Die Tage werden länger, grauer und dunkler, der November naht, und mich überkommt freudige Erwartung. Das war nicht immer so – früher war dieser Monat für mich eine trübe Zeit, aber vor zehn Jahren änderte sich das auf einen Schlag. Damals, 2006, machte ich zum ersten Mal beim Nanowrimo mit. Ich hatte keine großen Erwartungen, rechnete nicht im Traum damit, ein Ziel von 50.000 Wörtern in einem Monat schaffen zu können, aber ich hatte eine Motivation: Der Rowohlt-Verlag hatte einen Preis für ein phantastisches Jugendbuch ausgeschrieben, den ich unbedingt gewinnen wollte. Ich hatte eine Idee, und das seit August, aber der Einsendeschluss war im Dezember, und ich ging beriets im Sommer nicht davon aus, rechtzeitig fertig werden zu können, und versuchte es dementsprechend gar nicht erst. Dann, irgendwann Ende Oktober, schickte mir meine frühere Mitbewohnerin den Link zur Nanowrimo-Seite, weil sie meine Idee kannte und mochte, und meinte, damit wär doch der Wettbewerb kein Problem mehr – und als ich dann auch noch sah, dass die Filkerin, Autorin und Illustratorin Debbie Ohi einen täglichen Cartoon für den Nano zeichnete, meldete ich mich an.
Der Monat begann, ich kämpfte mit mir, meiner Protagonistin, dem Buch und überhaupt, und hing weit hinter dem Ziel zurück, bis am dritten oder vierten Tag der Knoten platzte, ich 2.800 Wörter an einem einzigen Tag schrieb und damit sowas wie einen Lebenszeitrekord aufstellte, und mein Ehrgeiz war geweckt. Ich stellte fest, dass es in meiner kleinen Heimatstadt noch eine zweite Teilnehmerin gab, die auch noch quasi um die Ecke wohnte, und die wiederum hatte Kontakt zur örtlichen Tageszeitung. November ist Saure-Gurken-Zeit, und so bekamen wir einen großen Artikel, »In 30 Tagen zum Roman«, mit Foto. Und was bis dahin ein kleines privates Projekt gewesen war, von dem ich nicht zu viel erwartete, entwickelte sich zu einem Kampf um Ehre und Lokalpatriotismus. Die Supermarktkassiererin erkundigte sich genauso gespannt nach dem Fortschritt meines Romans wie die Zahnärztin oder Leute, die ich einfach auf der Straße traf – und die Reporterin hatte bereits einen zweiten Artikel für den Dezember angekündigt, in dem sie über unsere Erfolge berichten wollte. Ich durfte nicht mehr verlieren.
Und ich verlor nicht. Gut, bei meiner Mitstreiterin Evelyn gingen die Wortzahlen durch die Decke, und sie hatte am Ende des Novembers locker das doppelte der nötigen Wortzahlen, wenn nicht noch mehr. Sie hat seitdem mehrere Romane veröffentlicht, diesen eingeschlossen. Aber ich knackte, mit Ach und Krach, die magische Marke von 50.000 Wörtern, und war seitdem angefixt. Ich habe seit 2006 keinen Nano mehr ausfallen lassen. Nachdem ich gelernt hatte, zu gewinnen, war es noch ein schwererer Kampf, auch das Verlieren zu lernen, aber jetzt, zehn Jahre und nicht weniger als sechzehn Romane später, betrachte ich mich als einen mit allen Wassern gewaschenen Naniten. Gut, die Romane sind nicht alle fertig geworden, aber viele von ihnen sind es, darunter solche Meisterwerke wie Die Gauklerinsel, Geisterlied, Die Mohnkinder oder Unterm Laub. Seit ich mich 2011 als Autorin selbständig gemacht habe und oft schon in anderen Monaten Nano-Pensum geschrieben habe, fordere ich mich heraus, in dem ich nicht einen, sondern zwei Romane schreibe. Und jetzt, zu meinem Zehnjährigen, will ich es richtig wissen.
Bis jetzt war mein Schreibjahr wenig zufriedenstellend. Ich habe zwei Romanverträge zu bedienen und darüber mehr geschwitzt, als sein sollte, und ich hänge weit hinter dem zurück, was ich mir selbst vorgenommen habe. Das Schlimmste ist, dass mir zwischendurch sowohl die Freude am Schreiben, als auch der Glauben in meine Fähigkeiten abhandenzukommen drohte, und auch wenn diese Gefahr jetzt abgewandt ist und ich wieder mit Eifer und Freude bei der Sache bin, ist mein schreiberisches Selbstbewusstsein angeknackst. Das Schreiben ist mein Beruf, und zwar der, den ich mehr liebe als jeden anderen, aber dann muss ich auch arbeiten, statt nur darüber zu jammern, wie schwer es mir fällt. Mir fehlt es nicht an Ideen, oder an Motivation, aber schlichtweg an Fleiß. Früher war das kein Problem. Vor ein paar Jahren habe ich routiniert täglich geschrieben, wann und wo immer ich war. Jetzt fallen mir routiniert täglich neue Ausreden ein. Der Nanowrimo soll Abhilfe schaffen. Ich muss mir beweisen, dass ich es noch drauf habe.
In diesem Jahr wage ich mich nicht an ein, nicht an zwei, sondern gleich an drei Nanowrimo-Projekte. Auf dem Speiseplan steht die Traumstadt, auf die ich mich seit dem Frühling freue und die meine neue Gauklerinsel werden soll; der dritte Percy-Band Marigold, der seit drei Jahren in Arbeit ist und endlich fertig werden soll, und nicht zuletzt Die Spiegel von Kettlewood, für die ich einen Verlag und eine Deadline habe und eine tolle Lektorin, die ich nicht enttäuschen will. Drei Romane sind viel. Sehr viel. In Zahlen entspricht das einem Ziel von nicht weniger als 150.000 Wörtern, gleichbedeutend mit ungefähr 750 Seiten in nicht weniger als einem Monat. Ist das schaffbar? Ist das für mich schaffbar?
Ich weiß es nicht. Vor vier Jahren hatte ich schonmal den Dreifachnano versucht und war damit klar überlastet, habe aber immerhin mit zweiten der Projekte den Sieg einfahren, während das dritte mit nur knapp über 10.000 Wörtern deutlich hinter dem Ziel zurückgeblieben ist. Obwohl ich in dem Monat mehr geschrieben habe als in jedem anderen meines Lebens, bis heute, betrachte ich diesen Versuch immer noch als Niederlage. Aber das war, bevor ich verlieren gelernt habe. Loslassen. Es ist nicht tragisch, wenn man den Nano nicht schafft, solange man Texte daraus mitnimmt, auf die man stolz sein kann. Letztes Jahr habe ich meinen Doppelnano sehr zufrieden verloren, das Kettlewood-Manuskript anhand der ersten vier Kapitel verkauft, und auch wenn ich keine Plakette mitnehmen konnte, eine tolle Zeit gehabt.
Und das ist mein Plan für 2016. Schauen, wie viel ich schaffe. Meine Grenzen wiederfinden, austesten und übertreffen. Und wenn ich merke, dass es nicht klappt, einen Schritt zurück machen, nicht meine Gesundheit aufs Spiel setzen, und an drei tollen Romanen so viel schreiben wie geht, passt, und Spaß macht. Ehrlich, ich habe keine Ahnung, wie ich drei Nanos schaffen sollte. Aber das hatte ich vor zehn Jahren nicht bei einem. Der November kann kommen. Ich bin bereit. Und bereit. Und bereit.