Hier ist er dann, der lang angekündigte Rückblick auf 2020. Bestimmt würde man sich auch noch an dieses Jahr erinnern, wenn ich den Rückblick irgendwann im Herbst 2027 veröffentlichen würde – nur, will man das? Ist es nicht schlimm genug, dass ich jetzt, wo 2021 so schön angefangen hat, noch mal an dieses Jahr, von dem man nicht spricht, erinnern muss? Aber ich will trotzdem erzählen, wie es mir gegangen ist. 2020 war ein Jahr, in für mich dem gute und schlechte Dinge passiert sind – und rückblickend denke ich, die guten Dinge haben letztlich überwogen, aber es hat sich über weite Strecken nicht so angefühlt.
Dabei hat es toll angefangen, das Jahr. Ende 2019 hatte ich endlich meine Schlafprobleme in den Griff bekommen, über Wochen ein Leben geführt wie ein normaler Mensch, der morgens aufsteht und sich abends ins Bett legt und dann auch schläft. Ich dachte, es wäre auf einen Wechsel meiner Medikamentenmarke zurückzuführen, und ich hoffte, es wäre von Dauer. Ich tat alles, um das nicht wieder einreißen zu lassen, und verbrachte lieber Silvester allein auf meinem Balkon, um kurz nach Mitternacht ins Bett gehen zu können, statt auf der kleinen Party mit Freunden, auf der mein Mann war. Es war ein schöner, entspannter, friedlicher Start in das, was ein großartiges Jahr werden sollte, das Jahr, in dem ich meine literarischen Schulden ein und für alle mal tilgen und danach von der Last befreit sein sollte, Bücher auf Kommando fertigzuschreiben.
Diese literarischen Schulden – das habe ich leider zu spät verstanden. Ich kenne ja viele Autorenkollegen, und so hatte ich gelernt, dass es unter Profis durchaus üblich ist, Bücher auf Basis von Exposee und Leseprobe zu verkaufen und dann zu schreiben in dem beruhigenden Wissen, dass diese Arbeit auch bezahlt wird und nicht nur für die Schublade ist. Mein böses Erwachen in dieser Hinsicht kam, nachdem ich im Winter 2015 meine »Spiegel von Kettlewood Hall« auf Basis von genau so einer Leseprobe mit Exposee an den Knaur-Verlag verkauft hatte – und feststellen musste, dass ich völlig ungeeignet bin, ein Buch auf Kommando fertigzuschreiben.
Es ist nicht das Tagespensum – ich haue routiniert auch große Wortzahlen am Tag raus, und ich kann das diszipliniert über langen Zeitraum tun, um nicht unmittelbar vor der Deadline noch ein halbes Buch verbrechen zu müssen. Aber das Wissen, dass dieses Buch jetzt nicht mehr scheitern darf, lähmt mich. Ich schreibe immer noch viele Geschichten vor die Wand, oder lasse sie einfach ein paar Jahre ruhen, bis ich wieder bereit für sie bin. Ich habe viele Eisen im Feuer, schreibe üblicherweise viele Bücher parallel, und jedes von ihnen hat das Recht, auch mal nichts zu werden. Meine Plots sind komplex, und nicht alles, was in der Idee toll aussah, funktioniert auch in der Praxis.
Ich gebe die wenigsten Bücher auf, ich hoffe bei allem, dass ich es noch irgendwie retten kann, wenn die Zeit dafür bereit ist – aber ein bereits verkauftes Buch muss auf Kommando und Knopfdruck fertig werden. Ich kann nicht meinem Ansprechpartner im Verlag sagen »Ach, diese Geschichte! Fragt mich in drei Jahren noch mal.« Deadline ist Deadline, und bis zur Deadline muss das Buch im Verlag liegen und nicht nur fertig sein, sondern gut. Und damit komme ich nicht gut zurecht. Über die Kettlewood-Ziellinie hat mich meine Agentin quasi an den Haaren schleifen müssen, und das Buch ist fristgerecht fertiggeworden und dazu noch gut, aber ich habe selten einen Schreibprozess so wenig geliebt wie bei diesem Buch.
Danach war klar: In Zukunft biete ich nur noch fertige Bücher an. Den Druck möchte ich nicht nochmal haben. Schön und gut, da gab es nur ein Problem: Bereits ein Jar vor »Kettlewood« hatte ich meine »Neraval-Sage« (damals noch unter dem Arbeitstitel »Fälscher-Trilogie« an den Verlag Klett-Cotta verkauft. Fertig war zu dem Zeitpunkt der erste Band, den zweiten hatte ich vor die Wand gefahren, aber großzügig beschlossen, dass ich den bestimmt retten kann, wenn ich einen Verlag dafür habe und weiß, dass es was werden muss. Und dabei blieb das dann erstmal: Das Retten des zweiten Bandes schob ich vor mir her, und obwohl das »Gefälschte Siegel« vier Jahre im Lektorat verbrachte, nutzte ich die Zeit nicht für die flachliegende Fortsetzung – und so kam, was kommen musste. Ich musste sie auf Kommando fertigschreiben. Unter Zeitdruck. Und gut.
Ich gehe hier gerade ein bisschen ausführlicher auf die Zeit vor 2020 ein, weil ich echt lang nicht mehr regelmäßig gebloggt habe. »Das gefälschte Herz« wurde eine Tour de Force. Ich zitterte, ich litt, ich hatte keinen Plot – aber das Buch musste fertigwerden, fristgerecht, alles andere hätte das Todesurteil meiner professionellen Laufbahn bedeutet. Ich hatte wegen meiner psychischen Erkrankung die Stelle in der Bücherei verloren und war wegen meines unregelmäßigen Schlafrhythmus nicht imstande, eine andere Angestelltentätigkeit anzunehmen – die Selbständigkeit war meine letzte Chance, und ich war nicht bereit, mich von meiner kranken Psyche kleinkriegen zu lassen. So viel hatte sie sie mir schon ruiniert, aber das nicht!
Also habe ich mich durchgebissen. Habe Blut und Wasser geschwitzt. Habe beim Körper einen Kredit an Energie aufgenommen, rückzuzahlen in Form positiven Leserfeedbacks. Die Deadline wurde knapp wie nur was – ich habe die erste Hälfte überarbeitet ins Lektorat gegeben, da schrieb ich noch an der Zweiten. War bis kurz vorm Schluss überzeugt, ein unsägliches Machwerk produziert zu haben, bis ich buchstäblich auf den drei Metern die Kurve bekommen habe und am Ende ein Buch hatte, auf das ich wirklich stolz sein konnte. Und ich war es – aber ich war auch so platt, wie das nur irgendwie ging.
Noch so eine Tour de Force, das wusste ich, schaffe ich nicht: Aber da war noch die Kleinigkeit dritter Band, auf den der Verlag als nächstes warten würde. Anders als den zweiten hatte ich den noch nicht vor die Wand gefahren. Aber dafür hatte ich beim zweiten Band immerhin ein Wrack, das ich ausschlachten konnte. Vom dritten Band hatte ich nichts, noch nicht einmal wirklich viel Plot – ich hatte eine Wendung, um die herum ich das Buch aufziehen wollte, aber wenig Konkretes. Und noch mal alles in einem halben Jahr runterschreiben – ich wusste, das schaffe ich nicht. Also habe ich, dachte ich, vorgesorgt. »Das gefälschte Land« wurde einer meiner beiden Nanowrimo-Romane 2019, um so viel wie möglich noch im alten Jahr zu schaffen und dann 2020 nur noch die zweite Hälfte schreiben zu müssen. Und zumindest dieser Plan ging auf: Beide Nanos wurden gewonnen, und auch wenn ich diverse Szenen noch im November wieder verworfen und mittdendrin nochml neu angesetzt hatte, konnte ich zufrieden der Agentin melden, dass die ersten 200 Seiten im Kasten waren und bereit, als Leseprobe an den Lektor zu gehen.
Und damit bin ich jetzt endlich da angekommen, wo ich frisch und munter ins neue Schreibjahr 2020 startete. Schöne runde Jahreszahl. Ein Schaltjahr, das mir einen ganzen zusätzlichen Schreibtag ermöglichte, um mein Ziel zu erreichen. Wach. Ausgeschlafen. Gesund. Und dann passierten, noch im Januar, noch bevor Corona Deutschland erreichte, verschiedene Dinge, die mein Jahr entgleisen ließen, kaum das es begonnen hatte. Ich bekam erst Probleme mit meinem alle paar Jahre wiederkehrenden benignen Lagerungsschwindel – eine gutartige Störung, bei der sich im Innenohr Kristalle bilden, die dem Körper Drehbewegungen vorgaukeln, die nicht da sind. Im Schlimmsten Fall, beim Schlafengehen, fühle ich mich damit wie ein Hühnchen am Spieß, oder als ob ich einen unendlichen Abhang hinunterkullere.
Es ist möglich, das medikamentös zu behandeln, aber nicht bei mir: Die entsprechenden Mittel haben eine Wechselwirkung mit meinen Neuroleptika, die dauerhaft das Herz schädigen können, ein Risiko, das kein Arzt eingehen will, dafür ist der Schwindel zu harmlos. Und man bekommt ihn weg, mit Training: Ich kann mit bestimmten Übungen mein Hirn dazu bringen, den falschen Schwindel regelrecht rauszurechnen. Funktioniert dann übrigens auch mit echtem Schwindel, was ich vor Jahren auf einer dann sehr lustigen Ärmelkanalkreuzung feststellen konnte, bei der ich problemlos in Schräglage herumlaufen konnte, ohne dass mir irgendwie schlecht geworden wäre. Der Lagerungsschwindel ist immer lästig, aber nach ein, zwei Wochen überwunden, aber im Januar, als ich mir noch kein Polster angeschrieben hatte, hieß er, dass ich schnell hinter meinem Ziel zurückblieb und in die roten Zahlen rutschte – und als er vorbei war, hatte mein Körper ein neues Spielzeug entdeckt: Meine Gebärmutter.
Dass ich transgender bin, ist für mich üblicherweise kein körperliches Problem. Für alle Scherereien, die ich mit Körper und Verstand sonst haben mag, bin ich mit den leichtgängigsten Perioden überhaupt gesegnet. Keine Beschwerden, praktisch nie Schmerzen, schnell vorbei – man kann sich das nicht besser wünschen. Hinzu kommt, dass ich mit Mitte vierzig stramm auf die Wechseljahre zugehe und sich damit die Lage noch weiter entspannt hat, sofern es mich nicht stört, nur noch alle paar Monate meine Tage zu bekommen. Ich bekam sie im Januar, zum ersten Mal nach fast drei Monaten Pause – und sie waren gekommen, um zu bleiben. Nicht einmal schmerzhaft, nur lästig – und vor allem ging es mir dann doch an die Psyche, dass mein Körper überhaupt nicht damit aufhören wollte, mich daran zu erinnern, dass ich eine Frau zu sein habe.
Ich machte das einen Monat lang mit, ehe ich zum Arzt ging, der dann feststellte, dass meine Gebärmutter praktisch nur noch aus Myomen, gutartigen Geschwüren, bestand, und bot mir eigentlich nur eine Option an: Alles raus. Gebärmutter, Eierstöcke, das volle Programm. Kein Zeitdruck, es besteht keine Lebensgefahr, nur wenn das nicht rauskommt, wird es auch nicht besser … Ich entschied mich dagegen. Es gibt wenige Dinge, vor denen ich größere Angst habe als vor einer Vollnarkose und der Aussicht, daraus nie wieder aufzuwachen, und selbst wenn die allermeisten Operationen problemlos verlaufen, bleibt doch immer ein gewisses Grundrisiko, und für eine Sache, die lästig war, aber nicht lebensbedrohlich, war mein Leidensdruck nicht groß genug, um meinem Körper so einen Eingriff zuzumuten und ohne echte Not ein Organ zu entfernen.
Ich mag mich, wie ich bin, und ich hatte Angst – auch wenn ich darüber mit niemandem gesprochen habe – dass eine Entfernung meiner weiblichen Fortpflanzungsorgane bei mir Gender Dysphoria auslösen könnte; die Vorstellung, nicht mehr komplett zu sein, verursachte mir größeres Missbehagen, als ich ansprechen konnte. Ich bat mir beim Arzt Bedenkzeit aus, und gut zwei Wochen später war der Spuk vorbei, die Blutungen hörten auf und kamen in der Form auch bis heute nicht wieder. Mich gegen die OP zu entscheiden, war also offenbar das Richtige für mich – und selbst wenn, die Option steht ja immer noch offen: Umgekehrt wäre das nicht so.
Aber wir hatten inzwischen Mitte/Ende Februar, und ich hatte Wochenlang mit körperlichen Unannehmlichkeiten herumlaviert und längst nicht so viel geschrieben, wie ich gehofft hatte, und dann war da noch ein anderes Problem: Ich hatte die fünf Kapitel vom »Gefälschten Land«, die ich im Nanowrimo geschrieben hatte, gelesen. Und so großen Spaß ich auch gehabt hatte, sie zu schreiben, so sehr schmerzte mich die Feststellung, dass ich das allermeiste von ihnen noch mal komplett neu schreiben musste. Ich hatte einen kapitalen Fehler begangen: Ich hatte meinen Hauptplot aus den Augen verloren.
Nicht, dass ich diesen Fehler noch nie gemacht hätte. Im Gegenteil – mein allererster fertiger Roman, »Eine Flöte aus Eis«, krankte an genau dieser Sache: Ab dem Auftreten des Glückritters Felder im vierten Kapitel drehte sich das Buch weniger um die Suche der Elfen nach den vier magischen Instrumenten, sondern Felders Abenteuer als Prinz auf Abwegen und dem Verlust seines Königreichs an die Dunklen – ein strukturelles Problem, das sich nicht einfach hätte rauseditieren lassen und letztlich der ausschlaggebende Grund war, dass mir die damalige Programmleiterin der Hobbit-Presse nach Prüfung des Gesamtmanuskripts eine Absage für das Buch erteilt hatte, eine Entscheidung, die ich letztlich nachvollziehen konnte.
Und jetzt? War ich auf dem besten Weg, ein Buch zu schreiben, das sich wunderbar psychologisch auf den Konflikt zwischen Kevron und Tymur konzentrierte und dabei völlig aus den Augen verlor, dass es da noch diese Kleinigkeit mit den Dämonen gab. Und wo ich mich 1997 noch damit entschuldigen konnte, dass ich einfach noch sehr jung war und noch nie einen ganzen Roman geschrieben hatte, konnte ich mich 2020 nicht mehr so einfach herausreden – ich hätte es besser wissen müssen. Und ja, natürlich wird es eine große Rolle im »Gefälschten Land« spielen, wie Kevron und Tymur jetzt miteinander umgehen, aber doch nicht auf Kosten des ganzen Dämonenplots!
Ich konsultierte die Beste Agentin der Welt, und sie teilte meine Bedenken: da müssen mehr Dämonen rein! Und so, wie ich das Buch angefangen hatte, ließen die sich nicht so einfach unterheben wie Eischnee. Ich musste nicht nur einen tollen Prolog schreiben, wovor ich mich im Nano gedrückt hatte und der unbedingt nötig war, nachdem die ersten beiden Bände so schöne Prologe hatten – ich musste auch meine ersten fünf Kapitel nahezu komplett von vorn aufziehen. So wurden viele Szenen, die ich eigentlich sehr liebte, wieder gestrichen: Ich hatte auch so schon relativ wenig Handlung auf 200 Seiten, die Dämonen einfach dazuzuschreiben, hätte das Buch extrem aufgebläht und zäh und schleppend gemacht.
Vielleicht packe ich die gestrichenen Teile einmal als Outtakes auf die Webseite, ich lösche ja nichts, sondern speichere es nur anderswo, aber auch wenn ich zum Glück schnell eine Idee hatte, wie und wo ich die Dämonen zurückbringen konnte, ohne große Abstriche an der Causa Kevron zu machen, war das ein großer Rückschlag. Es war fast März, und anstelle des dreiviertelfertigen Buches, das ich bis dahin hatte haben wollen, hatte ich eine hundertseitige Leseprobe. Und Plot? Plot hatte ich auch nicht nennenswert viel. Mir blieben also gut sechs Monate, um ein fertig überarbeitetes Buch beim Verlag einzureichen – und nicht nur irgendein Buch, sondern der fulminante Abschluss dieser Trilogie, die von sich behauptete, intelligenter, raffinierter und überraschender zu sein als jede andere und die mir ungefähr tausend lose Enden zum Auflösen übriggelassen hatte.
Ich schob das ein bisschen vor mir her, genau wie das Corona-Virus, wegen dem ich mir wirklich keine Sorgen machen wollte – schließlich neige ich auch so schon zum Grübeln und Bangen, und ich wollte es mir nicht unnötig schwer machen. Erstmal stand ja etwas Großartiges ins Haus: Die Leipziger Buchmesse und das zeitgleiche Erscheinen des »Gefälschten Herzens«. Ich hatte ein Erfolgserlebnis bitter nötig, vor allem mit diesem Buch, das mich so unglaublich viel Kraft gekostet hatte. Aber Leipzig sollte es richten. Meine Lesungen waren geplant – einmal auf der Fantasy-Leseinsel, einmal bei der großen Fantasy-Lesenacht, ein Spektakel, auf das ich mich ganz besonders freute – dazu ein vom Verlag organisiertes Essen mit Bloggern …
Der zweite Teil einer Reihe bekommt nicht das gleiche Ausmaß an Publicity wie der erste, aber der Verlag hatte sich trotzdem voll reingehängt, und ich freute mich auf Leipzig wie nur was. Die Buchmesse ist ohnehin immer eines meiner Jahreshighlights, und dieses Jahr sollte wieder besonders schön werden – aber dann begann die Zitterpartie. Das neuartige Coronavirus erreichte Europa. Die Buchmessen London und Bologna wurden abgesagt oder verschoben (und dann abgesagt), aber Leipzig kündigte bis kurz vorm Schluss noch an, auf jeden Fall an der Buchmesse festzuhalten, und ich war fest entschlossen, auch hinzufahren, und wenn ich mich da zehnmal mit Covid anstecken würde (ja, ich war so doof). Ich meine, was soll auch schon passieren auf einer Messe, die regelmäßig die Verbindungsgänge schließt, damit sich die Leute im Gedränge nicht totquetschen?
Dass die Messe dann, auf den allerletzten Drücker, doch abgesagt wurde, war die einzige richtige Entscheidung, schon mit Hinsicht auf Deppen wie mich, die ohne Rücksicht auf Verluste ihre Buchparties feiern wollten. Aber mir brach es trotzdem das Herz. Gerade weil der zweite Teil nicht das Marketingbudget des ersten hatten, konzentrierten sich die geplanten Aktionen auf das Messeumfeld, und die waren jetzt alle abgeblasen. Mehr noch: In der gleichen Woche ging Deutschland in den Lockdown. Die Buchhandlungen, in denen das »Gefälschte Herz« eigentlich hübsch auf den Novi-Tischen liegen und die Leser umschmeicheln sollte, waren geschlossen.
Das Buch erschien in ein Vakuum hinein, in dem es praktisch unsichtbar wurde. Natürlich konnte man es bestellen, und gerade die kleinen, unabhängigen Buchhandlungen zeigten, was sie drauf haben, und flitzten mit ihren Bücherboten von Tür zu Tür, während Amazon Lieferengpässe verkündete und, vorgeblich, um medizinischen und lebensnotwendigen Artikeln Vorrang einzuräumen (also zum Beispiel Parfüm und Vibratoren) die Lieferfristen aller Bücher »wird in vier Wochen geliefert« setze. Neben der Buchmesse fiel damit der Riese des Onlinehandels für mein Buch de fakto weg – und auch wenn es bei Verlag und Barsortiment problemlos lieferbar war und auch im örtlichen Buchhandel innerhalb eines Tages zu bekommen, musste man dafür überhaupt erst einmal wissen, dass es existiert. Und so traurig es ist, das sagen zu müssen: selbst jetzt, mehr als ein halbes Jahr später, hat sich noch nicht wirklich herumgesprochen, dass von der »Neraval-Sage« inzwischen schon zwei Bücher erschienen sind.
Ich stürzte mich mit dem Elan der Verzweiflung in eine Online-Leserunde, deren handverlesene Teilnehmer mit Begeisterung bei der Sache waren und mir und dem Buch wirklich gute Noten erstellen. Was an Rezensionen zu dem Buch erschien, war durch die Bank begeistert – mit wenigen Ausnahmen waren die Leser der Ansicht, dass das »Gefälschte Herz« das »Siegel« in Sachen Plot, Spannung und Dichte noch mal übertraf, und ich konnte mich über begeisterte Kritiken und einen Durchschnitt von über vier Sternen freuen – nur ist der Durchschnitt eben nicht alles, und sichtbarer wird ein Buch davon auch nicht. Ich verdanke es einer Hand voll wirklich engagierter Blogger und dem Social-Media-Team meines Verlags, dass das »Herz« zumindest Online ein bisschen Präsenz erhalten konnte. Aber die punktgenaue Wegbrechen der Buchhandelspräsenz hat ihren Schaden angerichtet. Als die Läden wieder aufmachen durften, waren inzwischen die April- und Mai-Novis draußen, und die Bücher aus dem März waren alte Hüte.
Ich war durch. Ich hatte ein Buch ohne Plot, einen Abgabetermin im Nacken, eine untergegangene Fortsetzung, und um mich herum brach die Zivilisation zusammen auf eine Weise, die ich nicht für möglich gehalten hätte. Ich campierte morgens vor der Aldi-Filiale in der Hoffnung, vielleicht doch noch ein Paket Klopapier zu bekommen, und hatte tagelang nur Pech, bis ich endlich eines ergattern konnte. Die Medien waren voll von kranken und sterbenden Leuten. Selbst ich verstand, dass das eben nicht nur eine dicke Grippe war, sondern eine Pandemie, an der weltweit Millionen Menschen sterben konnten und wahrscheinlich würden, aber es war vor allem das Verhalten der Gesunden, das mich in Angst und Schrecken versetzte.
Und dann kam der Absturz. Es fängt damit an, dass ich an drei Monate keinerlei Erinnerungen habe. Ich weiß nicht, was ich von April bis Juni 2020 getan habe – geschrieben, natürlich, Deadlines nehmen keine Rücksicht auf Pandemien, und ich kam nicht voran, aber das weiß ich nur, weil ich sehen kann, dass in dieser Zeit zwei oder drei neue Kapitel entstanden sind. Ich erinnere mich wirklich nicht. Ich hatte Geburtstag in der Zeit, den ich allein zuhause verbracht habe, aber auch da: keine Erinnerungen. Diese Zeit ist einfach ein Loch. Offenbar habe ich auch meiner Agentin in wildem Aktionismus gleich eine ganze Reihe von Projektentwürfen geschickt, ich habe rotiert und versucht, einen Anschein an Normalität zu erwecken – draußen ist die Pandemie, aber hier drinnen ist alles in Ordnung. Es war nichts in Ordnung. Ich konnte es mir nur nicht eingestehen.
Anfang Juli ging ich zum Arzt, und ab da erinnere ich mich dann auch wieder. Ich hatte keinen Termin, ich campierte vor der Tür meines Nervenarztes wie zuvor vor dem Aldi, um auf jeden Fall als erstes dranzukommen und einen Platz in der freien Sprechstunde zu bekommen, und als ich dann dran war, schaffte ich es, meine Karten auf den Tisch zu legen. Was ich hatte, war eine schwere Depression. Ich konnte nicht mehr. Ich bat meinen Arzt, mich krankzuschreiben, weil meine Chefim mir sonst nicht glauben würde, dass ich krank bin. »Aber Sie sind doch selbständig«, sagte mein Arzt. »Ich«, sagte ich. »Ich bin meine eigene Chefin. Ich brauche das schriftlich, damit ich akzeptieren kann, dass ich krank bin.« Der Arzt schrieb mich arbeitsunfähig, so wie er es auch mit einer ganz normal berufstätigen Person getan hätte, für sechs Wochen am Stück. Und ich machte mich an das, was sich wie meine professionelle Bankrotterklärung anfühlte.
Ich musste meiner Agentin reinen Wein einschenken: Ich schaffe die Deadline nicht. Ich schaffe nichts. Ich hatte bestenfalls ein halbes Buch, und ich war unfähig, auch nur eine Szene zu Papier zu bringen, geschweige den die brillante Qualität abzuliefern, die ich dem Verlag versprochen hatte. Meine Agentin, die mich seit bald zwölf Jahren kannte und in der Zeit Höhen und Tiefen erlebt hatte, konnte sich erst nicht vorstellen, dass es wirklich so schlimm sein könnte, während gleichzeitig an mir diese fiese Stimme nagte, die meinte, ich wäre überhaupt nicht krank, nicht einmal depressiv, nur ein faules Stück, das nicht arbeiten will. Das Hochstaplersyndrom ist eines meiner größten Probleme in der Depression – deswegen wunderte sich auch mein Arzt, der mich in zehn Jahren nie in der freien Sprechstunde gesehen hatte, so, dass ich plötzlich so aufgelöst da saß: Immer, wenn es mir wirklich dreckig geht, kommt gleichzeitig die Überzeugung, dass ich es nicht wert bin, anderleuts Zeit zu vergeuden, dass ich nicht den Patienten, die es wirklich verdient habe, die Arztkapazitäten wegnehmen darf … Ich war noch nie mit einer akuten Depression beim Arzt, bis jetzt, weil selbst ich verstand, dass es so schlimm war, dass es anders nicht mehr ging.
Auch die Agentin verstand, und sie übernahm die undankbare Aufgabe, das an den Verlag zu kommunizieren, während ich erwartete, dass das mein Ende sein würde oder zumindest das Ende meiner Laufbahn als Verlagsautorin. Psychisch krank, unzuverlässig, lässt Deadlines platzen … mit so jemandem möchte man nicht zusammenarbeiten. Die Angst, dass mich bei diesem Verlag, mit dem ich so glücklich war, jetzt alle hassen würden, machte es nicht einfacher, aus der Depression wieder rauszukommen. Und natürlich war der Lektor nicht glücklich – das ist niemand, wenn ein Buch verschoben werden muss. Er kündigte an, mit dem Verleger darüber zu sprechen – und das nächste, was wir hörten, war, dass er im Urlaub war. Bis zur nächsten Rückmeldung war das eine schlimme Zeit, in der es mir eher schlechter ging als besser. Bis zur nächsten Rückmeldung war das eine schlimme Zeit, in der es mir eher schlechter ging als besser. Ich verließ das Bett kaum, ernährte mich nur von Fruchtgummis – mit Vitaminen, sind schließlich gesund – und schrieb über Wochen kein einziges Wort.
Es wurde besser, als sich der Lektor nach seinem Urlaub zurückmeldete. Man war mir nicht böse. Wenn ich krank bin, bin ich krank, und wieder auf die Beine zu kommen, war das wichtigste. Selbst der Verleger persönlich richtete Genesungswünsche aus. Und auch wenn angedacht war, das Buch statt im Frühling im Herbst 2021 herauszubringen, bekam ich erst einmal keine neue Deadline, sondern nur die Auflage, wieder gesund zu werden, und dann sehen wir weiter. Ich habe geweint vor Erleichterung. Ich wünschte immer noch, dass ich den Termin hätte einhalten können, aber ich muss akzeptieren, dass ich eben nicht so gesund bin wie andere Leute.
Und ich weiß, dass sich dieser Fall nicht wiederholen wird: Wenn es noch nicht vorher feststand, dass nur noch fertige Manuskripte von mir angeboten werden, dann ist das jetzt gesetzt. Ja, dann schreibe ich eben mehr für die Schublade. Ich habe eine exquisite Schublade, das das angeht, und was immer ich in Zukunft da reinlegen muss, ist in guter Gesellschaft – und ich gebe die Hoffnung nicht auf, die Besten dieser eingelagerten Scripte doch noch irgendwann zu verkaufen: Die »Gauklerinsel« und die Abenteuer des Geisterfotographen Percy Jessup, die Jugendbücher »Geisterlied« und »Das Glasaugenhaus«, alles geliebt, alles noch nicht abgeschrieben.
Ab Herbst kam ich langsam wieder in die Gänge. Ich tastete mich in Babyschritten wieder an das Schreiben heran: ich zählte keine Wörter, ich war froh, einen ganzen Satz zu schaffen. Oder zwei. Oder drei. Im Oktober hielt ich an den Wochentagen tägliche Schreibsitzungen von zwanzig Minuten durch, und es fiel mir leichter als im Frühling oder Sommer, neue Ideen für meine Fälscher zu bekommen. Trotz des phantastischen Settings und der Tatsache, dass die Reihe seit über zehn Jahren in Arbeit war, ist die Geschichte jetzt ganz klar im Jahr 2020 verankert. So viel unterschwelligen Zeitbezug hatte ich noch in keinem anderen Buch: Zwar habe ich keine Seuche ausbrechen lassen, das wäre mir auch pietätlos erschienen angesichts all der Leute, die ganz in echt ihre Leben verloren haben, aber ich schickte meine Heldengruppe in den Lockdown und setzte sie sechs Wochen in der Akademie zu Ildenwik fest, was perfekt passte und zugleich das Problem löste, dass ich meinen großen Feldzug nicht im Winter stattfinden lassen konnten – etwas, über das ich mir keine Gedanken gemacht hatte, als ich 2010 meine Helden im Herbst aufbrechen ließ und das in die Überarbeitung übernahm, um bei der Arbeit am zweiten Buch zu merken, dass danach wohl ein Winter kommt.
Und während in der Welt um mich herum die Stimmen der Lügner immer lauter wurden, ob sie nun gegen Coronamaßnahmen demonstrierten oder Präsident der Vereinigten Staaten waren, wurde auch mein zehn Jahre alter Fälscherplot plötzlich tagesaktuell. Als ich dem dritten Teil den Titel »Das gefälschte Land« gab, war es noch eine ganz andere Welt, in der Obama für eine zweite Amtszeit kandidierte und Trump eine peinliche, aber weitgehend harmlose Castingshow moderierte und das Internet noch nicht in erster Linie Schwurblern und Verschwörungstheoretikern als Plattform diente, sondern sich Wissen schneller verbreitete als Lügen. Mit jeder Woche des Herbstes 2020 spielte mir die Wirklichkeit mehr in die Hand, und plötzlich schrieb sich dieses Buch wieder wie von selbst.
Es war ein Wagnis, mich unmittelbar nach durchstandener Depression und immer noch labil für den Nanowrimo anzumelden, und Wahnsinn, gleich zwei davon angehen zu wollen, aber es war nötig. Dieses Jahr hatte mir so viel ruiniert, ich war nicht bereit, mir auch noch meinen Nano nehmen zu lassen, weder von der Welt, noch von meiner Psyche – zumindest versuchen wollte ich es, mir das Schreiben zurückerobern mit Gebrüll und Kriegsbemalung. Ich schreibe seit zehn Jahren jedes Jahr zwei Nanos mit dem Ziel, mindestens einen davon zu gewinne, aber während ich noch allen Leuten verischerte, dass ich vorsichtig sein würde und mich zurückziehen, sobald es zu stressig würde, wusste ich genau, dass ich in diesem Jahr beide Nanos gewinnen wollte.
Und was soll ich sagen? Ich tat es. Problemlos, und ohne zu schwächeln, und mit der vollen Leidenschaft, die nötig ist, so eine Tour de Force durchzustehen. Ich verließ den November mit mehr Tatendrang und Energie, las ich hinengegangen war, mit einem gewaltig angewachsenen »Gefälschten Land« und einem mindestens halbfertigen Gaslichtroman, der den Arbeitstitel »Owls End« trägt und auch ein ganz tolles Buch wird.
In den Dezember ging ich mit Plot in Reserve, tollen Ideen, und dem Wissen, dass der Abschlussband der Trilogie ein Dickerchen wird, das ich anständig werde zusammenkürzen müssen, damit es nicht völlig den Rahmen sprengt – und dass es sich wie ein verdammt gutes Buch anfühlt, ein würdiges Ende, ein starkes Finale, auf das ich stolz sein kann. Und ich hoffe mal, dass das auch Lektor und Leser so sehen werden. Ich bin nicht mehr 2020 damit fertiggeworden, aber ich will ja auch 2021 noch was zu tun haben. So endete dann das Annus Horribilis auf einer wirklich versöhnlichen Note: Mit guten Texten, guten Freunden, und guter Laune. Und wirklich, das Jahr ist nicht schuld. Die Welt ist scheiße. Aber sie wird auch wieder besser.
Ich habe glaube ich noch nie so einen langen Blogartikel verfasst. Aber ich hatte auch noch nie so ein langes Jahr.