Im April 2011 erklärte ich nach gut einjähriger Arbeit meinen High-Fantasy-Roman Das gefälschte Siegel für fertig. Im Dezember 2014 verkündigte ich freudig, dass ich für diesen Roman einen Verlagsvertrag unterschrieben habe – und das bei nichts geringerem als meinem absoluten Traumverlag, wo ich bereits 1999 versucht hatte, meinen Erstling unterzubringen, und es danach immer und immer wieder versucht hatte, bis es dann mit meinen Fälschern endlich klappen sollte. Und seitdem hülle ich mich, was das Gefälschte Siegel angeht, in Schweigen. Ist der Vertrag geplatzt? Ist das Buch längst erschienen, und ich habe es nur niemandem verraten? Die Antwort ist simpler und komplizierter zugleich, aber die Zusammenfassung davon lautet: Ich schreibe gerade Das gefälschte Siegel.
Warum das? Ganz einfach. Das Buch, das ich vor sieben Jahren geschrieben habe, ist nicht gut genug. Damals war es sicherlich mit das Beste, was ich zustandebringen konnte, aber damals war ich sieben Jahre jünger, hatte noch nichts veröffentlicht, noch nie mit einem Lektor gearbeitet, und konnte vieles von dem, was ich heute kann, noch nicht. Und die Überarbeitung, die ich vorgenommen habe, um das Buch dann drei Jahre später dem Verlag anzubieten, verdiente letztlich diesen Namen nicht: Damit meine Agentin es noch zur Frankfurter Buchmesse mitnehmen konnte, habe ich im Harzurlaub jeden Abend zwei Kapitel durchgeacktert – mehr als eine sprachliche Politur war damit nicht möglich, aber eine sprachliche Politur war auch genau das, was ich mir unter einer Überarbeitung vorstellte. Und dass Überarbeiten nicht meine Lieblingsarbeit beim Schreiben ist, daraus habe ich nie einen Hehl gemacht.
So geriet mein Buch an einen Lektor, der von meinem Potenzial überzeugt war – wenn auch nicht von dem Buch selbst. Dass er trotzdem an mich glaubte, genug, um mir einen Vertrag zu geben: Chapeau. Aber während ich 2015 meinen Umzug vorbereitete und auf die Lektoratsanmerkungen wartete, kam das raue Erwachen: »So können wir das Buch nicht machen«, sagte der Lektor. Und punktgenau zeigte er mir auf, woran es mit meinen Fälschern hapert. Detailiert ausgearbeitete, psychologisch durchdachte Hauptfiguren bewegen sich durch eine Welt, die nur aus Pappkulissen zu bestehen scheint und in der außer meinen vier verkrachten Helden niemand zu leben scheint. Alles wirkt statisch, die vermeintliche Bedrohung ist nicht fühlbar, weil buchstäblich nichts und niemand da ist, um bedroht zu werden. Und als ich dann mein Buch das nächste Mal ansah, fiel es vor meinen Augen in sich zusammen. Aus meinem ganzen Stolz wurde ein miserables Machwerk.Zwei Jahre lang versuchte ich verzweifelt, das Buch zu überarbeiten, und kam nicht vom Fleck.
Eine Welt lässt sich nicht einfach unterheben wie Eischnee, aber es war noch mehr als das: Auch das, was ich an Handlung hatte, ergab an vielen Stellen keinen Sinn. Zwei meiner Hauptfiguren waren eben nicht die Wunderwerke an Persönlichkeit, als die ich sie mir eingebildet hatte, sondern Abziehbilder, die ich über weite Strecken selbst nicht verstand. Ich fühlte mich plötzlich zurückversetzt zu meinen Flöte aus Eis, meinem ersten fertigen Roman, 1997. Da hatte ich einen Kämpfer, den ich für verliebt hielt, statt ihn als den Stalker, der er war, zu erkennen, und der auf einem sinnlosen Kreuzzug gegen den Adel war, und eine elflische Jägerin, die sich vor allem dadurch auszeichente, keine Menschen zu mögen und erst recht nicht die Liebe des Stalkers zu erwidern. Schneller Vorlauf nach 2011. Da habe ich einen Kämpfer, verliebt, selbstgerecht, und eine Magierin, selbstverliebt, arrogant, und keiner von beiden erscheint mir plausibler als Lonnìl und Schwinge seinerzeit.
Und während ich einige Kapitel tatäschlich überarbeiten konnte – mit zusätzlichen Szenen, mehr Welthaftigkeit, lebendigen Nebenfiguren und weniger Monologen – mussten andere von Grund auf neu konzipiert werden, Kämpfer und Magierin generalüberholt und mit einem Leben versehen, das ihnen vorher abging, und mehr und mehr kristallisierte sich heraus: Während ich mit meiner Überarbeitung kämpfte, hätte ich das Buch zweimal neu schreiben können – warum tue ich dann nicht genau das? Meine guten Vorsätze für 2018 bestehen darin, mir das Glück beim Schreiben zurückzuerobern, und das kann ich nicht mit einer solchen Leiche im Keller, für die ich bereits einen Vertrag habe und einen Lektor, der ein bisschen zu geduldig mit mir war, mir keinen Druck gemacht hat, sondern darauf gewartet, dass bei mir der Knoten platzt. Nun denn, der Knoten ist geplatzt. Hat gedauert. War ein dicker Knoten.
Seit dem siebten von ehemals einundzwanzig Kapiteln wird also nicht mehr überarbeitet. Ich analysiere, plane, plotte, und lasse fließen. Stoße auf neue Plotprobleme und löse sie. Habe Spaß an meinem Buch. Freue mich, die Figuren gut genug zu verstehen, um ein Kapitel mal eben von einem Perspektivträger auf den anderen zu übertragen und ihm damit völlig neue Facetten abzugewinnen. Manchmal kommt eine Szene, die ist so gut, dass ich sie nahezu eins zu eins übernehmen kann. Zwei- oder dreimal ist das bis jetzt passiert – und ich bin inzwischen beim sechzehnten Kapitel angekommen. Den aller-allergrößten Teil schreibe ich also tatsächlich neu. Und ich staune darüber, wie leicht es mir auf einmal fällt, und wie viel ich auch in den letzten beiden Jahren noch gelernt habe. Ich klebe nicht mehr am Original. Ich lasse keinen Stein auf dem anderen, wenn es sein muss. Warum nicht gleich so?
Mein Denkfehler: Ich habe versucht, als Überarbeitung eine druckreife Version abzuliefern, und das kann nur in die Hose gehen. Ich bin so gut darin, mir selbst im Weg zu stehen, und mir gar keine Fehler mehr erlauben zu wollen, eine vollkommene Formulierung nach der anderen abliefern, das kann nur schiefgehen. Es geht nicht um ein Buch, das sofort in den Druck geht. Es geht um ein Buch, mit dem dann überhaupt erst die eigentliche Lektoratsarbeit anfangen kann. Ich richte mich im Geiste darauf ein, diesen Roman noch zwei, dreimal neu zu schreiben. Und es ist eine großartige Vorstellung. Ich liebe dieses Buch einfach. Und ich kann gar nicht erwarten (hoffentlich bis Ende März) meinem Lektor stolz die neue Fassung zu schicken.