Ich habe ein wirklich gutes Gedächtnis. Das kommt mir sehr entgegen, wenn es darum geht, Liedtexte zu behalten, und Shakespeares »Hamlet« kann ich in weiten Teilen auswendig – aber wo es um meine Depresisonen geht, kommen die Erinnerungen, um mich in den Hintern zu beißen.
Meine Kindheit und Jugend war, alles in allem, schön, mit einem verständnisvollen Elternhaus und drei Geschwistern, mit denen ich mich unterm Strich gut verstanden habe, mit vielen Möglichkeiten, mich zu entfalten und der Freiheit, meinen Weg zu gehen, mit der freundlichen Hilfestellung, außerdem etwas Richtiges zu werden, weil ich Schriftstellerin immer noch werden kann, und ich bin es geworden. Ich habe viele wirklich schöne Erinnerungen, auf die ich zurückblicken kann – doch wenn es drauf ankommt, dann passiert das Gegenteil.
Immer, wenn ich es nicht brauchen kann, kommen die Erinnerungen hoch, die ich am liebsten vergessen würde. Die Male, in denen ich gemobbt wurde, mich habe schikanieren lassen, die falschen Entscheidungen getroffen … Man kann leicht denken, das Problem bei Depressionen sind die Schmerzen, die man im Leben ausgestanden hat, die Traumata, die man erleiden musste, aber bei mir geht es immer um etwas anderes: Um mein eigenens Versagen. In meinen Erinnerungen bin ich nichts, bin ich wertlos.
Wenn ich an den Moment zurückdenke, als meine vermeintlich beste Freundin mich gebeten hat, die Straßenseite zu wechseln, weil sie nicht mit mir gesehen werden wollte – wer meinen Roman »Geigenzauber« gelesen hat, wird die Szene wiederkennen, dort habe ich das eingebaut, aber immer noch nicht verarbeitet – dann ist es nicht diese Freundin, auf die ich zornig bin – ich bin es selbst, weil ich gehorcht habe und am anderen Tag immer noch getan, als wäre sie meine Freundin.
All die Male, die ich mich nicht gewehrt habe, die ich nicht für mich oder andere aufgestanden bin, die ich mich falsch verhalten habe, die Kontrolle verloren, meine Liebe verborgen habe, statt sie mir einzugestehen … Für andere Leute, geistig Gesunde, sind das vielleicht kleine Anekdoten, die untergehen in der Geschichte und früher oder später vergessen werden, aber zu mir kommen sie zurück, wieder und wieder, immer und immer wieder, um mir zu sagen, dass ich Dreck bin. Meine Erinnerungen sind ein Karteikasten der Selbstverachtung, gutsortiert, damit immer eine passende Karte zur Hand ist.
So geht es vielen Menschen mit Depressionen. Diese Krankheit, eine Stoffwechselstörung im Gehirn, wird nicht durch Trauma und Verletzungen verursacht, ich bin nicht depressiv geworden, weil ich über Jahre schwer gemobbt worden bin, aber jeder dieser Momente, jede Erinnerung, die man nicht loslassen kann, die man nicht verarbeitet, sondern immer und immer wieder durchkaut, macht es schlimmer, wird zu einer Wunde, die nicht heilen will und die immer wieder hochkommt, um einen zu quälen.
Man ist nicht machtlos dagegen. Man kann lernen, dagegenzusteuern, mit anderen Erinnerungen, in denen man stark war, das Richtige getan hat, sich behauptet hat, sich und andere verteidigt … Aber das klingt leichter, als es ist, weil man erst einmal aus dem negativen Denken ausbrechen muss, um das überhaupt zu versuchen. Nicht jeder hat überhaupt solche Erinnerungen sammeln können. Nicht jeder findet sie im entscheidenden Moment wieder.
Hier kommt meine Autorenkollegin Janna Ruth ins Spiel, die aus dieser Fragestellung einen Roman gemacht hat: Wenn man seine Kindheitserinnerungen spenden könnte, um damit Depressiven zu helfen – soll man das dann machen? Wenn die eigenen Erinnerungen danach weg sind? Natürlich, man gibt nur ein Bisschen, so wie man an einer Blutspende nicht verblutet, und man kann anderen damit helfen, aber wenn man das zu oft macht – was bleibt dann übrig? Und umgekehrt frage ich mich, als Mensch mit Depressionen: Wie verzweifelt muss ich sein, um mir eine fremde Erinnerung einpflanzen zu lassen? Wenn ich selbst nicht eine einzige schöne Erinnerung habe, die ich in solchen Momenten als Schirm und Schild über mich ausbreiten kann? Würde ich das machen lassen?
In Jannas Buch »Memories of Summer« treffen Mika und Lynn aufeinander – Mika, der vielleicht ein paar zu viele von seinen Erinnerungen gespendet hat, und Lynn, die in ihm das sieht, was ihre Kindheit rückblickend zu etwas Erträglichem macht. Ein spannendes Thema, das mich persönlich sehr berührt, und als Janna sich an die Blogosphäre gewandt hat mit der Frage, welche Kindheitserinnerungen man selbst spenden würde, wenn man damit anderen helfen kann, habe ich nicht lang gezögert und mich gemeldet. Einmal muss mein gutes Gedächtnis mir doch helfen – einmal muss auch etwas Schönes dabei rauskommen, ich weiß doch, in Wirklichkeit war so vieles von dem, was passiert ist, schön …
Ich könnte das Loch spenden, das Helge und ich im Garten seiner Eltern gegraben haben. Es war ein prachtvolles Loch, ich konnte darin stehen und nicht mehr rausschauen, und nachdem wir damit fertig waren, Schatzsuche zu spielen, haben wir eine Leiter drübergelegt und »Du sitzt jetzt im Kerker« gespielt. Es war ein gutes Loch, auch wenn wir es natürlich am nächsten Tag mit bösen Blicken im Rücken wieder zuschippen mussten. Und Helge war ein guter Freund. Ich will das Loch nicht spenden. Ich habe Angst, damit verliere ich Helge ein zweites Mal, wie damals, als wir weggezogen sind. Im neuen Haus, hinten im Garten, habe ich wieder ein Loch gegraben. Niemand hat mich es zuschippen gezwungen, aber es war nicht das gleiche, ich war allein.
So geht es mit vielen meiner Erinnerungen: Sie fangen schön an, aber dann nehmen sie die Kurve und werden zu etwas Traurigem. Ich will die Erinnerungen an Helge nicht spenden, auch wenn unsere Freundschaft nur zwei Jahre gedauert hat und ich ihn nach dem Umzug nicht mehr wiedergesehen habe. Aber auch nicht die Erinnerungen an Martina, mit der ich später auf dem Dorf befreundet war. Sie war niemand, der Löcher im Garten buddeln wollte – aber wir haben den Bach gestaut, mehrere Tage lang an unserem Damm gearbeitet, bis wir freudestrahlend zuschauen konnten, wie das prächtig angeschwollene Wasser stark genug war, unser Projekt mit einer anständigen Welle mit sich zu reißen. Mit der ich mit Emily Erdbeer-Figuren und Barbies spielen konnte ohne Angst, dass jemand lacht, wenn ausgerechnet ich plötzlich Mädchendinge mache.
Ich will die Erinnerungen an Martina behalten und an Nadine, die, als ich im Sportunterricht ganz allein einen Kilometer auf Zeit laufen musste, weil ich bei der eigentlichen Benotung krank war, mit mir zusammengelaufen ist und mich an die Hand genommen und über die Ziellinie gezogen hat – auf jede traurige Erinnerung kommt eine schöne, und auf jede schöne kommt eine traurige, und so geht es weiter, und sie machen mich zu einem ganzen Menschen.
Ich glaube, ich bin niemand für eine Memospende. Selbst wenn ich all die miesen Erinnerungen loswerden könnte, die Situationen, in denen ich verdroschen worden bin und verspottet und beleidigt und es mit mir habe geschehen lassen und das durch schöne Erinnerungen ersetzen – ich bin die Summe meiner Erinnerungen und das, das ich daraus mitgenommen habe. Bessere Erinnerungen zu haben wären tröstlich – aber das Ergebnis wäre nicht mehr ich. Ich bin nicht Mika aus »Memories of Summer«, ich kann meine Erinnerungen nicht hergeben. Ich bin auch nicht Lynn: ich habe selbst die schönen Erinnerungen, um die schlimmen auszugleichen. Ich bin ich, mit allem Schönen und Traurigen, was dazu gehört. Und froh darüber.
Was ich lernen muss, ist, nach den richtigen Erinnerungen zu greifen, wenn die falschen kommen. Die Stimme zum Schweigen bringen, die mich wertlos nennt, die mir jeden Fehler, den ich im Leben gemacht habe, wieder und wieder unter die Nase reibt – nicht mit besseren Erinnerungen. Aber mit einer besseren, verständnisvollen, verzeihenden Gegenwart. Und ich kann mir helfen lassen – nicht mit fiktiven Methoden wie der Memospende, sondern ganz in echt mit psychologischem Beistand.
Die naheliegendste Antwort ist: Mach eine Therapie. Aber eine Therapie macht man nicht mal eben. Es gibt Wartelisten, elendig lang. Es ist schwer, eine*n Therapeut*in zu finden, mit dem/der es wirklich funktioniert, und die Krankenkasse hält den Daumen drauf, wie lang und wie oft man Therapien machen darf. Gerade für einen Menschen in einer schweren Depression sind die Hürden, einen Therapieplatz zu bekommen, gewaltig. Ich habe zwei Psychotherapien hinter mir, und beide waren mit großer Anstrengung verbunden, dort überhaupt hinzukommen – so groß, dass ich tendenziell davor zurückschrecke, es ein drittes Mal zu versuchen.
Meine Nervenärztin betreut mich medizinisch und hat ein offenes Ohr für mich, und wenn es schlimm wird, kann ich dort in die Notfallsprechstunde. Aber wenn alles über mir zusammenbricht, ist die Sprechstunde meistens zu weit entfernt – schon der nächste Morgen kommt erst in einer Ewigkeit, wenn ich in der Vergangenheit gefangen bin. Die Telefonseelsorge ist rund um die Uhr erreichbar für Menschen wie mich, die aus ihrer Gedankenspirale nicht ausbrechen können, die sich auswegs- und hilflos fühlen und keinen Ausweg sehen. Das ist kein Ersatz für eine langfristige Therapie oder ärztliche Behandlung, aber schnelle, unbürokratische Soforthilfe, jemand, der zuhört, die richtigen Fragen stellt und hilft, selbst die Antworten zu finden, die man in dem Moment braucht.
Mehrere Male hat mir die Telefonseelsorge buchstäblich das Leben gerettet. Sie ist telefonisch zu erreichen unter 0800 / 111 0 111, 0800 / 111 0 222 oder 116 123 und online unter www.telefonseelsorge.de. Wer nicht gerne telefoniert und sich insbesondere in einer Extremsituation schwer tut, jemanden anzurufen, kann auch einfach per Onlinechat Hilfe bekommen – die Telefonseelsorge sollte kein Geheimtipp sein, und ich habe sie schon oft weiterempfohlen, aber viele wissen noch nicht, dass man dort wirklich einfach anrufen kann, wenn man ein Problem hat. Am besten speichert man die Nummer im Telefon ab, wenn es einem gut geht – dann ist im Notfall die Hürde, dort anzurufen, kleiner, weil man nicht lang nach der Nummer suchen muss. Was auch immer in eurem Kopf passiert – ihr seid nicht die einzigen, und ihr seid nicht allein.
Und wenn ihr jetzt wie ich neugierig seid, was Janna aus der Idee mit der Memospende gemacht hat und wie es mit Mika und Lynn ausgeht: »Memories of Summer – Wer bist du ohne Vergangenheit?«, erschienen bei Oetinger Moon Notes, ist ab morgen, am 8. Oktober, überall erhältlich, wo es Bücher gibt.
Vielen dank für diesen offenen ehrlichen und ungeschönten Beitrag! Ich wünsche dir von Herzen, dass du etwas für dich findest,was dir eine Leiter sein kann, um aus demnächsten tiefen Loch wieder herausklettern zu können!