenteil. Aber nur auf Basis von »Du wachst auf, du fühlst dich scheiße« kann man eben doch kein Buch schreiben.
Es sollte bis 2016 dauern, bis ich noch einmal wirklich so verknallt in ein Buch war wie damals in meine Gaukler – ein Buch, bei dem ich mir vorgenommen habe, es ganz, ganz langsam zu schreiben, um so lang wie möglich etwas davon zu haben. Das war meine »Traumstadt«, und den Vorsatz, dass das Buch nicht fertig werden soll, habe ich seitdem eingehalten. Ich sollte mal wieder daran arbeiten, bevor die Geschichte ganz einschläft. Das ist der Nachteil, wenn man zu lange an einem Buch arbeitet, es läuft in Gefahr, hinten runter zu rutschen, während andere Bücher das Rampenlicht stehlen. Aber auch dieses Buch schreibe ich in erster Linie für mich selbst. Es hat eine total verkorkste Hauptfigur, Drogen, Sex – und Tiefgang. Nur lustig ist es überhaupt nicht. Muss es ja auch nicht sein.
Und »Geistersaat«? Heute, anlässlich dieses Blogartikels, habe ich versucht, das Manuskript noch mal zu lesen, und es ist mir nicht gelungen. Dafür, dass ich dieses Buch doch mir auf den Leib geschrieben habe, kann ich heute herzlich wenig damit anfangen, es ist verkrampft witzig, über weite Strecken peinlich, und nicht wirklich gut gealtert. Aber ich habe es ja vor allem für den Schreibspaß geschrieben, nicht für den Lesespaß. Dylan und Damon aber haben mir noch lange über die Arbeit an »Geistersaat« hinaus Freude bereitet – nicht mehr als Romanfiguren, sondern im Computerspiel »Die Sims 3«, wo sie eine lustige Wohngemeinschaft mit Geisterfotograph Percy und seinem Freund Howard hatten. Da hat man auch keinen Plot. Braucht man da aber auch nicht. Damon wurde ein begnadeter Musiker, zeugte ein illegitimes Kind im Frankreichurlaub, heiratete doch endlich Dylan – und mit Geistern hatte er nie wieder irgendwas am Hut.