Wie ich schon mal früher geschrieben habe, gehöre ich zu den Autoren, die gerne Rezensionen ihrer Bücher lesen, und zwar alle Rezensionen. Ich freue mich über ein Lob, aber ich finde auch kritische Kommentare interessant. Und auch wenn es nicht im meinem Sinn ist, den Lesern nach dem Mund zu schreiben und meine Plots nach Mehrheitsenscheidungen zu stricken, denke ich, dass ein Autor aus Rezensionen eine Menge lernen kann, vor allem, was sich besser machen lässt. Wer pauschal sagt »Der Rezensent hat keine Ahnung!«, »Der versteht mich/mein Genie/Kunst/Nichtzutreffendes bittes streichen nicht«, »Der will mich doch nur schlechtmachen!«, macht es sich zu einfach. Das heißt nicht, dass wirklich jeder Kritiker immer und überall recht hat – aber wenn sich bestimmte Kritikpunkte häufen, sollte das einem Autor zu denken geben.
Als die ersten Rezensionen zum Puppenzimmer eintrudelten, war ich froh über den insgesamt sehr positiven Tenor – es war meine erste Veröffentlichung, meine ersten Rezis überhaupt, und ich hatte keine Ahnung, wie mein verquerer Stil beim Leser ankommen würde. Insofern war es eine positive Überraschung, dass meine Sprache durch die Bank gelobt wurde und sich niemand über meinen antiquierten Duktus oder die Bandwurmsätze aufgeregt hat. An Kritikpunkten kamen vor allem zwei Dinge: Das eine war, dass vielen Lesern der Schluss nicht gefiel. Das war keine Überraschung für mich. Schon als ich die Rohfassung des Buches schrieb, lange bevor auch nur ein Verlagsvertrag dafür in Aussicht war, wusste ich, dass dieser Schluss kontrovers war und der Preis, Leser mit dem Ende zu überraschen, darin bestehen würde, dass entsprechend viele dieses Ende dann nicht mögen würden.
Das war also einkalkuliert, wurde von mir mit einem Nicken quitiert, und solange auch noch genug Leser dabei waren, denen genau dieser Schluss gefiel, hatte ich keinen Grund, irgendwas zu ändern. Vor allem, da dieses Buch geschrieben, veröffentlicht und fertig ist – Klappe zu, Affe tot. Mögt den Schluss des Puppenzimmers oder mögt ihn nicht, er ist, was er ist. Ich kann nur hoffen, dass ich die entsprechenden Leser nicht so weit vergrault habe, dass sie nie wieder ein Buch von mir kaufen werden. Aber ich werde immer versuchen, meine Leser zu überraschen, und das geht nur, wenn sie sich vorher an der Nase herumführen lassen. Wenn sie sich dann verarscht fühlen, habe ich Pech gehabt, und wenn sie sich freuen, dass sie meine Plots nicht vorhersehen können, bin ich da, wo ich hinwill.
Den anderen Kritikpunkt hatte ich nicht vorhergesehen, und als er das erste Mal auftauchte, habe ich noch gedacht, da hat jemand nicht richtig gelesen, mich nicht verstanden, etc. Aber es blieb nicht bei einer Rezi. Bestimmt ein Halbdutzend Rezensenten beklagten sich, dass die Figuren zu schematisch wären. Florence, die Hauptfigur, wurde ausdrücklich ausgenommen, ihr ausgefeilter Charakter gelobt – aber die Nebenfiguren, so der Tenor, blieben schematisch, wirkten wie Abziehbilder. Man kann mir glauben, das ist nichts, was ein Autor gerne lesen will. Ich mag meine Figuren. Ich stecke Arbeit in sie, ich freue mich, Ahnung von Psychologie zu haben, um sie interessant auszuarbeiten. Blöd, wenn das dann nicht beim Leser ankommt!
Ich habe also das Puppenzimmer nochmal kritisch gelesen, und gemerkt, woran es hakte. Es war mein erster Gehversuch im Genre Gaslicht/Mystery. Ich hatte mich jahrelang durch die Gaslichtliteratur der letzten 150 Jahre gearbeitet, war vertraut mit allen Funktionen und Mechanismen und bereit, jeden davon zu benutzen, um den Leser mit scheinbar Vertrauten zu ködern und ihm dann den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Und gerade weil ich mein Genre so genau studiert hatte, war jede der auftretenden Figuren das, was man erwarten konnte. Der zynische düstere Gentleman. Der kernige Hausbote. Die eisige Hausherrin. Das freundlich-naive Küchenmädchen. Ja, jeder von ihnen hatte einen eigenen Charakter, aber jeder von ihnen, von Florence abgesehen, blieb im Rahmen des zu erwartenden, war mehr die Kulisse, vor der ich meine Zaubertricks aufführen konnte, als wirklich Eigenständigkeit zu entwickeln.
In der High Fantasy war es bei mir anders, vielleicht, weil ich seit über zwanzig Jahren Fantasy schreibe, schon viele, viele Romane und entsprechend viele Figuren produziert und/oder verschlissen habe, und mich deutlich weiter von den Konventionen entfernt habe. Wenn man ein Genre im gleichen Maße parodiert, wie man es zelebriert, muss man aufpassen, dass die Figuren keine Abziehbilder werden. Was das Puppenzimmer angeht, kann ich das nicht mehr ändern. Das Buch ist im Kasten, positiv wie negativ. Aber ich kann meine Lektion daraus ziehen, wo es um zukünftige Gaslichtromane geht. Und jetzt, wo ich am Nachfolger des Puppenzimmers arbeite – nicht im Sinne von Fortsetzung, sondern im Sinne von »ein mindestens so tolles Buch für alle, die das erste mochen und mehr davon haben wollen«, habe ich die Gelegenheit zu zeigen, dass ich nicht zu stur bin, um Rezensionen zu beherzigen.
Wieder habe ich eine Ich-Erzählerin, von der ich nur hoffen kann, dass die Leser sie mögen werden, ihren differenzierten Charakter erkennen und sie nicht für einen zweiten Aufguss von Florence halten. Aber jede Figur, die Iris trifft, sei es am Anfang der Geschichte in der Textilfabrik oder später im Herrenhaus, hat eine eigene Agenda, eine Geschichte, Interessen, und mehr als nur einen Wesenszug. Ich habe sehr viele Figuren in den Spiegeln von Kettlewood, zum Teil mehr, als mir lieb ist, weil ich immer noch lieber Kammerspiele schreibe als Massenszenen und es mich etwas überfordert, eine Großfamilie beim Abendessen zu koordinieren, aber da muss ich durch, und es fällt mir leichter, weil diesmal jeder von ihnen durchdacht ist. Niemand in dieser Geschichte ist gut oder böse – in einem Buch, in dem es vordergründig über einen Kampf schwarz gegen weiß geht, ist in Wirklichkeit jeder grau.
Da ist die blinde Annie, die lügt und klaut und sich dann stundenlang im Gebet versenkt, um sich wieder von aller Schuld reinzuwaschen. Da ist Mr. Whitaker, der schlechtgelaunte, oft betrunkene Lehrer, hinter dessen desiullusionierter Fassade sich ein verschütteter Enthusiasmus verbirgt, der aber nicht ausreicht, um ihn zu erlösen. Da ist Tante Agnes, deren feindseliges Auftreten nicht darauf basiert, dass sie Iris allein ihrer Herkunft wegen ablehnen würde, sondern der Angst vor dem Ausgeliefertsein an eine Macht, von der Iris noch nichts ahnt. Und da ist der Toby Reynard, die vermutlich komplizierteste Figur des Buches – ein junger Mann, der aus Liebe zum Schurken wird und der einem nur leid tun kann, weil er schon verloren hatte im Moment seiner Geburt und ich leider für ihn kein Happyend aus dem Hut zaubern kann, selbst wenn es mir das Herz bricht.
Ich mag dieses Buch. Ich mag es wegen seines Plots, der so kompliziert ist, dass ich manchmal nicht weiß, ob ich wirklich in der Lage sein werde, ihn so umzusetzen, wie mir das vorschwebt. Vor allem aber mag ich es wegen seiner Figuren, von denen keine ein Abziehbild geworden ist. Zumindest für mich nicht.