Ich hatte das große Glück, in einer Familie aufzuwachsen, in der wir Kinder nach unseren Talenten und Interessen gefördert wurden. Meine schriftstellerischen Ambitionen, die ich schon in einem Alter, als mein Berufswunsch noch »Seeräuber« lautete, hatte, wurden ernstgenommen und nicht ausgelacht – aber das gleiche galt auch für meine anderen Begabungen. Natürlich war ich schon von kleinauf ein Geschichtenerzähler – aber ich habe auch den ganze Tag gesungen und ein Bild nach dem anderen gemalt.
Am Ende der Kindergartenzeit hatte ich die dickste Bildermappe der gesamten Einrichtung. Später brachte meine Mutter, die selbst eine begabte und begeisterte Zeichnerin war, mir diverse Tipps und Tricks bei, ich nahm an einem Portraitzeichenkurs für Jugendliche statt und genoss den wirklich sehr guten Kunstunterricht an meiner Schule. Während meine Eltern fanden, dass man Geschichtenschreiben nicht wirklich lernen kann, außer durch machen, bekam ich Gitarrenunterricht an der Musikschule, sang in meiner ersten Folkband, schrieb Lieder, und malte, worauf ich Lust hatte.
So ging ich auch durch Studium und Berufsausbildung: Ich schrieb, machte Musik, und malte, alles mit Leidenschaft und durchaus netten Ergebnissen. Aber es kristallisierte sich heraus, dass meine Hauptbegabung doch eindeutig im Schreiben lag. Und während ich immer weiter Musik machte und in der Filkszene eine Community fand, in der ich mit meinen schrägen Liedern gut hineinpasste und Erfolgserlebnisse hatte, wenn auf den Conventions das Publikum lauthals mitsang, blieb meine Kunst immer weiter auf der Strecke.
Schuld war nicht mangelndes Feedback für meine Bilder – ich wohnte zu dem Zeitpunkt mit zwei Freundinnen zusammen, die wirklich sehr, sehr gut zeichnen und malen konnten und die auch meine Bilder mochten, und ich konnte sogar über das Internet ein paar Kommentare bekommen, wenn ich sie in der Elfwood-Community teilte: Aber ich merkte immer stärker, dass ich nicht konnte, was ich können wollte. Ich setzte für Musik und Kunst die gleichen Maßstäbe an wie für die Schreiberei, in der ich sah, wie ich immer und immer besser wurde, und ich verglich mich mit anderen – meinen Mitbewohnerinnen oder den Bildern auf Elfwood. Und es machte mich unglücklich.
Meine Produktivität ging immer weiter zurück und versiegte dann ganz. Ich versuchte noch, ein paar Illustrationen zu meinen »Chroniken der Elomaran« anzufertigen, aber ausgeredchnet Illustrationen waren das, was ich am schlechtesten von allem konnte. Nach der Natur zeichen konnte ich, auch wenn meine Billder immer eher grob und alles andere als fotorealistisch wurden, aber sie waren durchaus ausdrucksstark, und ein Händchen für Farben hatte ich auch. Nur ein Bild aus dem Kopf aufs Papier bringen – das konnte ich nicht. Nicht so, wie ich es vor meinem inneren Auge sah.
Meine Mitbewohnerinnen hatten genau da ihre Stärke. Sie malten ihre Rollenspielcharaktere rauf und runter, sie dachten sich Geschichten aus, die sie in Form von Bilderzyklen umsetzten, und neben ihnen sah ich nur, was ich nicht konnte. Irgendwann 2001 hörte ich auf zu malen. Ich hatte ein Bild sogar schon vorgezeichnet, es sollte ein Aquarell werden, aber ich packte den Block weg und nie wieder aus. Ich konzentrierte mich aufs Schreiben, und nebenbei machte ich immer noch Musik, auch wenn meine Produktivität als Liedermacher deutich zurückging, je mehr meine literarische Produktivität stieg, weil beides die gleiche künstlerische Ader von mir anzapfte.
Was das Schreiben anging, erfüllte ich mir meinen Lebenstraum und machte es zum Beruf, und das Malen vermisste ich nicht. Es war für mich zu der Zeit die richtige Entscheifung: Ich war nicht in der Lage zu mögen, was ich zustandebrachte, es machte mich nicht glücklich, und nur weil ich eine gewisse Begabung für Kunst hatte, war sie so viel kleiner als mein Schreibtalent, und ich schuldete niemandem, etwas daraus zu machen.
Aber das Schreiben als Beruf brachte eine Sache mit sich, mit der ich nicht gerechnet hatte: Ich verlor das Schreiben als Hobby. Und ich merkte mehr und mehr, dass ich noch ein kreatives Ventil neben der Arbeit brauchte, um meine künstlerischen Speicher wieder zu füllen. Kein Problem – ich hatte ja immer noch die Musik, auch wenn ich wegen meiner verschlechterten psychischen Gesundheit nicht mehr auf viele Conventions gehen konnte, aber dafür hatte ich jetzt eine Gesangslehrerin, und ich genoss das Gefühl, wie sich meine Stimme entwickelte.
Singen ist ein gutes Ventil. Doch dann kam Corona, und mein Gesangsunterricht fiel weg, nachdem meine Leherin und ich keine Möglichkeit fanden, für Fernunterricht zusammenzukommen – und ich musste feststellen, dass ich es nicht vermisste. Dafür fing ich, nach fast zwanzig Jahren ziemlich überraschend, an, Lust aufs Malen zu bekommen. In meiner Facebooktimeline teilten viele Leute ihre Kunst, und als der Inktober kam, das Zeichenpendant zum Naronwrimo, wuchs die Lust, es endlich wieder selbst zu versuchen.
Ich fand meine Kiste mit den Farben und Zeichenblöcken – im Keller, in einem feuchten, kalten Raum; meine Aquarellfarben waren ausgeblüht, die Ölkreiden verschimmelt, alles ein trauriger Anblick – aber mein Wunsch zu malen wurde davon nur noch größer. Ich beschloss, in neue Farben zu investieren, wälzte Rezensionen, arbeitete mich durch viele Stunden Youtube-Videos, kaufte Farben, Blöcke und Skizzenbücher, mehr Farben und mehr Blöcke und mehr Skizzenbücher, las alles über Pigmente, was mir in die Finger kam, und schaute noch mehr tolle Youtube-Videos.
Ich verstand Techniken, von denen ich früher keine Ahnung hatte, begriff, dass ich meine Aquarellfarben früher immer falsch benutzt hatte, und fertigte von allen meinen Farben die wunderbarsten Musterkarten an, um zu sehen, wie sich vermalten und wo ihre Stärken und Schwächen waren. Ich erklärte meiner Mutter den Unterschied zwischen englischen, russischen und japanischen Aquarellfarben, und ich besaß sie alle. Ich eignete mir ein gewaltiges theoretisches Wissen über Farben an – nur eines tqt ich nicht: Malen.
So sehr ich es liebte, für meine Farbswatches Farben übers Papier fließen zu lassen, so sehr scheute ich davor zurück, es mit richtigen Bildern zu versuchen. Das erste, was ich versuchte, eine Adaption eines Selbstportraits von Kirchner, scheiterte gnadenlos, doch das zweite Bild, ein Freidhofsengel nach einem Foto, das ich einmal in Berlin aufgenommen hatte, wurde sogar sehr gut: Aber anstattt mich das beflügelte, hängte es die Messlatte nur noch höher. Was, wenn das nächste nicht so gut wird? Wenn ich versage und das gute Papier vergeude? Wenn ich nicht meinen eigenen Ansprüchen genüge?
Je mehr und je besser ich mich theoretisch auf das Malen vorbereitete, desto mehr stellte ich mir für die praktische Umsetzung selbst ein Bein. Ich sah, wie meine Freunde auf Facebook, die zum gleichen Zeitpunkt wie ich wieder mit dem Malen angefangen hatten, ein Bild nach dem anderen produzierten und immer besser wurden, und fühte mich abgehängt, ohne es auch nur versucht zu haben. Es gelang mir nicht, meine Ansprüche runterzuschrauben: Zwanzig Jahre später habe ich nichts gelernt und erwarte, mit allem, was ich anfasse, so gut zu sein wie im Schreiben – etwas, das ich über Jahrzehnte intensiv und produktiv geübt, geübt, geübt habe.
Mein Kopf ist voller toller Ideen für Bilder – aber kaum eines davon fange ich an. Ich stehe mir selbst im Weg. Versagensängste für etwas, das nur ein Hobby sein soll, das muss mir erstmal jemand nachmachen … und ich glaube, das tun in Wirklichkeit viele. Leute, die eigentlich eine Begabung haben und Lust, mehr daraus zu machen, und deren innerer Kritiker loslegt, bevor sie sich auch nur ans Werk gemacht haben. Diese kleine Stimme, die meint, es wird bestimmt nichts, lass es gleich bleiben, dann machst du auch nichts kaputt, lies lieber erst noch diese Anleitung, dieses Handbuch, diesen Ratgeber …
Mein Vater hat früher immer einen Spruch gebracht, den ich ganz toll fand und bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit zitiert habe: »Kunst kommt von Können. Käme es von Wollen, müsste es Wulst heißen«. Heute ist dieser Spruch mein größter Feind. Und er ist ziemlich kacke. Das Wort »Gatekeeping« kannte ich damals noch nicht, aber heute sehe ich es in diesem Spruch personifiziert.
Als ob man, um Kunst zu schaffen, Musik zu machen, Geschichten zu schreiben, eine Prüfung ablegen müsste, um es auch nur versuchen zu dürfen. Als ob das Talent an einer »Du musst SO groß sein, um mitfahren zu dürfen« Latte gemessen würde. Als ob es nicht erstmal einfach nur darum ginge, eine Spaß daran zu haben, etwas zu erschaffen – egal, wie gut es wird. Besser geht es immer. Ich schreibe wirklich gut und habe trotzdem noch ganz viel Luft nach oben. Eine Geschichte kann ich überarbeiten, bei einem Bild geht das nicht so gut, aber ich kann ein anderes Bild malen, das besser wird.
Munch hat den »Schrei« zigmal gemalt und das Kranke Kind auch. Van Gogh hat so viele Sonnenblumen gemalt, bis er selbst wahrscheinlich keine mehr sehen konnte. Man kann alles besser machen – aber nur, wenn man es auch macht. Gebt euch einen Ruck. Macht es einfach. Und wo ihr gerade dabei seid, stupst mich an, damit ich meine Farben auspacke und auch einfach etwas damit mache. Es muss nicht gut werden. Nur bunt.
Und auf dem Weg dahin mich glücklich machen, denn dafür ist Kunst da. Nicht für andere, nicht, weil wir unserem Talent irgendwas schulden. Und wenn ihr nicht wisst, wie die Nass-in-Nass-Technik funktioniert, oder wie ein Fünfzehn-Punkte-Plot aussieht, oder wie man Flagollet-Töne anschlägt – scheiß der Hund drauf. Erschafft Bilder, Geschichten, Musik auf Basis von dem, was ihr jetzt schon könnt, und freut euch daran, besser zu werden. Versackt nicht in Youtube-Tutorials. Zerdenkt es nicht. Es gibt auch zu viel Vorbereitung. Macht es einfach. Endet nicht wie ich. Seid glücklich.
Kunst kommt von Machen.