Mehr als drei Monate ist es jetzt her, dass das Hochwasser über meine Stadt hereingebrochen ist. Die Nachrichten sind weitergewandert, und wenn man dort doch noch etwas über die Katastrophe und ihre Aufarbeitung findet, bekommt man den Eindruck, sie hätte sich ausschließlich im Ahrtal ereignet – und ja, da sind die meisten Menschen gestorben, da sind die Schäden am größten, anderswo war es wohl nicht so schlimm, aber von welchen Dimensionen reden wir hier? In Stolberg, fernab der Ahr, am Vichtbach, sind Tausende von Wohnungen unbewohnbar, Menschen ohne Heizung, ohne Strom, ohne Obdach.
Wir haben Oktober, es ist kalt, und die Häuser schimmeln. Schutt türmt sich am Straßenrand. Ganze Straßenzüge bestehen aus Häusern ohne Fenster, mit offen klaffenden Schaufenstern oder vernagelt mit Brettern. Mit seltsamer Routine fahre ich mit dem Ersatzbus zum Bahnhof, die Regionalbahn wird frühestens 2023 wieder fahren, und dann auch erstmal nur provisorisch. Wenn ich zur Apotheke muss, fahre ich zehn Minuten mit einem anderen Bus oder mit dem Auto – früher waren fünf Apotheken fußläufig erreichbar, alle wurden zerstört. Lebensmittel bekommen wir auch nur mit dem Auto. Unsere tapfere Buchhandlung hat wieder geöffnet, ebenso wie mein Fitnessstudio, das aber nur auf Umwegen zu erreichen ist. Der Metzger hat aufgegeben.
Ob unser Rathaus wieder benutzt werden kann, ist noch nicht klar. Die aus der Flut geborgenen Unterlagen des Stadtarchivs werden gefriergetrocknet bei einem Unternehmen, das bereits mit dem Kölner Stadtarchiv Erfahrungen hat, aber wie in Köln ist vieles unwiederbringbar verloren. Ebenso betroffen ist das Eschweiler Amtsgericht, wo das Grundbuch unseres Hauses geführt worden ist – wir hätten gerade einen aktuellen Auszug gebraucht, aber da ist gerade nichts zu machen. Zum Glück hatten wir eine Kopie. In den Nachrichten war ein Artikel über die Mitarbeiter dort, zu deren Arbeitsgerät jetzt Brecheisen gehören, mit denen sie aufgequollene Akten aus dem den Regalen wuchten.
An viele Anblicke habe ich mich gewöhnt, ohne sie jemals verarbeitet zu haben. Der Bus führt an Trümmern vorbei und an einer Zeltstadt, wo für die Anwohner warme Suppe und Wechselwäsche ausgegeben werden, heute wie vor drei Monaten. Es ist ein seltsam stumpfer Alltag – man wütet nicht, weil man ohnehin nichts mehr ändern kann. Der Ersatzbus, die fehlende Infrastruktur, all das nervt – aber für tausende von Stolbergern ist an Alltag nicht zu denken, sie steigen morgens in ihre Gummistiefel und gehen Trümmer schüppen. Manche Häuser sehen aus, als wären die Bewohner vor der Flut geflohen und niemals wiedergekommen. Der Winter kommt, die Trümmer bleiben.
Ich versuche, nichts mehr selbstverständlich zu nehmen, und während ich selbst nach zehn Jahren im Dämmerdunkel gerade überhaupt erst wieder auf die Beine komme, bleibt das Gefühl, es nicht verdient zu haben, so glimpflich davongekommen zu sein. In meiner Stadt ist nichts mehr, wie es war, und wird es auch nie wieder. Manches wird sich zum Guten ändern. Aber die Narben, die werden noch in Jahrzehnten zu spüren sein.
Hey Maja (und Grüße aus dem TiZi :D)
Krass zu hören, dass es immer noch so schlimm ist. Unheimlich traurig, sich diese Routine vorzustellen! Finde es eine Unverschämtheit, dass darüber so wenig berichtet wird und auch die Hilfen ja scheinbar eingestellt wurden.
Hast du es denn halbwegs dort überstanden? Oder hat die Flut dir auch etwas geraubt?
Ich wünsche dir auf jedenfall ganz viel Kraft! Es ist unfassbar grausam, was kommt und noch viel grausamer, wie schrecklich der Winter für all jene bleibt.
Liebe Grüße!
Danke für deinen Kommentar! Wir sind beim Hochwasser mit einem großen Schreck davongekommen, weil unser Haus auf einem Hügel liegt und das Wasser nicht bis zu uns gestiegen ist, aber wir konnten es von der Haustür aus sehen, und weniger als hundert Meter entfernt ist alle Infrastruktur zerstört. Ich musste früher nur einmal über die Bahn spucken für alles, was ich fürs tägliche Leben brauche – davon ist jetzt praktisch nichts mehr da, und der Schock sitzt tief. Aber viele andere hier im Ort haben buchstäblich alles verloren.