Mittwochnachmittag saß ich an meinem Computer, dachte mir nichts Böses, als plötzlich der Strom ausfiel. Und es war nicht nur mein Arbeitszimmer, oder nicht nur unser Haus: Es war die ganze Straße, mindestens. Nicht, dass das zum ersten Mal passiert wäre: Wir wohnen seit Herbst 2015 in Stolberg, und seitdem hatten wir bestimmt schon zwei größere Stromausfälle. Lästig, weil man nicht einfach eben die Sicherung einschalten kann, sondern warten muss, bis das Stellwerk oder wo auch immer der Fehler passiert ist das wieder hinbekommen hat.
Weil der ganze Tag schon dunkel und verregnet war, wie auch die Tage davor, setzen wir uns ins Wohnzimmer, zündeten ein paar Kerzen an und warteten. Ich versuchte, mit dem Handy über Twitter, Facebook etc herauszufinden, was passiert war und vor allem, wie schnell es vorbeisein würde. Aber das Netz war auch tot. Mein Mann, der einen anderen Telefonanbieter hat, hatte mehr Glück, und plötzlich war unser Stromausfall das kleinste Problem. Unser Ort wurde gerade überschwemmt.
Es hatte Warnungen gegeben. In den letzten Tagen hatte NINA, die Was-will-sie-jetzt-schon-wieder-Katastrophen-Warn-App, mehrmals gepiepst. Aber NINA piepst viel, seit Covid angefangen hat, und ich maß dem keine große Bedeutung vor. NINA warnte vor Regen – braucht man dafür eine Warn-App? Reicht nicht der Wetterbericht? Oder auch nur der Blick aus dem Fenster? Ja, es regente. Seit Tagen, in Strömen und pausenlos, aber es war eben nur Regen, kein Orkan. Was sollte passieren? Ich hoffte, dass es nicht reinregnen würde, aber das Dach unseres betagten Häuschens hatte nie geschwächelt – ich zuckte die Schultern und klickte die Warnung weg. Ich dachte nicht an den Vichtbach.
Beim Rhein erwartet man ab und an Hochwasser. Ich hatte im ersten Semester meines Studiums Anfang 1995 in Köln ein ganz gewaltiges Rheinhochwasser miterlebt, nur anderthalb Jahre nach dem »Jahrhunderthochwasser« von 1993. Aber das war der Rhein. Der Vichtbach ist, wie der Name sagt, ein Bach, ein idyllisches, schmales, flaches Gewässer, das sich durch unsere bezaubernde Mittelstadt zieht. Die Vicht mündet auf Höhe des Ortausausgans in die Inde, die Inde in die Rur, die Rur in die Maas, und damit in das erste Gewässer, von dem man schon mal außerhalb unserer Region gehört haben könnte.
Und ja, es gab hier schon mal ein Hochwasser, 2007. Auch eine »Jahrhundertflut«, und wir hatten das im Hinterkopf, als wir unser Haus kauften – was hieß, dass wir nicht direkt am Bach wohnen wollten, so hübsch das auch sein mochte, weil wir unseren Keller gerne trocken haben und das Erdgeschoss auch. Aber das Haus in der Altstadt, immer noch in Bachnähe, haben wir aus anderem Grund nicht gekauft, um dann unser Traumhaus auf einer kleinen Anhöhe auf der anderen Seite der Bahn zu finden, mit schöner Aussicht auf die Burg und sowieso perfekt für uns.
Diese Anhöhe hat uns gerettet. Während unten in der Altstadt und auf der Talachse die Leute evakuiert wurden, saßen wir bei Kerzenschein im Trockenen – der Vichtbach ist Luftlinie nur hundert Meter von uns entfernt, aber die gut zwanzig Höhenmeter machen den Unterschied zwischen Stromausfall und Katastrophe. Das wahre Ausmaß konnten wir, mit immer wieder wegbrechendem, schneckenlangsamen Internet, nicht erahnen – nur, dass es wohl bis zum anderen Tag dauern würde, bis der Strom wiederkommen würde. Manchmal gelang es mir, das Lifeblog der Aachener Nachrichten reinzuladen, und mit jedem Update wurde es schlimmer. Ich wickelte mich in eine Decke, machte einen Wein auf und las im Licht einer Taschenlampe, um auf andere Gedanken zu kommen, und ging irgendwann ins Bett in der Hoffnung, mit Strom aufzuwachen.
Erst am anderen Tag zeigte sich für uns das Ausmaß der Katastrophe. Die gesamte Innenstadt war überflutet – das Stadtarchiv ein Opfer des Wassers, unwiederbringbar, die Stadtbücherei, unsere Buchhandlung, die Apotheke, wo ich gerade erst ein Rezept zum Abholen bestellt hatte … Im benachbarten Eschweiler hatte die Inde das Krankenhaus erwischt, alle Patienten mussten evakuiert werden, und mein Mann, der Medizintechniker, kam von der Arbeit und berichtete, dass die ganze Krankenhaustechnik, darunter zwei MRT-Geräte, abgesoffen waren. Das Wasser, das die Regionalbahnstecke überspült hatte und die Europastraße geflutet, konnte man es sogar von unserer Haustür aus sehen.
Wir wussten, was für Glück wir gehabt hatten – aber wir hatten immer noch keinen Strom, kein Warmes Wasser, kein Telefon oder Internet, und so packten wir unsere Taschen und fuhren zum Haus meiner Schwiegereltern am Niederrhein. Ich war völlig durch den Wind, aber meine Tasche war bereits gepackt. Sie war seit letztem Sommer gepackt, als ich mitten in der dicksten Depression viel Zeit und Energie in das Packen einer Notfalltasche investiert hatte, die alles, was ich brauchen würde, von der Haarbürste über Schreibzeug bis hin zum Aquarellkasten und Leatherman-Werkzeug alles Lebensnotwendige enthielt, alles in Gelb, weil ich wusste, ich würde mich im Notfall über die Farbe freuen.
Dabei hatte ich nicht an Naturkatastrophen gedacht, sondern an eine Psychiatrieeinweisung, weil ich wusste, dann würde ich nicht in der Lage sein, selbst zu packen – aber ich wollte im Zweifelsfall auf alle Eventualitäten gewappnet sein. Gebraucht hatte ich die Tasche noch nie, sie wog gefühlt einen Zentner – jetzt musste ich nur noch meinen Laptop einpacken und war fahrbereit. Die Schwiegereltern, selbst gerade im Urlaub, wussten Bescheid, ebenso wie die Nachbarn, die auf das Haus aufpassten, damit die uns nicht für Einbrecher hielten. Unterwegs kam ich dann auch endlich wieder richtig ins Internet, das Autoradio hatte Nachrichten für uns – die Rurtalsperre würde überlaufen, die Steinbachtalsperre drohte zu brechen, über hundert Menschen tot, über tausend vermisst …
Wir wussten, dass unsere ganze Region betroffen war, aber es war nicht nur die Region. Links und rechts des Rheins waren die Bäche und kleinen Flüsse geschwollen und über die Ufer getreten mit einem zigfachen ihrer üblichen Wassermenge, in Rheinlandpfalz, in Belgien und den Niederlanden. Der Kreis Ahrweiler, wo ich dreimal mit dem Jugendrotkreuz zelten war. Das Bergische Land. Düsseldorf, wo nicht der Rhein über die Ufer getreten war, sondern die kleine, unscheinbare Düssel. Besonders schlimm getroffen Hagen, überall Zerstörung. Autos trieben über Straßen, Menschen wurden beim Versuch, kniehohes Wasser aus ihren Kellerräumen zu schüppen, von der Flut überrascht, eingeschlossen, ertranken. Ein Jahrhunderthochwasser. Mal wieder. Diesmal richtig.
Wir hatten DVDs mitgenommen, aber wir sahen nur Nachrichten, während wir im Wohnzimmer der Schwiegereltern saßen und uns wie Eindringlinge fühlten. Verschlangen jedes Update der EWV, unserer Energie- und Wasserversorgung, bezüglich der Frage, wann der Strom wiederkommen würde – zu dem Zeitpunkt gab es in ganz Eschweiler und Teilen Stolbergs kein Trinkwasser mehr, weil eine Leitung gebrochen und Flusswasser eingedrungen war. Alles verwüstet, Menschen verzweifelt – ich kannte zwar den Begriff »Survivor’s Guilt«, die Schuld der Überlebenden, aber an dem Abend packte sie mich wirklich, und so sehr wir unter dem tagelangen Stromausfall gelitten hatten, so belanglos fühlte sich das plötzlich an, bis ich für mich zu dem Schluss kam, dass es kein Wettstreit ist, wem es am Schlechtesten geht, und wir uns wegen unserer eigenen Situation schlecht fühlen durften, auch wenn es anderen viel, viel schlimmer ergangen war.
Ich schlief wenig und schlecht in der Nacht, wurde am anderen Morgen von einer Kreissäge geweckt und war froh über die Aussicht, dass die Pegelstände wieder sanken und in unserem Viertel der Strom wieder da war. Vom Gepäck her hätten wir eine Woche oder mehr am Niederrhein bleiben können, hatten uns schon mindestens auf das Wochenende eingestellt, waren für Samstag schon halb mit meiner besten Freundin verabredet, waren dann aber doch heilfroh, nach Hause fahren zu können.
Es war nicht meine erste Naturkatastrophe. 2005 arbeitete ich in Münster, als ein Schneesturm, wie sich noch nicht einmal meine weit über achtzigjährige Oma erinnern konnte, über das Münsterland herzog, meinen Wohnort von der Außenwelt abschnitt und mich auf dem Heimweg nach mehrstündiger Taxiodyssee bei meinen Eltern auf dem Dorf stranden ließ – und hatte noch Glück im Unglück, denn mein Kollege aus Ochtrup hatte tagelang keinen Strom. Und natürlich habe ich in der Zeit auch den Sturm Kyrill miterlebt, der den Wallnussbaum meiner Oma in den Garten des Probstes kippen ließ. Und das Rheinhochwasser von 1995, das ich bereits erwähnt habe. Jahrhundertwetter, Jahrhundertwetter …
Nicht nur wir machten uns auf den Weg nach Stolberg. Auch Armin Laschet kam, Ministerpräsident von NRW. Gegenwärtig ist er der Kanzlerkandidat, und das erwähne ich deswegen, weil ich hoffe, dass, wenn sich jemand in drei Jahren durch mein Blog arbeitet, sich niemand mehr an ihn erinnern kann. Er posierte im Regenmantel, zeigte sich beeindruckt von den Schäden (größer als in Altena, da können wir uns was drauf einbilden!) und dass er hier nicht mit Experten, sondern mit richtigen Menschen sprechen konnte, und ließ sich life ins Fernsehen schalten. Und saß schon am Abend trocken in einer Talkshow, die eilig zum aktuellen Anlass ihr Thema gewechselt hatte.
Und da saß er dann, der Christdemokrat, und musste sich Fragen zum Klimawandel stellen. Klimawandel! Muss das Thema jetzt sein? Ist das nicht pietätlos, schon wieder die Regierung in Sachen Klima in die Pflicht zu nehmen, wenn so viele Menschen ihr Obdach verloren haben, die tot sind, noch vermisst werden? Ja, verdammte Axt, wann soll man denn sonst darüber reden? Aber natürlich ist er gegen den Klimawandel, der Herr Laschet. Da muss man was machen … aber sozialverträglich, natürlich. Da darf man die Wirtschaft nicht vernachlässigen. Und an die Arbeitsplätze denken!
Da habe ich ausgemacht und bin kotzen gegangen. Jahrhunderthochwasser! Ich kann das Wort nicht mehr hören. Jahrhunderthochwasser, das klingt, als ob sowas nur alle hundert Jahre passiert. Ich bin jetzt 46 Jahre alt, und das war bestimmt mein achtes Jahrhunderthochwasser – seit ich erwachsen bin. Der Klimawandel, das ist nicht das drohende Gespenst am Horizont, die finstere Zukunft – das ist jetzt, das ist unsere Gegenwart. Die NINA der Welt piept seit Jahren, Jahrzehnten, und wird immer weggedrückt.
Und jetzt werde ich zynisch, so zynisch, dass ich das mit einem Warnhinweis versehe. Contentnote: Zynismus. Denn das, was hier gerade passiert, diese Katastrophe, die unsere frisch geteerte Rathausstraße in eine Trümmerlandschaft verwandelt hat – die ist super für die Konjunktur. Nichts treibt den Konsum besser an als Menschen, die, um alles gebracht, sich komplett neu eindecken müssen. Sollten wir nicht ermutigt werden, neue Autos zu kaufen, um die kränkelnde Autoindustrie zu retten? Alle ineinander verkeilten Autowracks sind aus dem Verkehr, da werden Neuwagen fähig. Drei neue MRTs fürs Krankenhaus? Millionenumsatz. Wenn unser Bürgermeister die Gesamtsumme der Schäden in Stolberg auf eine Milliarde Euro schätzt, bedeutet das an anderer Stelle: Eine Milliarde Euro an Aufträgen für Waren und Dienstleistungen.
Das rettet nicht diejenigen, die ihre Leben verloren haben, das hilft nicht denen, deren Existenz in Trümmer gegangen ist, das ersetzt nicht die verlorenen Erinnerungsstücke, die unwiederbringbaren Schätze aus dem Stadtarchiv – aber irgendwo am anderen Ende steht jemand, in dessen Taschen Geld wandert. Darüber spricht niemand, natürlich. Und ich glaube jedem, der gerade entsetzt, bestürzt betroffen ist. Niemand will das, was hier über uns hereingebrochen ist. Aber es wird in Kauf genommen – und wenn die Wirtschaft wichtiger ist als der Klimaschutz, muss man das Kind auch mal beim Namen nennen. Der Klimawandel ist das beste Konjunkturpaket.
Am Ende, um »Ladykillers« zu zitieren, sind das nur drei Cent für jeden Versicherten, und die Konjunktur wird angekurbelt. Der Klimawandel selbst ist das Beste, was der Wirtschaft passieren kann, jeder Wirbelsturm, jedes Hochwasser, und deswegen wird jeder, der die Wirtschaft gegenüber dem Klima priorisiert, auch nichts ernsthaft unternehmen, um den Klimawandel aufzuhalten – und man KANN ihn aufhalten. Ausbremsen. Wenn wir jetzt handeln, wenn wir die Prioritäten anders stecken. Aber die CDU trägt stolz das Christentum im Namen, und Jesus hätte bestimmt zugestimmt, dass die Wirtschaft das Wichtigste ist.
Ja, ich weiß, ich bin zynisch, und in diesen Tagen weiß ich nicht, wohin mit mir, meinem Zynismus, meiner Verzweiflung. Das Stadtarchiv, die Buchhandlung, die Apotheke, die Menschen, die ihr Leben verloren haben – für so viele kommt jede Hilfe zu spät. Klimawandel tötet. Menschen, Tiere, die Umwelt. Alle, außer der Konjunktur. Und wer die Wirtschaft über Menschenleben setzt – der hat am Ende nur noch die Wirtschaft.
Nicht nach uns die Sintflut. Mit uns. Sie ist längst da.
Die Nachrichten versuche ich seit Jahren zwar zu verfolgen, aber nicht zu nah emotional an mich heran zu lassen.
Zu schrecklich ist das, was tagtäglich in der Welt geschieht. Ich versuche, mich lieber auf das zu konzentrieren, was ich tun kann, um Dinge zu verbessern, statt mich davon entmutigen zu lassen, was alles noch zu tun ist.
Und jetzt sitze ich weinend vor deinem Blogeintrag.
Denn der zeigt ganz deutlich, wie schlimm die Lage ist.
Nicht nur beim Klima, sondern vor allem in den Köpfen der Menschen.
Danke, für starke Worte.
Ich rappele mich dann gleich wieder auf, rücke meine Brille zurecht, und überlege, wie ich dieses Gefühl nutzen kann, um mehr zu tun, ohne zu verzweifeln.
Gute Idee mit der Notfalltasche – vielleicht schaffe ich es ja, das auch endlich mal umzusetzen.