Bereits Anfang 2019 hatte ich die Idee für einen neuen High Fantasy-Mehrteiler, eine Geschichte, wie ich sie immer schon einmal schreiben wollte: Retro-Fantasy vom Feinsten, eine Sammelqueste auf der Suche nach neun göttlichen Artefakten, getragen von einer Gruppe schillernder Figuren. Es juckte mich in den Fingern, sofort damit loszulegen, aber ich durfte nicht: Erst einmal musste ich meine Neraval-Sage fertigstellen, von der da gerade der erste Band erschienen war und Teil zwei und drei noch ausstanden. So schrieb ich nur einen Prolog und ein Probekapitel um die Abenteuer des von mir liebervoll Nekro-Andi genannten Totenbeschwörers Andreu Madun, hatte Spaß daran, und wandte mich wieder meinen Fälschern zu.
Erst, als da der dritte Band auf seine Fertigstellung zusteuerte, wagte ich es wieder, meine Tränenjäger hervorzuholen, denn ich witterte eine große Chance für diese Geschichte: Das Phantastik-Autorennetzwerk PAN hatte sein erstes Stipendium ausgeschrieben, das ich durchaus gut brauchen konnte, für ein in Arbeit befindliches Werk, der Förderungszeitraum schloss genau an den Abgabetermin des »Gefälschten Landes« an, und der einzureichende Umfang entsprach genau dem einen Kapitel, das ich schon hatte. So machte ich mit, erwartete nicht viel – und gewann.
Der Sieg selbst verpasste mir Auftrieb, die damit verbundene Anerkennung war genau das, was ich nach der durchwachsenen Kritik für mein »Gefälschtes Siegel« brauchte, und nachdem sonst alle Preise in der Phantastik ohne mein Zutun vergeben wurden, war es schön, endlich einmal etwas zu gewinnen. Aber ausgerechnet der Arbeit an meinen Tränenjägern, inzwischen mit dem Arbeitstitel »Die neunte Träne« versehen, tat das Stipendium nicht gut. Ich baute mir riesigen Druck auf, das Buch durfte nicht nur nicht mehr scheitern, sondern musste jetzt auch noch das verdammt noch mal beste, was ich jemals geschrieben hatte, werden, um die Vorschusslorbeeren zu rechtfertigen – eine Erwartungshaltung, der ich nicht mehr gerecht werden konnte.
Mein Plan war, im September und Oktober intensiv zu plotten und dann im November im Nanowrimo so richtig mit dem Schreiben durchzustarten. Stattdessen verlor ich mehr Zeit, als mir lieb war, an die Überarbeitung des »Gefälschten Landes«, und als der Nano anfing, hatte ich kaum mehr Plot vorzuweisen, als es im Sommer der Fall gewesen war, und der Nano selbst lief auch nicht rund. Ich schaffte meine 50.000 Wörter an der Geschichte, mit eiserner Disziplin, aber wenig Freude, und als der Nano vorbei war, blieb das Gefühl, 50.000 Wörter für die Tonne geschrieben zu haben. So unzufrieden war ich mit mir und dem Verlauf des Monats, das ich mir das Geschriebene noch nicht einmal mehr anschauen mochte.
Zerredet, schwafelig, hohl – ich hatte auch unbesehen viel zu sagen über das Nano-Ergebnis, und nichts davon war positiv. Mein Text hatte gravierende Lücken, weil ich unter dem Druck, jeden Tag meine 1.667 Wörter zu schreiben, Szenen übersprungen hatte, die mir zu schwer erschienen, und aneinandergestückelt, wofür ich irgendwie Ideen hatte. So hatte ich das dramatische Ritual, mit dem die Gefährten den Monddieb Siru beschwören, nur angerissen, die anschließende Rückeroberung der postwendend gestohlenen Schatzkarte komplett übersprungen, und Kells ganzen Handlungsstrang dreimal geschrieben, weil er mir nicht gefiel.
Das Buch war ein Sauhaufen, in Unordnung, zu nichts zu gebrauchen, und als meine Agentin Exposee und Leseprobe haben wollte, um dieses prestigeträchtig preisgekrönte Werk auch bei den Verlagen anzubieten, wiegelte ich ab: Zwar konnte ich hundert zusammenhängende und mir einigermaßen gefallende Seiten als Leseprobe zusammenkratzen, und ein Exposee hatte ich noch vom Stipendium übrig, aber das Buch zu verkaufen, hätte bedeutet, die auf vier Bände angelegte Reihe dann auch innerhalb von wahrscheinlich vier Jahren fertigschreiben zu müssen, und das konnte ich mir nicht vorstellen. Die Idee? Vielversprechend. Die Umsetzung? Krachend gescheitert. Nach Absprache mit der Agentin boten wir ein anderes Projekt von mir an. Und sprachen nicht mehr über die Tränenjäger.
Solange der Förderzeitraum des Stipendiums lief, biss ich die Zähne zusammen und schrieb weiter, verfasste Kells Teil der Geschichte zum xten Mal neu und würdigte das, was ich im Nano über Andreu und Co. geschrieben hatte keines Blickes, so sehr hasste ich schon die Vorstellung an den Mist, den ich da verzapft hatte. Mit Ende des Stipendiums fiel ich, was nichts mit dem Buch zu tun hatte, sondern dem Weltgeschehen, in ein Loch, verbrachte weite Teile des Jahres mit einer On/Off-Depression und verkniff mir jeden Gedanken an die Tränenjäger, weil ich nicht auch noch Schuldgefühle gegenüber den PAN-Leuten, die an dieses Buch und mich geglaubt hatten, brauchen konnte – ich hasste dieses Buch, ich hasste mich noch mehr, und wo mich das Schreiben dieser Geschichte hätte glücklich machen sollen, hatte ich mir damit nur das Leben noch schwerer gemacht …
Und dann kam der nächste November, der nächste Nanowrimo, und das Wunder geschah – ich fand die Freude am Schreiben zurück. Ich gewann meinen Doppel-Nano, ich stellte das eine der beiden Projekte, »Die gehörnte Prinzessin«, sogar fertig, und als der Monat rum war, juckte es mich unter den Fingern, gleich weiterzuschreiben. Aber die Prinzessin war fertig, und für das andere Nano-Projekt, »Das Glaslabyrinth«, war mir pünktlich zum letzten Novembertag der Plot ausgegangen – und plötzlich waren sie wieder da, meine Tränenjäger, wurmten sich mir vom Hinterkopf ins Gehirn und wollten weitergeschrieben werden – und, ehe das passieren konnte, überhaupt erst einmal gesichtet.
Ich hatte eine Menge Text – fünf zusammenhängende Kapitel, dann das sechste in zwei Versionen, zwischen denen ich mich nicht entscheiden mochte, das siebte Kapitel ganz, das achte halb, vom neuten nichts, ein zehntes Kapitel mit Löchern, und eine als »Elftes Kapitel« bezeichnete Szene, die aber, wie sich herausstellen sollte, vor dem zehnten spielte. Es war, ohne jeden Zweifel, eine Baustelle. Aber als ich mich dann hinsetzte und das ganze einmal las, von vorn bis hinten, wurde keine Bauruine daraus. Mein Buch gefiel mir. Ich lachte an den richtigen Stellen. Ich genoss manche Szenen so sehr, dass ich sie gleich mehrmals las.
Mitnichten war alles, was im Nano 2021 entstanden war, für die Tonne. Im Gegenteil: Das meiste davon, all die Szenen, die ich seit dem 1. Dezember 2021 nicht mehr angerührt hatte, waren sogar richtig gut. Klar, manchmal ein bisschen schwafelig, aber nichts, was man nicht in einem Bearbeitungsdurchgang ausbügeln könnte. Eine Baustelle bleibt das Buch trotzdem: Die Löcher füllen sich nicht von selbst, und tatsächlich sind beide Versionen des sechsten Kapitels (eine weitere Version hatte ich bereits verworfen) nicht wirklich gut – aber ich sehe wieder Licht. Ich habe eine Perspektive. Und mehr noch, ich habe auch schon wieder ein paar Seiten daran geschrieben. Und freue mich darauf, mich nachher dranzusetzen und weiterzuschreiben.
Die Tränen der Götter mögen verlorengegangen sein – das dazugehörige Buch habe ich gerade wiedergefunden. Und jetzt, wo das Stipendium vorbei ist, kein Verlag darauf wartet und nichts mir Druck macht, sind die Motivation und die Lust da, endlich damit weiterzumachen. Kein schlechtes Buch, im Gegenteil – das wird mal richtig, richtig gut. Manchmal muss man ein paar Schritte zurück machen, etwas anderes tun, den Kopf freibekommen – dann hat die Liebe Zeit, sich zu erholen. Und das ist hier passiert. Ich liebe dieses Buch. Und das ist das erste Mal seit über einem Jahr, dass ich das wieder über irgendeine Geschichte mit solcher Inbrunst sagen kann.