Ich habe abgeschrieben. Und es tut mir leid. Es ist bald dreißig Jahre her. Ich war im achten Schuljahr hatte im Englischunterricht eine Sechs geschrieben, sehr zu meinem Leidwesen und erst recht dem meiner Eltern, im Diktat. Zum Glück sollte es die einzige Sechs meiner Laufbahn bleiben, aber die Folgen waren drastisch. Rechtschreibung war noch nie meine Stärke, aber Englisch eigentlich eines meiner Lienblingsfächer, und dann sowas … Meine Mutter hatte den rettenden Einfall: ich sollte englische Texte abschreiben. Aus der Stadtbücherei lieh ich mir ein Drei-Fragezeichen-Buch aus, auf Englisch. Gutsortierte Bücherei war das, und Drei Fragezeichen habe ich schon immer geliebt. Also musste ich jeden Tag eine Seite aus dem Buch abschreiben, um mir die Rechtschreibung einzuprägen.
Ich wollte das Nützliche mit dem Angenehmen kombinieren: In dem Jahr hatte ich gerade meine erste Schreibmaschine bekommen, und es war an der Zeit, richtig tippen zu lernen. Meine Theorie: Wenn ich nach jedem Buchstaben erst eine Minute suchen muss, prägt sich mir die Rechtschreibung doppelt gut ein! Meine Mutter war wenig überzeugt, glaubte sie doch, nur handschriftlich ließen sich nachhaltige Erfolge erzielen, doch die Hauptsache war, ich tat überhaupt was für meine Englischkenntnisse. Gut anderthalb Kapitel habe ich auf diese Weise geschafft. Es muss gewirkt haben: Ich habe nie wieder eine Sechs im Diktat geschrieben – was auch daran liegen kann, dass ich danach nie wieder ein Diktat schreiben musste. Und weil ich nichts wegwerfen mag, erst recht nichts, was harte Arbeit war, habe ich diese Seiten immer noch. Irgendwo zwischen den alten hand- und mMaschinengeschriebenen Manuskripten aus meiner Schulzeit. Irgendwann digitalisiere ich die mal. Irgendwann.
Wenn ich heute über meine Ordner mit den Frühwerken stolpere – und da ich gerade umgezogen bin und sich weite Teile meines Besitzes noch in Kisten und Kartons befinden, kommt dieses Stolpern wortwörtlich und alltäglich vor – lese ich mit Spaß, was ich damals so verzapft habe. Oder mit Grausen. Ich war eine fleißige Jungautorin, sicherlich talentiert, aber noch meilenweit von der Druckreife entfernt, und das lese ich meinen alten Werken auch an. Ich kenne sie noch alle: Meine Krimireihen um den eindäumigen Orion West oder das Stümper-Team, meine Schenkelklopfer und Satiren, meine Gedichte, meine ersten Fantasyversuche, Kinderbücher, gescheitert allesamt. Bis ich meinen ersten Text von mehr als sechzig Seiten länge fertigschreiben sollte, war ich schon halb mit dem Studium fertig. Damals, als ich dreizehn war und ungelenk auf meine Schreibmaschine eintrommelte, wollte ich gerne ein Wunderkind werden – einschließlich reich und berühmt. Draus geworden ist dann nichts.
Und zwischen diesen Seiten stecken zwei Texte, die nicht von mir sind. Das eine sind, auf Englisch, die ersten anderthalb Kapitel von The Three Investigators and the Mystery of the Cranky Collector. Das andere ist auf Deutsch und mein Versuch, das Buch The River at Green Knowe von Lucy M. Boston zu übersetzen, weit bin ich damit nicht gekommen. Wenn ich heute auf diese Seiten stoße, erinnere ich mich, mit Freude oder Schrecken, an diese Gehversuche. Aber nicht im Traum würde ich auf die Idee kommen, es müsse sich um Bücher handeln, die ich selbst geschrieben habe. Wie sollte ich? Selbst wenn ich nicht mit einem unnatürlich guten Gedächtnis gesegnet wäre und mir auch weit zurückliegende Annekdoten schnell ins Gedächtnis kommen: Der Stil dieser professionell veröffentlichten Texte ist so weit entfernt von dem, was ich als Dreizehnjährige geschrieben habe. Ich kenne mich, meine Bücher, meine Figuren. Irrtum ausgeschlossen.
Genau das Gegenteil versucht uns momentan eine Indie-Autorin zu erklären. Ich kenne sie flüchtig, wir haben im gleichen Verlag veröffentlicht, bevor sie unter die Selfpublisher gegangen ist, und wir haben uns mal auf einer Buchmesse getroffen. Sie veröffentlicht fleißig ein Buch nach dem anderen – und bei dem letzten ist einer Leserin aufgefallen, dass es dieses Buch schon einmal gegeben hat, als Heftroman, die Namen anders, an einer Stelle ist in der neuen Version ein Handy eingebaut worden, aber ansonsten eins-zu-eins das gleiche Buch. Und nein, das Original war nicht von dieser Autorin. Auf Facebook folgte dann eine Erklärung – mitlerweile gelöscht, aber noch auf verschiedenen Webseiten zu finden: Upps, das kann mal passieren! Vor dreißig Jahren hätte sie einen Schreibmaschinenkurs gemacht, dafür als Fingerübung auch verschiedene Heftromane abgetippt, das aber wohl vergessen, und als sie jetzt beim Durchsehen alter Manuskripte über diese Texte gestolpert ist, hat sie gedacht, die müssten wohl von ihr sein …
Es ist ganz gut, dass sie den Beitrag wieder gelöscht hat, und ganz dumm, ihn überhaupt jemals gepostet zu haben. Die Erklärung ist so lächerlich wie die Behauptung Kapitän Schettinos, ins Rettungsboot gefallen zu sein. Ein Autor, selbst ein überaus fleißiger, kennt seine Geschichten. Und selbst wenn nicht, erkennt er den eigenen Stil. Diese Autorin ist drei Jahre älter als ich. Vor dreißig Jahren war sie dreizehn, vierzehn Jahre alt. Da merkt man den Unterschied. Aber die Reaktionen auf den Facebook-Post – zusammen mit ihm gelöscht, aber noch in Screenshots dokumentiert – zeigen vielerseits Verständnis: Kann ja mal passieren. Gut, dass du jetzt so ehrlich bist. Plagiate mogeln sich einem halt so dazwischen, das kann selbst Ministern passieren, ist ja nicht der Weltuntergang … Ehrlich, manchmal kann man gar nicht so viel fressen, wie man kotzen möchte.
Wie dummdreist kann ein Mensch sein? Gerade als Autorin sollte sie doch wissen, was geistiges Eigentum ist. Wie es sich anfühlt, ein Buch zu schreiben, und wie es sich anfühlt, bestohlen zu werden, die Früchte der Arbeit dann kostenlos auf einem Downloadportal zu finden. Ich bin schon plagiiert worden: Um 2002 herum hat ein Knilch die ersten elf Kapitel meines online veröffentlichten Romans Engelsschatten unter eigenem Namen in einem Forum gepostet. Er ist aufgeflogen, wurde aus dem Forum gekickt, und hat mir eine zweizeilige Entschuldigung geschickt: »Tja so lande ich hier….. Ich will mich entschuldigen das ich deine Gesichte geklaut habe ich werde das nie wieder machen . Hoffe das man mir verzeihen kann…..«
Und das war’s. Das war die ganze Entschuldigung. Und ich ging davon aus, dass Plagiate nur von denen verzapft werden, die selbst zu keiner kreativen Leistung in der Lage sind. Wie ein Autor, ein richtiger Autor, der eigene Geschichten geschrieben hat, plötzlich hingehen kann und das Werk eines anderen als das eigene ausgeben, das will mir nicht in den Kopf. Erfolgsdruck? Geldnot? Aber noch weniger verstehe ich, wie die Leser das mit einem Achselzucken abtun können, sich das am Ende positiv auf die Buchverkäufe des Plagiators auswirkt, und ein Jahr später steht der mit neuem Verlag und neuem Roman in den Bestsellerlisten. Und als Antwort darauf kann ich mir nur einen Satz geben, den ich in der Flöte aus Eis fast bei William Goldman abgeschrieben habe, aber nur fast: »Das Leben ist nicht gerecht. Daran wirst du dich gewöhnen müssen.«