Buchschlusspanik

Beim Schreiben habe ich Sachen, die ich wirklich gut kann und an denen ich Spaß habe – und Sachen, die mir weniger liegen und die ich als meine persönlichen Schwächen empfinde. Das gilt zum Beispiel für Kampfszenen – richtig dramatische, actionlastige Kampfszenen kann ich nicht, fühle mich damit nicht wohl, und produziere Szenen, mit denen ich nicht zufrieden bin. Das lässt sich zum Glück ganz einfach lösen: Dann schreibe ich eben keine Kampfszenen. Ich darf dann nur nicht den Fehler machen, wie mit Lorcan in der »Neraval-Sage« einen hauptberuflichen Kämpfer in meiner Heldengruppe zu haben, denn ein Kämpfer sollte schon ab und zu mal was zu kämpfen bekommen. Aber daraus habe ich gelernt. Solche Kämpfertypen spiele ich gern in Rollenspielen, sei es am Computer oder im Pen-and-Paper-Bereich, aber als Autor überlasse ich sie jetzt lieber anderen. Problem umschifft.

Aber bei einer anderen Sache, mit der ich mich schwertue, kann ich das nicht. Ich schreibe nicht gern Enden. Und wenn ich das löse, indem ich meine Bücher einfach nicht enden lasse – dann schreibe ich nichts mehr fertig, dann habe ich nichts mehr zum Veröffentlichen, und dann kann ich als Berufsautor meinen Hut nehmen. Vor allem, wenn ein Buchprojekt schon so weit gediehen ist, dass das Ende an der Reihe ist, sollte ich schon zusehen, dass ich das gebacken bekomme. Aber es ist immer wieder das selbe: Ich habe so große Angst, mit einem missratenen Ende das ganze Buch runterzuziehen, dass ich mir selbst im Weg stehe, und wenn ich dann auch noch Zeitdruck habe, einen Abgabetermin im Nacken, dann ist die Verzweiflung groß.

Meine Angst ist nicht unbegründet. Zu oft haben die Enden meiner Bücher der Leserschaft einfach nicht gefallen. Der Schluss vom »Puppenzimmer«, das Ende des »Gefälschten Siegels« – da will ich überraschen, das Buch auf eine Weise ausgehen lassen, mit der niemand gerechnet hat, und enttäusche am Ende diejenigen, die auf einen andere Schluss gehofft hatten. Meine Plots sind komplex, ich arbeite mit vielen losen Enden, die ich dann kunstvoll unter einen Hut bringen muss – aber gleichzeitig gehe ich intuitiv ans Schreiben heran, plotte zu wenig im Vorfeld und lasse es tageweise drauf ankommen, wie es weitergeht, und das ist nicht die beste Kombination, um ein tolles Ende zustandezubringen.

Das heißt nicht, dass ich es nicht kann. Das Ende der »Stadtkinder«, zum Beispiel, halte ich für eines der besten, die ich je geschrieben habe. Das Ende der »Spiegel von Kettlewood Hall« hat eine Wendung, auf die ich mächtig stolz bin – und wird dann dadurch runtergezogen, dass der Verlag ein Happy End verlangt hat, während meine Lektorin und ich einen Schluss bevorzugt hätten, in dem Iris ihren Victor in die Wüste schickt. Und auch so einen Schluss habe ich schon mal geschrieben, im »Glasaugenhaus« – dem dann aber ein eher ungelungener Showdown vorausgegangen ist.

Überhaupt, der Showdown! Das ist das, was mir besonders schwer fällt. Dramatisch soll er sein, überraschend, ein Höhepunkt des Buches, eine Katastrophe im Sinne des klassischen Dramas – und wenn man dann keinen Plan hat, was überhaupt passieren soll, sieht man alt aus. Das sind Momente, da wünschte ich mir, ich wäre doch mehr Plotter und weniger Bauchschreiber – was dann aber bei mir zu anderen Problemen führt, denn wenn der ganze Plot schon im Vorfeld steht, ist das eigentliche Schreiben nur noch Arbeit, macht mir keinen Spaß mehr, und gestaltet sich entsprechend zäh. Ist also auch keine Patentlösung. Neunzig Prozent des Buches schreibe ich aus dem Bauch raus in meiner Wohlfühlzone, Szene für Szene, erfreue mich daran, wie sich das Buch entwickelt und mich selbst immer wieder überrascht – und dann kommt der Schluss und zieht mir buchstäblich die Beine weg.

Zu oft habe ich diese Situation ausgesessen. Habe unmittelbar vor dem Schluss, während ich eigentlich den Showdown hätte schreiben sollen, die Reißleine gezogen, das Buch auf Eis gelegt und ein Jahr oder noch länger nicht mehr angeschaut, um dann, viel, viel später, mit frischem Kopf an das Plotproblem ranzugehen. So war das beim »Glasaugenhaus«, bei »Geisterlied«, auch bei »Unten« – und diese Bücher haben alle Enden bekommen, die ich für grundsätzlich gelungen, aber nicht meine Besten halte, und ob die Liegezeit jetzt viel geholfen hat, wage ich zu bezweifeln. Das ist nur Feigheit von meiner Seite, mich nicht wirklich mit der Problematik auseinanderzusetzen, sondern zu versuchen, das Ende auszusitzen, als ob es sich leichter schreibt, wenn ich die Hälfte des Buches schon wieder vergessen habe und überhaupt erst mal wieder in die Geschichte reinkommen muss.

Jetzt ist es also mal wieder soweit, und das im gemischten Doppel. Zwei Bücher haken und klemmen in ihrem Showdown – und das eine der beiden, »Owls End«, ist inzwischen verkauft, soll im kommenden Winter bei dotbooks erscheinen, und sollte dafür wirklich ein Ende haben. Wobei, ein Ende hat das Buch ja schon, und eines, das mir wirklich gut gefällt – aber den Showdown, wie wir dahin kommen, habe ich gnädig übersprungen, da fehlen zwei Szenen, die Arbeit weniger Tage, und ich habe mich statt dessen auf meine »Neunte Träne« gestürzt, als gäbe es kein Morgen – habe von Anfang März bis jetzt wie ein Wilder an dem Buch geschrieben, Kapitel um Kapitel, mehr als achtzigtausend Wörter am Stück, sowas hatte ich echt noch nie – und habe in der Zeit nicht nur das, was ich während der letzten beiden Jahre geschrieben habe, verdoppelt, sondern ziemlich ungeplant das Ende erreicht.

Und da steh ich jetzt. Auf zwanzig Kapitel ist das Buch ausgelegt, und ich bin allen Ernstes beim Achtzehnten Kapitel angekommen, bis mir aufgefallen ist, dass ich keine Ahnung habe, wie das Buch ausgehen soll. Ich will mich nicht beschweren – ich bin überglücklich, dass ich mit dem Buch so gut vorangekommen bin. Im März hatte ich einfach einen wirklich guten Lauf, den Schwung wollte ich dann in den April mitnehmen, im April ist außerdem Camp Nanowrimo, da dachte ich, da könnte ich nach mehreren Jahren Pause mal wieder teilnehmen … Und so habe ich geschrieben und geschrieben, in Gedanken immer genau eine Szene voraus, mit großem Vergnügen und sehr wenig Geächzte. Also genau so, wie es sein sollte, wenn man an einem Buch Spaß hat. Bis mir dann das Ende buchstäblich in den Weg gesprungen ist und mich von den Beinen geholt hat.

Klar weiß ich, wie das Buch ausgehen soll. Sie finden die erste Träne und machen sich auf den Weg zur nächsten – und wo die Träne ist und wer sie hat, das weiß ich auch. Nur habe ich mir eine Situation konstruiert, in der meine verhinderten Helden nicht einfach so an sie drankommen. Die Truppen des Königs belagern den Tempel, und da dräuen sie wieder, die epischen Schlachten, die ich doch lieber vermeiden wollte – und überhaupt, das ist eine Gaunergeschichte, sie sollen die Träne mit einer großen List erringen, und diese List ist mir gerade sehr fern – aber mein Hauptproblem ist ein anderes. Mein Hauptproblem heißt, wieder einmal, Kell.

In diesem Buch arbeite ich mit drei Erzählperspektiven. Da sind die beiden Diebe, Kamu, der lebendige, mindertalentierter Azubi, und Arnnis, Geist, Meisterdiebin (außer Dienst, weil tot). Und da ist Kell, die ehemalige Küchenmagd, verhinderte Ritterin, gerade frisch aus dem Tempel geflohen. Und Kell darf nicht in den Tempel zurück. Kell darf nicht wissen, dass Andreu ihr Bruder ist, darf nicht wissen, was ihr guter Beichtvater in Wirklichkeit ist, die ganze Planerei läuft hinter ihrem Rücken ab – und wenn ich es nicht schaffe, Kell irgendwie wieder aktiv in die Geschichte einzubetten, läuft das letzte Viertel meines Buches unter Ausschluss einer der Hauptfiguren ab. Und das geht nicht. Da verstoße ich gegen alle Regeln der Dramaturgie, da verliert mein Buch eine Plotlinie, die ich mühsam aufgebaut und parallel zum Rest des Buches durchgezogen habe, lasse das alles im Sand versickern …

Aber was soll ich tun? Das Buch baut darauf auf, dass Kell diese Sachen eben alle nicht weiß, dass sich Andreu beinahe zugrunde richtet, weil er es nicht über sich bringt, sich als ihr Bruder, an den sie keine Erinnerungen hat, zu offenbaren, und Kamu irgendwann Nägel mit Köpfen macht und Kell reinen Wein einschenkt, weil er das Trauerspiel nicht mehr erträgt. Diese Szenen sind sogar schon geschrieben, in den ersten Band passen sie nicht mehr rein, also kommt das irgendwann im zweiten Buch – nur, was mache ich bis dahin mit einer Perspektivträgerin, die nicht mehr da ist, wo die Handlung ist? Hinten wie vorne passt es nicht zusammen und beschert mir Kopfschmerzen und schlaflose Nächte …

Und die Lösung ist nicht, das Buch ein Jahr lang liegen zu lassen und dann weiterzuwurschteln. Die Lösung ist, einen Schritt zurück zu machen, sich von eingefahrenen Ideen zu verabschieden, und sich dann auf die Dramaturgie zu besinnen. Ich schreibe hier zweierlei in einem: Ich schreibe den ersten Band eines Mehrteilers, der in aufeinander aufbauenden Büchern eine fortlaufende Handlung erzählt. Ich schreibe aber auch ein einzelnes Buch, das aus dramaturgischen Gründen mit einer geschlossenen Bandstruktur daherkommen sollte. Ich will nicht den Fehler vom »Gefälschten Siegel« wiederholen, in dem die Handlung am Ende buchstäblich abriss – ich will einen Bogen schließen. Und der Handlungsbogen vom ersten Band, der rote Faden, ist die Geschichte von Kell,  von ihren (falschen) Erinnerungen und von Vater Dumitru. Und diesen Bogen sollte ich auch in diesem Buch schließen. Nicht erst irgendwann im zweiten. Struktur, und so.

Also, alles auf Anfang. Kell wird nicht nur zurück in die Handlung geholt – sie wird zu ihrem Dreh- und Angelpunkt. Die beiden Szenen, die ich bereits geschrieben habe – die beiden Szenen, mit denen ich Anfang März überhaupt erst wieder in dieses Buch zurückgefunden habe, losgelöst vom Rest der Handlung, eine Szene, in der Kamu Andreu darauf festnagelt, dass Kell seine Schwester ist, und eine spätere Szene, in der Kamu es dann Kell verrät – die wandern in den Ordner »Verworfenes«. Stattdessen haut Kell, die durchaus wahrnimmt, dass da Sachen hinter ihrem Rücken ablaufen, noch im ersten Buch, und zwar schon im nächsten Kapitel, auf den Putz, erfährt dann von Andreu selbst, dass der ihr Bruder ist, und lernt dann auch schon, was es mit Dumitru auf sich hat. Dumitru ist nicht der Endgegner der Reihe, dafür habe ich den gefallenen Gott Kalva, er ist der Levelboss des ersten Bandes – und er ist, wenn überhaupt, Kells Gegner. Sie sollte selbst mit ihm fertigwerden …

Und da stehe ich jetzt. Einen Tag, bevor ich das nächste Kapitel beginne, habe ich Plot dafür. Das strukturelle Problem ist aus dem Weg, die Hauptfigur wieder im Mittelpunkt der Handlung, und ich weiß, wie mein Buch ausgeht. Problem gelöst, und nicht erst in einem Jahr, einfach durch Hinsetzen und nachdenken. Jetzt muss ich das nur noch schreiben. Und dann – dann muss ich das gleiche Prinzip noch mal wiederholen. Diesmal mit »Owls End« …

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