In diesem Blog geht es meistens um Bücher, die ich schreibe, oder Bücher, die ich schreiben will. Heute will ich mich mal der Frage stellen, was mit den Büchern ist, die ich eben nicht schreiben möchte.
Als ich 2011 das »Puppenzimmer« geschrieben habe, hatte ich mir die Option auf eine Fortsetzung bewusst offengelassen. Ich hatte ein offenes Ende, vor allem die Frage, ob und wenn ja wie die Puppen erlöst werden könnten, stand noch im Raum, und als das Buch dann 2013 erschien, wurden auch schon relativ bald Fragen nach einer Fortsetzung laut. Eine Rezensentin warf mir sogar vor, das Ende mit Absicht so offen gelassen zu haben, um auch noch meine Fortsetzung verkaufen zu können – nur, dass diese Fortsetzung noch nicht existierte.
Ich hatte zu dem Zeitpunkt immerhin eine Idee für eine Fortsetzung. Die sollte während des Zweiten Weltkriegs spielen und von drei Waisenmädchen handeln, die während der deutschen Luftangriffe auf London aus St. Margarets nach Hollyhock evakuiert werden – und eine davon, die Ich-Erzählerin Jenny, ist tatsächlich die Tochter von Alan, dem Beinahe-Loveinterest aus dem »Puppenzimmer«. Es sollte ein Wiedersehen mit Violet, Rufus und Florence (jetzt Rose) geben, ein paar neue Figuren, Irrungen und Wirrungen, Liebe, und natürlich Puppen. Der Arbeitstitel lautete »Das Scherbenzimmer«, was zugegeben ein bisschen viel verriet, aber immer noch ein schöner Titel ist.
Aber als ich dann versuchte, ein Probekapitel zu schreiben, traten die Probleme auf. Ich musste das Genre wechseln. »Das Puppenzimmer« spielte 1906 und war ein klassischer Gaslichtroman, der sich erst im Verlauf der Handlung als Fantasy herausstellte. Aber ein Gaslichtroman kann nicht 1941 während des London Blitz spielen. Ich überlegte, einen Noir-Suspense-Roman draus zu machen, weiterhin mit Fantasyelementen, aber ich war zu weit vom klassischen Noir-Roman entfernt, als dass das funktioniert hätte. »Das Scherbenzimmer« hatte zwar einen schönen Titel, mit »Scherzi« sogar schon einen Spitznamen, es hatte Plot und Figuren, aber kein Genre, und so verwarf ich die Idee bis auf weiteres, und bis heute, zehn Jahre später, habe ich es noch nicht geschrieben.
Ich will nichts ausschließen – schließlich hat das »Puppenzimmer« immer noch Leute, die es kaufen und lesen – aber es hat gerade nicht die höchste Priorität für mich. Es ist gerade nicht die Fortsetzung, auf die Leute von mir warten. Es ist nur das, was mir in den Kopf kommt, wenn das Thema »Fortsetzung« laut wird. Und das passiert gerade allenthalben mit »Unten«.
»Unten« ist ein Buch, bei dem ich nie an eine Fortsetzung gedacht hatte. Nevos Geschichte war für mich auserzählt, und dass am Ende noch diverse Fragen offen sind, war durchaus von mir beabsichtigt: Ich wollte, dass meine Leser:innen am Ende etwas zu Denken haben. Natürlich steht da noch im Raum, dass es Draußen gibt, dass Nevo irgendwann oder sogar schon bald dorthin kommen könnte – aber ich wollte diese Geschichte der Phantasie der Kinder überlassen, als Einladung, sie selbst zu schreiben. Und auf diese Idee, auf diese Lösung, war ich in der Tat sehr stolz.
Um ganz klar deutlich zu machen, dass es keine Fortsetzung zu »Unten« geben sollte, vergab ich den Arbeitstitel »Draußen« an eine andere Idee, eine Geschichte, die mit dem Prinzip von Liminalen Räumen arbeitet und von einem Mädchen handelt, das verstehen muss, dass sie ihr ganzes Leben lang in einem Puppenhaus gelebt hat. Die Idee war super, ist es immer noch, ich habe ein Probekapitel geschrieben, und sie funktioniert genau so, wie ich mir das vorgestellt habe – aber es war keine Fortsetzung zu »Unten« und doch in der Konstallation »Ein Mädchen arbeitet sich durch ein unendliches Haus« zu ähnlich, um als direkter Nachfolger zu erscheinen. So schrieb ich als nächstes »Die gehörnte Prinzessin«. Und den Arbeitstitel von »Draußen«, dem Puppenhausbuch, änderte ich um in »Die Vierte Wand«, um Enttäuschung zu vermeiden. Denn da kamen, von Seiten meiner Lektorin, schon die ersten Fragen nach einer Fortsetzung, und der haben sich inzwischen so viele Rezensent:innen angeschlossen, dass ich das nicht mehr gut ignorieren kann.
Trotzdem wies ich die Idee erst einmal weiter von mir. Denn wie beim »Scherbenzimmer« stellt »Draußen« einen zu radikalen Bruch mit dem Vorgänger dar, um sich so einfach runterschreiben zu lassen wie damals »Die Schattenuhr« als Fortsetzung zu den »Mohnkindern«. »Draußen« verliert das, was »Unten« ausgemacht hat: Den geschlossenen Kosmos des unendlichen Hauses, das eigentlich die wahre Hauptfigur des Buches darstellt. Indem ich die Handlung nach draußen verlagere, gebe ich alles auf, was »Unten« so besonders gemacht hat, ohne etwas ebenso besonderes zu gewinnen, denn Bücher, die unter freiem Himmel spielen, gibt es schon so viele.
Dazu kommt noch eine Sache: Um an »Unten« anknüpfen zu können, müsste ich die Fragen, die ich am Ende dieses Buches mit Absicht offen gelassen habe, beantworten, und damit würde ich am Ende ein sehr starkes Buch entkräften, indem ich um jeden Preis eine Fortsetzung dranhängen muss. Ich will nicht die Wucht von »Unten« verlieren und verpuffen lassen – nicht für eine Fortsetzung, für die ich überhaupt noch keine Idee habe. Die Idee zu »Unten« hatte Jahre zum Reifen, und die haben dem Buch gutgetan – und wenn ich auch nicht kategorisch ausschließen möchte, dass es einmal eine Fortsetzung geben wird, ein echtes »Draußen«, habe ich jetzt noch keine Vorstellung, wie dieses Buch genauso stark werden kann wie sein Vorgänger.
Natürlich gibt es ein Draußen. Es ist kein mystischer, unerreichbarer Ort, es liegt außerhalb der Häuser, ganz real. Es ist aber kein Ort, an dem man sich ohne weiteres aufhalten kann. Die Umwelt ist verseucht, alles in ewigen Smog gehüllt, den ich in »Unten« auch schon beschrieben habe. Und ich möchte nicht, dass »Draußen« davon handelt, wie Nevo vor die Tür tritt, einen Hustenanfall bekommt und sich naserümpfend wieder ins Haus zurückzieht – das wäre ein sehr kurzes, sehr unbefriedigende Buch und sicher keine würdige Fortsetzung. Es muss also etwas Draußen sein, das ein Abenteuer beinhaltet – und eine Bedrohung, die es mit der Hausverwaltung aufnehmen kann.
Und das kann nicht der Smog selbst sein. Ich habe gerade ein Buch gelesen, »UnLunDun« von China Mieville, in dem der personifizierte Smog der Endgegner war – für eine ähnliche Zielgruppe wie »Unten«, voller Wortwitz, mir persönlich streckenweise zu brutal, aber trotzdem ein Buch, das mir viel Spaß gemacht hat, und nur weil es nie ins Deutsche übersetzt worden ist, möchte ich davon nichts abkupfern. So dass ich jetzt für »Draußen« mit zu wenigen Ideen dastehe, um etwas richtiges draus zu machen. Es folgen ein paar milde Spoiler:
Ich habe ein paar Ideen, eine Handvoll vielleicht, und keinen Plot, nur einen Aufhänger. In der Freundschaft zwischen Nevo und Juma kriselt es nach dem Abenteuer, Juma hat Dinge erlebt, die Nevo nicht so gut nachvollziehen kann wie Miu, mit der sich Juma immer besser versteht, und auf der anderen Seite wünscht sich Nevo von Juma Dankbarkeit, was keine gute Ausgangsbasis für eine Freundschaft darstellt. Nevo tröstet sich damit, dass sie dafür immer noch Mat und Tal hat und beschließt eigenmächtig, dafür zu sorgen, dass Tal, solange er das noch kann, endlich sein eigenes Abenteuer bekommen soll und nach Draußen kommen soll. So macht sie sie sich zusammen mit Tal, Mat und den Rattenschwestern auf den Weg nach Draußen, der aber, das wäre sonst zu einfach, nicht durch die versperrte Haustür führt. Nur ist Draußen dann ganz anders, als sie es sich vorgestellt haben …
Und das ist es dann auch schon, was ich habe. Nur ein Aufhänger, aber etwas, das wachsen und reifen kann. Dazu ein Bild des surrealistischen Malers Giorgio de Chirico, das ein spielendes Mädchen auf einer verlassenen Straße zwischen Fabrikgebäuden zeigt. Das ist immerhin etwas. Das ist aber noch nicht genug für ein Buch, und wahrscheinlich wird sich bis zum diesjährigen Nanowrimo daran noch nicht viel geändert haben. Nächstes Jahr … das versuche ich hinzubekommen. Und das heißt, ich bin inzwischen an einer Stelle angekommen, wo ich mir selbst vorstellen kann, grundsätzlich diese Fortsetzung zu schreiben. Auf »Unten« kann ein »Draußen« folgen, wenn ich nur weiß, wie ich das anstellen kann. Soll ja ein richtig gutes Buch werden, kein Schnellschuss.
Und jetzt, wo ich da angekommen bin, spiele ich schon wieder mit dem Gedanken, auf das »Puppenzimmer« doch noch das »Scherbenzimmer« folgen zu lassen. Zehn Jahre Reifezeit waren vielleicht genau das, was diese Geschichte gebraucht hat. Auch hier brauche ich noch mehr Plot, und ehe ich mich daran machen würde, haben andere Projekte eine höhere Priorität. Aber ich will nicht mehr Nie sagen. Und was schreibe ich außerdem, gerade, nebenbei? »Die Vierte Wand«, das Buch mit dem Puppenhaus. Ich sagte ja, ich kann gar nicht genug Projekte haben. Und die beiden Fortsetzungen kommen, spätestens für nächstes Jahr, auf den »Works in Waiting«-Stapel.