Eigentlich sollte »Wie Haut so kalt« schon im letzten Herbst fertig werden, noch vor dem Nano, das war der Plan. Daraus geworden ist – nichts. Damit reiht sich WHSK nahtlos in die Reihe der Bücher ein, die 2022 unbedingt hatten fertigwerden sollen und das, aus den unterschiedlichsten Gründen, nicht getan haben. Hier habe ich mich in einer juristischen Zwickmühle verfangen: Varda hat zwei Prozesse vor sich, einen, in dem er selbst angeklagt ist, und einen, in dem er als Zeuge aussagen soll, dahinein fällt dann auch noch der dramatische Höhepunkt des Buches, ich bin mir immer noch nicht sicher, wie ich die Handlung auflösen soll, und ohne einen roten Faden sollte man als Autor ohnehin nicht an ein Buch rangehen, aber ganz sicher nicht an einen dramatischen Gerichtsprozess.
Jetzt bin ich kein Jurist. Alles, was ich über Strafprozesse weiß, habe ich bei »Richterin Barbara Salesch« gelernt. Damit klinge ich jetzt unfähiger, als ich wirklich bin. Denn bei Barbara Salesch war ich nicht nur Zuschauerin, ich habe auch selbst als Laiendarstellerin mitgewirkt – und, was noch mehr ist, selbst Fälle geschrieben. Das war meine erste richtige bezahlte Autorentätigkeit. Und nachdem ich das lange als irgendwie peinlich unter den Teppich gekehrt habe, bin ich heute doch wieder ganz anständig stolz darauf. Und ich denke, das darf ich auch sein.
Angefangen hat es mit meinen schauspielerischen Ambitionen. Ich habe immer gern Theater gespielt, aber ich hatte irgendwie selten richtig Gelegenheit dazu. Zu meiner Schulzeit gab es zwar eine preisgekrönte Theater-AG, aber da wurde man selbst zum Vorsprechen nur auf Empfehlung eingeladen, und dieses Glück hatte ich nie. Im Studium habe ich schlichtweg nie herausgefunden, wie ich Mitglied der Studiobühne der Uni Köln hätte werden können und stattdessen in meiner Studentenbude zusammen mit meinen beiden besten Freundinnen »Hamlet« gespielt, ohne Publikum, dafür aber ungekürzt – es war ein großer Spaß, aber dafür, dass ich mal hauptberuflich zum Film gewollt hatte (ich wollte Regisseurin werden oder Cutterin), hatte ich irgendwie wenig echte Kontakte zu Bühne, Film und Fernsehen – und da kam mir eine Anzeige im Kölner Stadtanzeiger genau richtig.
Da wurden Laiendarsteller für »Richterin Barbara Salesch« gesucht. Das war, zu dem Zeitpunkt, meine Lieblingssendung im Fernsehen. Ich folgte der Serie seit ihrem Start, seit dort noch echte Fälle mit einem echten Publikum verhandelt worden waren, und nach einem anstrengenden Arbeitstag gab es kaum etwas Besseres, als nach Hause zu kommen und mir die Video-Aufzeichung der aktuellen Folge anzuschauen und zu wissen, dass es doch noch Gerechtigkeit auf der Welt gab. Als das Format verändert wurde, die echten Zivilprozessfälle aufgegeben wurden zugunsten fiktiver Strafprozesse, war ich ein bisschen enttäuscht, aber ich blieb der Sendung treu. Und als ich die Chance witterte, da mitspielen zu können, ließ sie sie mir nicht entgehen. Obwohl ich nicht gern telefoniere, rief ich an, bekam einen Termin zum Vorsprechen, und ging zum großen Casting.
Einige Wochen später bekam ich einen Anruf von einer Redakteurin: Sie hatten eine Rolle für mich, ob ich interessiert wäre? Und wie ich das war! Zugegeben, es war nur ein kleiner Part. Weder war ich angeklagt, noch die eigentliche Mörderin, die einzige Leiche, mit der die Folge »Tod im Zoo« aufwarten konnte, war ein Schimpanse, und ich war nur die Entlastungszeugin, die Tieräztin, die zur fraglichen Zeit mit dem angeklagten Zoowärter herumgeknutscht hatte, während Affe Charlie an einer Alkoholvergiftung starb. Aber he, es war eine Rolle, eine Gelegenheit, mich zum Horst zu machen und in meiner Lieblingsserie mitzuspielen. So klärte ich mit meiner Firma, dass ich den entsprechenden Tag für die Dreharbeiten freinehmen durfte, und sagte zu – und bekam mein Script per Mail geschickt. Las es. Und rief die Redakteurin an.
Buchstäblich das erste, über das ich im Plot von »Tod im Zoo« stolperte, war ein großes Logikloch. Da hatte man neben dem toten Schimpansen die Flasche mit dem Erdbeerlimes gefunden, die dem armen Tier verabreicht worden war – und dann den Zoowärter angeklagt, ohne diese Flasche einmal auch nur auf Fingerabdrücke zu untersuchen. Ich sollte dabeisagen, dass ich nicht nur Regisseurin hatte werden wollen, sondern auch Gerichtsmedizinerin, und »Medical Detectives« und »Autopsie – Mysteriöse Todesfälle« gehörten auch zu den Sachen, die ich mir im Fernsehen nicht entgehen ließ. Das Fehlen der spurendienstlichen Untersuchung erschien mir wie schlampige Polizeiarbeit, ich konnte mir nicht vorstellen, wie man das in der Redaktion hatte übersehen können, aber vielleicht war es ja noch nicht zu spät, um das Script noch mal zu überarbeiten …
Die Redakteurin winkte ab. Die Flasche auf Fingerabdrücke zu untersuchen, wäre doch nicht notwendig gewesen, weil überhaupt nur der Zoowärter als Täter infrage gekommen wäre (nur, dass er es dann natürlich doch nicht war), und überhaupt, das Script sei fertig und müsse nicht mehr bearbeitet werden. Und da rutschte aus aus mir heraus: Ich erklärte ihr, dass ich selbst Autorin wäre, und dass ich dächte, dass ich das besser könnte. Ehrlich, ich habe keine Ahnung, was da in mich gefahren war. Akuter Größenwahn? Zu dem Zeitpunkt war ich 26 Jahre alt, und ich hatte noch nie etwas veröffentlicht bis auf ein paar Gedichte in der heimatlichen Tageszeitung. Aber ich hatte meine »Chroniken der Elomaran«, auf die ich sehr, sehr stolz war, und wo ich wusste, dass die Schauspierlei nur ein Hobby sein sollte, wusste ich doch, dass ich das Schreiben einmal hauptberuflich machen wollte. Es war nur ein Wunschtraum, natürlich, ich glaubte nicht daran, dass das wirklich möglich sein sollte – aber an dem Tag unternahm ich den Vorstoß, auf den es ankam.
Meine Redakteurin hätte kommentarlos auflegen können oder mich für meine Dreistigkeit aus der Besetzungsliste streichen, aber stattdessen antwortete sie ganz cool: »Das trifft sich gut, wir suchen gerade Verstärkung für das Autorenteam«. Und so, ohne auch nur einen Probetext einreichen zu müssen, wurde ich freie Autorin bei »Richterin Barbara Salesch«. Ich bekam ein Dossier zugeschickt, wie die Fälle aufgebaut waren, und eine Anleitung – und das war es. Ich war offiziell Autorin. Ohne dass jemand die »Elomaran« dafür auch nur hätte anschauen wollen. Alles, was ich zu tun hatte, war, einen Fallvorschlag einzureichen – sollte der akzeptiert werden ich damit beauftragt, das eigentliche Script auszuarbeiten, sollte ich dafür bezahlt werden, und das wirklich, wirklich anständig. Und eine Idee für einen Fall hatte ich auch schon: So reichte ich, zehn Jahre vor der Arbeit an der »Neraval-Sage«, meinen ebenso raffinierten wie mit bibliothekarischer Gründlichkeit recherchierten Fälscherkrimi »Später Fluch des Pharao« ein – und der Fall wurde akzeptiert. Ich war drin.
Tatsächlich war das mein einziger Fall, der auf einer eigenen Idee von mir basierte. Danach wurde das System nämlich geändert: Die Redakteure dachten sich die Fälle selbst aus und gaben die Plots an die Autoren durch, die dann die Figuren und das Script ausarbeiteten. Wobei »ausarbeiten« in diesem Fall nicht bedeutet, ein Drehbuch mit filmreifen Dialogen zu verfassen. Damit die Gerichtsshows lebendig wirken und die Laiendarsteller nicht steif einen auswendiggelernten Text aufsagen, enthielten die Scripte nur grob die darzustellenden Inhalte sowie eine Charakterisierung der Rollen – auch mein eigener Auftritt in »Tod im Zoo« war mehr ein abgefilmtes Liverollenspiel denn eine Shakespeare-würdige Schauspieldarbietung. Alles in allem hatten die Scripte um die 15-20 Seiten, vielleicht 5.000 Wörter, wenn es hochkam, und waren darum an einem Wochenende zu schaffen. Bequem zu schaffen, würde ich heute sagen. Aber damals sah es anders aus.
Ich arbeitete damals Vollzeit in einem kleinen Pharma-Marekting-Vertrieb, mochte die Arbeit durchaus, aber sie schlauchte mich. Von Köln-Holweide bis kurz vor Bonn war ich mit Bus und Bahn in jeder Richtung über eine Stunde unterwegs, und wenn ich Freitags abends nach Hause kam, hatte ich kaum etwas zu Abend gegessen, da rief auch schon die Redakteurin an und gab mir den Fall der Woche durch – und der musste dann fertig ausgearbeitet am Montag per Mail in der Redaktion vorliegen. Aber ich machte mit. Arbeitete Fälle aus, die immer dramatischer und abstruser wurden – ging es erst nur um ein jähzorniges Kindermächen, das den Familienhamster totgetreten hat, kamen später ein Autounfall inklusive Blowjob oder ein Giftmord dazu. Ich arbeitete Zeugen und Angeklagte aus, brachte die Aussagen und Argumente zu Papier, und auch wenn mir der Spaß fehlte, den ich gehabt hatte, als ich selbst meinen Fälscher-Fall gestrickt hatte, fühlte ich mich doch wie eine sehr professionelle Autorin. Und die Bezahlung konnte ich auch wirklich gut brauchen.
Aber man kann nur auf so-und-so-vielen Hochzeiten tanzen. Die Doppelbelastung wurde zu viel für mich. Ich arbeitete für Barbara Salesch und später für »Das Familiengericht«, aber ich arbeitete daneben immer noch auf meiner Vollzeitstelle, ich hatte einen Freund, den ich nur wochenends sehen konnte, und über all dem blieb mir überhaupt keine Zeit mehr, mich zu erholen oder auch nur eine Seite an meinen eigenen Geschichten zu Papier zu bringen. Die Arbeit an den Gerichtsshows fühlte sich bald an wie genau das: Wie Arbeit. Ich war durch, ausgebrannt, erschöpft, und ich wusste, ich musste mich von einer dieser Aufgaben trennen. Wollte ich den Sprung in die Selbständigkeit wagen und hauptberuflich Gerichtsshows schreiben? Oder meinen Brotjob behalten, der mich zwar stresste, aber Sicherheit versprach?
Ich war Mitte Zwanzig und hatte keine Ahnung, wie das funktionieren sollte mit der Selbständigkeit. Ich wusste nichts von der Künstlersozialkasse, wie man als Freiberufler seine Steuererklärung machte oder auch nur, wie lang das gutgehen sollte. Und nachdem ich ein paarmal drüber geschlafen hatte, teilte ich meiner Redakteurin mit, dass ich aus dem Autorenteam ausscheiden wollte. Es wurde mit Bedauern zur Kenntnis genommen, aber neue Autoren sind schnell zu finden, und ich war nicht unersetzlich. Ich war nur dumm. Zweimal im Leben habe ich mich gegen die Berufsschriftstellerei und für die berufliche Sicherheit entschieden (das zweite Mal 2005, als ich »Drei-Fragezeichen-Autorin« hätte werden können), und beide Male bin ich damit auf den Hintern geflogen. Meine kleine Pharma-Marketing-Firma ging im Sommer 2002 in die Insolvenz, und ich verlor meine Stelle, bekam beruflich kein Bein mehr auf den Boden und wurde langzeitarbeitslos. Ich versuchte zwar, noch mal zurück zu den Gerichtsshows zu kommen, aber der Zug war abgefahren – das Team war voll, und die wollten natürlich auch niemanden, der sich zwischen Hü und Hott nicht entscheiden kann.
So endete meine Laufzeit als Gerichtsschreiberin nach wenigen Monaten. Und lange war sie mir peinlich. Fühlte sich an wie schriftstellerische Prostitution. Ich wollte hohe Literatur schaffen, und alles was ich vorweisen konnte, waren Arbeiten fürs Pseudo-Reality-TV, Sendungen mit zweifelhaftem Ruf und völlig an der Realität vorbeigehenden Fällen. Erst später habe ich verstanden, was ich damals wirklich unter Beweis gestellt habe: Dass ich abliefern kann, auf Knopfdruck. Deadlines einhalten. Figuren psychologisch plausibel ausarbeiten. Emotionen im Publikum erzeugen. Teamfähig sein. Was ich gemacht habe, war eine vollwertige schriftstellerische Arbeit. Auch wenn man damit keinen Grimmepreis gewinnt und auch keinen Nobelpreis für Literatur – es war ehrliche, anständige Arbeit, und ich habe es gerne gemacht.
Und manchmal sticht mich auch heute noch der Hafer. Dann besuche ich Webseiten wie dwdl.de und schaue mir die Jobbörsen durch, ob jemand Scriptschreiber sucht für Realityformate. Muss von zuhause aus zu machen sein. Und nicht mit meiner übrigen Schreiberei kollidieren. Zwanzig Jahre nach meiner Zeit als Gerichtsshow-Autorin ist auch Barbara Salesch wieder zurück, von Sat1 zu RTL gewechselt, aber immer noch produziert von Filmpool. Leider sehe ich mich auf absehbare Zeit nicht in deren Autorenteam. Die arbeiten nicht mehr mit freien Autoren zusammen, sondern bieten stattdessen eine Vollbeschäftigung – super Sache, nur kann ich aus gesundheitlichen Gründen zur Zeit nur halbe Stellen arbeiten, und jeden Tag nach Hürth pendeln ist mir gerade so eben zu weit. Aber wenn sich da doch mal eine Teilzeitsache ergibt – dann bewerbe ich mich. Bringe ja inzwischen Berufserfahrung als Autorin mit, sogar einschlägige. Und in ihrer Laiendarstellerkartei bin ich auch immer noch gelistet. Vor zwanzig Jahren hatte ich kein Problem damit, mich vor der Kamera zum Horst zu machen – und wenn sich seither eine Sache nicht geändert hat, dann das.
Und der arme Varda? Der wird ein bisschen länger auf seine beiden Gerichtsprozesse warten müssen. Ich schreibe nämlich doch erst einmal ein anderes Buch zu Ende: »Owls End«. Und dafür gibt es einen tollen Grund. Details folgen später. Erst einmal gibt es also jetzt Eulen. Ganz unjuristisch. Aber schön.