Ich weiß nicht mehr, wann ich das erste Mal der Löffeltheorie begegnet bin, aber plötzlich sehe ich sie überall – eine Metapher, um zu verdeutlichen, wie Menschen mit Depressionen und anderen chronischen Krankheiten selbst für alltägliche Dinge nicht die nötige Energie aufbringen, weil alles, was sie tun, an ihrer Kraft zieht, am Beispiel von einem Kontingent Löffel, von denen man einen nach dem anderen abgeben muss. Versteht mich nicht falsch, ich finde es wichtig, dass die Leute verstehen, welche Herausforderungen der Alltag an chronisch kranke Menschen stellt, auch wenn man nicht vierundzwanzig Stunden mit Kranksein beschäftigt ist. Nur, von allen Dingen, die Kraft, Energie und Ausdauer verkörpern … Löffel?
Ehrlich, das Löffelbild hinkt, aber gewaltig. Mir reicht ein einziger Löffel. Ich kann damit meine Cornflakes essen, den Tee umrühren, Grünkohleintopf in mich hineinschaufeln, lasse einmal Wasser drüberlaufen und kann ihn am nächsten Tag wiederverwenden. Die Löffeltheorie stammt aus Amerika, wo andere Redewendungen üblich sind, aber im Deutschen buchstablich den Löffel abgeben – das habe ich so schnell nicht vor. Mir mangelt es nicht an Löffeln. Mir mangelt es an Kraft.
Stellt euch keine Schublade mit Löffeln vor. Denkt an einen Akku, der in Null-Komma-Nichts den Geist aufgibt, selbst wenn man keine anstrengenden Aufgaben mit dem Gerät gemacht hat – und nach einer Nacht am Strom ist das Mistding noch nicht einmal voll geladen. So geht es mir gerade. Meine Tage sind kürzer als die anderer Leute. Ich verbringe im Schnitt vierzehn Stunden mit Schlafen, oder genauer: Mit dem Versuch zu schlafen. Danach bin ich immer noch erschöpft und wie gerädert. Es fühlt sich an, als schliefe ich wie ein Meerschweinchen, immer halb wach und bereit, sofort hochzuschießen.
Ich nehme jedes Auto wahr, dass an unserem Haus vorbeifährt, jedes Kind auf der Straße – eben Dinge, die über den Tag so passieren, wenn man erst um sieben Uhr früh eingeschlafen ist und dann zu einer Zeit zu schlafen versucht, die normale Leute mit Wachsein verbringen, und mein Zimmer zur Straße rausgeht und ich nur bei offenem Fenster schlafen kann, weil ich sonst zu rasenden Kopfschmerzen neige. Wenn ich irgendwann aufstehe, bin ich wie zerschlagen. Und die Chance für rasende Kopfschmerzen ist immer noch hoch.
Ich habe mir jetzt eine App installiert, die meine Schlafphasen überwacht, und – so präzise und wissenschaftlich fundiert diese Ergebnisse jetzt sein können – es sieht so aus, als ob ich nur jeden Dritten Tag überhaupt Tiefschlaf- und REM-Phasen erlebe, ansonsten wechseln sich nur Wach- und Leichtschlafsphasen ab. Ich denke nicht, dass eine Handyapp da der Weisheit letzter Schluss ist, aber ich werde mit meiner Ärztin über den Verdacht reden, dass ich nicht nur nicht gut einschlafen kann, sondern meine Schlafqualität insgesamt mies ist.
So oder so bleibt mir ein deutlich verkleinertes Zeitfenster, um meinen Alltag zu schaffen. Alles, was ich tue, zehrt an meinem ohnehin schmalen Kraftbudget. Ich brauche Anlauf, um mir auch nur einen Kaffee zu kochen. Es fühlt sich nicht an wie Depressionen, ich habe den Antrieb, ich will es machen, aber mir fehlt einfach die Kraft. Ich arbeite jeden Tag an meinem Buch, die Ideen sind ja da und der Spaß auch, aber ich schaffe es nur für kurze Intervalle, das nötige Energieniveau aufrechtzuhalten.
Andere Sachen bleiben dann entsprechend liegen. Haushalt? Wird überschätzt. Der kann auch mal warten. Ich gehe optimistisch davon aus, dass es eine vorübergehende Phase ist, dass es von selbst wieder besser wird, dass sich meine Schlafqualität verbessert und dann auch die Kraft wieder da ist. So, wie es mir gerade geht, ist das kein Dauerzustand, normalerweise habe ich mehr Kraft, aber gerade ist es extrem.
Und so wie mir geht es vielen – man ist gerade nicht akut krank, man hatte auch schon viel schlechtere Zeiten, aber eben auch schon viel, viel bessere. Ich habe eine ganze Schublade voller Löffeln. Oder eine ganze Spülmaschine voll, um ehrlich zu sein. Aber der Akku ist leer. Und es gelingt mir nicht, ihn auch nur einmal anständig voll aufzuladen. Wenn ich sehe, was meine Autorenkollegen alles schaffen, auf die Beine stellen … Da fühle ich mich hilflos, schuldig, wie ein Versager.
Ich weiß, ich bin keiner. Ich wünschte, ich könnte die Präsenz zeigen, die ich gerne hätte. Wieder die Rampensau rauslassen, wie früher. Es ist nicht drin, und ich fühle mich schuldig deswegen, als würde ich meine Karriere, meine Leser aus Faulheit vernachlässigen. Selbst wenn ich weiß, dass ich nicht allein bin, dass es viele gibt wie ich: Man vergleicht sich doch immer mit denen, die mit Vollgas durch das Leben düsen, und sieht nur, was man selbst nicht mehr bieten kann. Wird das irgendwann wieder besser? Hoffentlich. Aber normal? Von der Idee werde ich mich verabschieden müssen. Ich werde nicht mehr normal. Ich muss nur lernen, mich zu akzeptieren. wie ich bin – andere, das weiß ich, tun das bereits. Nur ich nicht.