Ich habe normalerweise kein Problem damit, wenn meine Protagonisten nicht immer die allerhellsten sind. Mir ist wichtig, dass die Leser das Buch selbst für intelligent halten, klug konstruiert, raffiniert, und geistig durchaus herausfordernd. Und natürlich sollen sie auch auf die Idee kommen, dass diese Autorin ein überaus kluger Kopf ist. Aber das geht auch mit Helden, die ein bisschen schwer von kapee sind – sofern sich das die Waage hält. Ich habe intelligente Figuren und solche, die weniger intelligent sind, so wie die Menschheit selbst auch bunt gemischt ist. Mein erster Icherzähler überhaupt, der namenlose Protagonist meiner Kriminalparodie Marlowe, Lime und Co., die ich mit stolzen fünfzehn Jahren geschrieben habe, war ein ausgesprochener Volldepp, und ein großteil des Humors dieser Geschichte und ihrer Fortsetzungen basierte darauf, dass »Co« keine Ahnung hatte, was um ihn herum vorging.
Das gleiche Prinzip hatte ich bei der Gauklerinsel, wo Roashan sich zwar selbst für einen brillianten Verstand hielt, tatsächlich aber nicht die hellste Kerze am Christbaum war – er war durchaus listig, mit einer überlebensfördernden Portion Bauernschläue, aber ihm fehlte die Gabe, Zusammenhänge zu durchschauen, und stolperte im Zweifelsfall über die eigene Selbstüberschätzung. Das war lustig, aber das bedeutet nicht, dass ich mich über weniger intelligente Figuren lustig machen möchte – was Roashan lustig machte, war sein aufgeblähtes Ego, und im gleichen Buch hatte ich mit Maris eine Perspektivträgerin, die eine geistige Behinderung hatte, und an der wirklich nichts zum lachen war – sie war eine herzzerreißend anrührende, vor allem aber starke Person.
Aber jetzt habe ich das Problem, dass meine Hauptfigur durchaus intelligent ist – ich aber Angst habe, die Leser könnten sie für dumm halten. Iris, Icherzählerin der Spiegel von Kettlewood, ist ein Mädchen, die ihr Leben lang gezielt von Bildung ferngehalten worden ist. Es ist ein Wunder, dass sie überhaupt hat Lesen lernen dürfen – ich habe im Rahmen meiner Recherchen die Protokolle der Parlamentsdebatten gelesen, in den die Frage »Bildung für Arme« kontrovers diskutiert wurde, mit der einhelligen Befürchtung, Bildung würde die Armen unzufrieden mit ihrer Situation machen und blutige Aufstände zur Folge haben, so dass eine allgemeine Schulpflicht erst so kurz vor Beginn der Geschichte eingeführt wurde, dass die Vierzehnjährige auf nicht mehr als drei, vier Jahre Schulunterricht zurückblicken kann.
Und auch den darf man sich nicht wie die Vermittlung einer soliden Allgemeinbildung vorstellen. In ihren zwei verpflichtenden Schulstunden am Tag lernen Iris und ihre Kolleginnen aus der Fabrik gerade genug Lesen, um Bibelverse, und auch nur Bibelverse, aufsagen zu können, ein bisschen Grundrechnen und vor allem Handarbeiten. Und die Hälfte des Unterrichts verschläft sie sowieso, weil sie nach einer acht- bis zehnstündigen Arbeitsschicht zu erschöpft zum Lernen ist. Sie sieht auch nicht, wofür sie diese Bildung jemals brauchen sollte – da die Kosten für den Unterricht ihr vom Lohn abgezogen werden und sie während dieser Stunden auch kein Geld verdienen kann, wäre ihr lieber, überhaupt nicht zur Schule gehen zu müssen, und verflucht die Jugendschutzgesetze, die ihr eigentlich helfen sollen. Kein Wunder, dass ihr Lehrer, der einmal enthusiastisch ausgezogen ist, den Armen Bildung zu bringen, ein desillusionierter Alkoholiker ist!
Aber die Darstellung von Iris wird damit zu einer Gratwanderung. Sie weiß nichts. Sie weiß, wie die Königin heißt und dass London die Hauptstadt ist, womit sich ihr Geschichts- und Geographiewissen erschöpft. Sie hat noch nie einen Elefanten gesehen. Und in einem Buch, das sich um ein Schachspiel dreht, hat sie erst einmal keine Ahnung, was Schach überhaupt ist. Trotzdem – Iris ist nicht dumm. Sie ist intelligent, verständig, durchschaut Menschen und Zusammenhänge schnell, und sie hat ein durchaus großes Lernpotenzial. Nachdem sie einmal ihre Defizite verstanden hat, einen Geschmack dafür bekommen, was es alles zu wissen gibt, entwickelt sie einen regelrechten Hunger nach Bildung, aber ihr fehlen derart viele Grundlagen, dass es schwer ist, überhaupt einen Ansatz zu bekommen, und sie muss sich von den ihren adeligen Cousinen dumm nennen lassen, was sie hasst.
Da ich das Buch komplett aus Iris‘ Perspektive schreibe – und was das betrifft, gibt es nichts engeres als eine Icherzählung – sind auch die Leser durch Iris‘ begrenzten Horizont eingeengt, aber natürlich, sie wissen es besser. Und ich will nicht, dass sie Iris für dumm halten. Ohnehin muss ich transportieren, dass Iris ein gänzlich unmoderner Charakter ist. Sie ist gehorsam bis jenseits der Schmerzgrenze, Kind einer Zeit, in der Folgsamkeit mit dem Rohrstock gelehrt wird. Iris erträgt Fremdbestimmung, sexuelle Belästigung, Armut, ohne sich zu wehren. Es ist kein Frauenbild, das ich als Vorbild propagieren möchte, aber ich mag es nicht, wenn die Heldinnen in einem historischen Setting anachronistisch frech und aufmüpfig alle Lehrmeinungen ihrer Zeit hinterfragen – mir ist wichtiger, ein realistisches Gefühl für die historischen Zustände zu vermitteln, und mir ist lieber, dass die Leser das Buch wutschnaubend gegen die Wand werfen wegen der Behandlung, die meine Protagonistinnen über sich ergehen lassen müssen, als dass sie von einem Leben in der viktorianischen Zeit träumen, weil da doch die Kleider so schön waren.
Jetzt habe ich also Iris, die weder gebildet ist, noch aufmüpfig, und ich habe Angst, dass die Leser an dieser Stelle zu dem Schluss kommen, dass ihnen eine unsympathischere Hauptfigur noch nie irgendwo untergekommen ist, dass ich ein archaisches Frauenbild vermittle, und dass sie keine Lust haben, diese Figur sechzehn lange Kapitel lang zu begleiten. Iris wird einen Wandel durchmachen, lernen, sich zu behaupten, lernen, ihre eigenen Forderungen zu stellen, aber es ist ein Weg bis dahin, und ich weiß nicht, ob jeder Leser die Geduld dazu aufbringen wird. Wenn sie vorher das Puppenzimmer gelesen haben, kennen sie Florence, und die war ganz anders – wilder, stolzer, verträumter. Florence kommt aus einer anderen Zeit, von 1871 bis 1908 tut sich eine Menge, sie hat deutlich mehr Bildung erleben dürfen und nicht ihr halbes Leben in der Fabrik gestanden, und überhaupt einen ganz anderen Hintergrund – aber Florence war eine Hauptfigur, die beim Publikum sehr gut angekommen ist, und ich fürchte, für meine arme Iris wird das eher nicht gelten.
Aber ich mag sie. Ich habe sie sogar sehr, sehr gern. Und darauf kommt es an.