Wie in jedem Jahr seit 2006 habe ich auch in diesem Jahr am Nanowrimo, dem (Inter)National Novel Writing Month, teilgenommen, und wie immer seit 2011 mit mehr als einem Projekt: Seit ich mich zur hauptberuflichen Schriftstellerin erklärt habe, ist das Nano-Pensum von 50.000 Wörtern im Monat nicht mehr so ungewöhnlich für mich, und weil ich mich fordern möchte und meine Grenzen ausreizen, verdopple ich und lege einen zweiten Roman drauf. In diesem Jahr waren es die Neuauflage von Lichtland, meiner Nano-Nemesis von 2007, und mein neuer Gaslichtroman Die Spiegel von Kettlewood. Gewonnen habe ich mit keinem von beidem, und statt mit 100.000 Wörtern bin ich »nur« mit knapp 65.000 aus dem Monat gekommen – aber anders als in früherem Jahren, in denen ich mein Ziel verfehlt habe, macht es mir diesmal weniger aus. Ich habe zwei tolle Bücher begonnen, an denen ich jetzt fleißig weiterschreiben werde und zu denen ich sehr positive Rückmeldung bekommen habe: Da sehe ich nicht die 15.000 Wörter, die mir zum Sieg fehlen, sondern die 35.000, die ich habe. Und die kann mir keiner wegnehmen.
Der Neuaufguss von Lichtland stellte sich erst einmal ziemlich sperrig heraus. Da ich den Charakter meiner Hauptfigur Nomi radikal verändert habe, musste ich aufpassen, nicht gleich wieder in alte Muster zu verfallen, und ich musste die ersten Seiten nochmal schreiben, als Nomi sich, kaum dass er den Mund aufmachte, wieder in den arroganten kleinen Schnösel aus der ersten Fassung zu verwandeln drohte. Dann hatte ich den Dreh raus, Nomi 2.0 gewann an Form und Farbe, und auch wenn ich die Eckpunkte der Handlung beibehalten habe, wurde doch eine ganz neue Geschichte daraus. Zumindest solange, bis Shen auftrat. Und da wurde es dann wirklich problematisch. Anders als Nomi sollte Shen nämlich seinen Charakter behalten – so sehr, dass ich mich in den Szenen mit ihm nicht von der alten Fassung lösen konnte und alte Dialoge abgetippt habe, statt ihnen neues Leben einzuhauchen. Als ich merkte, dass ich dabei war, statt Lichtland 2.0 nur noch Lichtland 1.2 zu schreiben, habe ich mit diesem Buch den Nano für beendet erklärt. Ich liebe diese Geschichte zu sehr, um sie noch einmal vor die Wand schreiben zu wollen. Lichtland braucht Zeit, und vor allem mehr eigenständigen neuen Plot.
Anders sah es bei meinem anderen Kandidaten aus. Kettlewood schreibt sich wunderbar. Meine Ich-Erzählerin Isis entwickelte sofort eine starke eigene Stimme, die noch nicht einmal heiser wurde, als ich den Namen aufgrund zeitpolitischer Bedenken in Iris änderte. Die Nebenfiguren standen ihr in nichts nach und verlangten nach einem anderen Schicksal, als ihnen die Epoche – die Geschichte spielt im victorianischen England 1871 – zugesteht, und überhaupt, das Zeitkolorit ging mir so leicht von der Hand, dass sich das Buch die ersten drei Kapitel über mehr wie ein historischer Roman anfühlt als wie ein Grusel- und Mysterybuch, da muss ich also noch einmal Hand anlegen. Ins Straucheln gekommen bin ich dann also erst, als meine Heldin das prachtvolle Landhaus Kettlewood erreicht hatte und mein liebevoll recherchierter Hintergrund über das Leben der Fabrikarbeiterinnen in der Textilindustrie mich nicht mehr weitertragen konnte, stattdessen eine verzweigte Adelssippe samt Personal in die Geschichte drängte.
Aber kein Grund zur Sorge. Ich habe nur das Tempo etwas rausgenommen, den Nano gekickt und meinem Buch eine kleine Extrarunde Plotten gegönnt, und jetzt freue ich mich drauf, mit der Arbeit weiterzumachen. Es gibt einfach zu wenige moderne Gaslichtromane auf dem Markt, und erst recht keine, die historischen Hintergrund mit phantastischen Elementen und Sozialkritik kombinieren – und dafür, dass Kettlewood in weiten Teilen auf einem prachtvollen Landsitz unter Reichen und Schönen spielt, wo man schöne Kleider trägt und am Nachmittag Tee trinkt, kommt die victorianische Ära bei mir sehr, sehr schlecht weg. Wirklich keine Zeit, in der ich hätte leben mögen. Aber das ist nicht nur eine Frage des Jahrhunderts. Reist man in Richtung Indien oder Bangladesh, leben die Menschen heute noch unter den gleichen Bedingungen wie meine Textilkinder 1871. Und gerade deswegen ist es mir ein Anliegen, dieses Buch fertigzuschreiben, die Leser mit einem geheimnisvollen Haus anzulocken und sie dann stutzen zu lassen. Zu dem Thema werde ich später noch mehr schreiben, weil das nicht in einem allgemeiner gehaltenen Nano-Rückblick untergehen soll.
Es war jedenfalls ein phantastischer und auf seine Weise hoch erfolgreicher Monat – ich hatte großen Spaß mit den zahlreichen Aktionen und begeisterten Kommentaren im Tintenzirkel, dem Teamzusammenhalt, der gegenseitigen Anfeuerung, und ich war so sehr mit mir im Reinen, dass es mir noch nicht mal etwas ausgemacht hat, am Ende eben keine Siegerplakette zu erhalten. Vielleicht ist das meine größte Errungenschaft in meinem zehnten Nanowrimo-Jahrgang: Siegen gelernt habe ich schon 2006, das ist kein so großer Akt, wie man meinen sollte. Verlieren ist viel, viel schwerer. Aber jetzt, in meinem dritten Versuch nach 2008 und 2013, habe ich auch das endlich gemeistert. Man muss nicht immer gewinnen. Aber man kann immer tolle Romane schreiben. Und meine aus diesem Jahr sind toll. Ich hätte es nicht besser treffen können. Danke Tintenzirkel, Nomi und Iris für eine tolle Zeit!