Zu den Freuden des Umziehens gehört auch, jedes Buch, das man besitzt, nochmal in die Hand zu nehmen – zweimal sogar, einmal beim ein- und einmal beim auspacken, alle dreitausendfünfhundert Stück. Gestern habe ich meterweise Fantasy ins Regal zurückgeräumt, und da ich sehr viele dieser Bücher Mitte der Neunziger gekauft habe, während meines Studiums, kam mir plötzlich die Idee, selbst noch einmal einen klassischen Fantasyroman im Stil der Achtziger/Neunziger zu schreiben: Bücher, in denen sich eine Heldengruppe quer durchs Land arbeitet, um am Ende einen böse gewordenen Gott zu besiegen und in denen der Küchenjunge in Wirklichkeit ein vertriebener Prinz ist. Aber als ich beim zwanzigsten Regalbrett angekommen war, hatte sich auch diese Idee schon wieder in eine andere verwandelt: Nicht einen Roman aus den Neunzigern will ich schreiben, sondern einen aus dem Jahr 2007. Nicht irgendwas, sondern Lichtland.
2007 habe ich mich im Nanowrimo zum ersten Mal an das Thema »Immerwährender Kampf zwischen Licht und Dunkel« herangewagt, und weil ich keine halben Sachen mache, waren bei mir Licht und Dunkel absolut, mit hellen Ländern, in denen es niemals dunkel wird, und dunklen Ländern, in denen es kein bisschen Licht gibt, es sei denn, man bringt mittels schwarzer Magie aus dem Körper gezwungene Seelen zum Leuchten. Es gab eine Prophezeiung, es gab den Auserwählten Nomi, der sein Leben lang nur Lügen über Lügen zu hören bekommen hat, und es gab Shen, den ich mehr geliebt habe als so ziemlich alle Figuren vor- und nach ihm. Ich habe den Nano in dem Jahr gewonnen, aber Lichtland war noch lange nicht fertig, und alle Versuche, das Buch danach weiter voran zu bringen, führten nur dazu, alles nur noch wirrer zu machen und noch zerredeter. Was großartig angefangen hatte, verlor sich in Blah.
Aber anders als andere Geschichten, ist Lichtland nie auf dem Romanfriedhof gelandet – dafür hatte ich nicht nur zu viel Text, dafür hatte ich vor allem Plot, Welt und Figuren viel zu lieb. Aber alle Versuche, das Buch zu reanimieren, waren zum Scheitern verdammt. Vergangenes Jahr habe ich noch versucht, die Geschichte im Nanowrimo mit neuem Leben zu füllen – und nach zwei Tagen gemerkt, dass es nicht geht. Zu sehr klafft die Schere zwischen meinem Können 2007 und dem, was ich heute schreibe, auseinander: Nicht nur stilistisch, was sich mit einer Überarbeitung hätte ausbügeln können, sondern vor allem in Sachen Struktur und Plotaufbau. Ich hätte versuchen können, eine frühere Version von mir zu laden und zu versuchen, im Stil von 2007 zu schreiben, aber eines wäre dabei nicht herausgekommen: ein gutes Buch, mit dem ich heute zufrieden sein kann. Und die strukturellen Mängel konnte ich nur noch weiter vergrößern, statt sie loszuwerden. Ich brach ab.
Jetzt, ein knappes Jahr später, springt mich Lichtland wieder an und will geschrieben werden. Shen hat Leben und Sterblichkeit aufgegeben, um seine Leute zu retten – will ich ihn einfach so begraben, nur weil ich besser geworden bin? Und damit bin ich wieder bei da angekommen, wo ich schon so oft war: Ich will Lichtland schreiben. Aber ich will nicht da weitermachen, wo ich aufgehört habe. Ich will von vorne anfangen, ohne auch nur einen Blick in meinen alten Text zu werfen. Szenen, an die ich mich noch erinnern kann, verdienen es, neu aufgestellt zu werden. Szenen, an die ich mich nicht mehr erinnere, waren es nicht wert, und Figuren, deren Namen mir entfallen sind, erst recht. Ich behalte das Konzept, die Welt, ich behalte die drei Paktierer Nomi, Shen und Ando – und alles andere mache ich neu. Ich fange an bei Null, oder sogar bei Minus Fünfzig, weil ich mich erst noch von den Altlasten lösen muss.
Ich weiß, dass es für andere Autoren eher das Normale ist, ein Buch, das man vor die Wand gefahren hat, aber immer noch liebt, nochnmal von vorne anzufangen. Aber ich habe so etwas seit über zwanzig Jahren nicht mehr gemacht, und noch nie bei einem Buch, von dem schon so viel Text steht – ich habe über 90.000 Wörter, über 350 Normseiten, nichts, was man mal einfach so in die Tonne kloppen möchte. Natürlich, ich will den alten Text nicht löschen, ich behalte alles, auch wenn ich es nicht mehr verwenden werde, und doch, es ist sehr viel Arbeit, die für nichts war. Aber das ist sie auch, wenn ich das Buch jetzt begrabe und nichts mehr daran mache, und das sind meine Alternativen: Seinlassen oder neu schreiben, so oder so wird aus dem alten Text nichts mehr werden.
Ich hoffe, dass ich das Richtige tue, dass sich aus einer acht Jahre alten Idee etwas herausholen lässt, das mir heute noch gerecht wird, und dass ich in der Lage sein werde, Ballast über Bord zu werfen und den Mut zu haben, Dinge radikal anders zu machen, statt sie nur umzuformulieren. Meine Motive bleiben erhalten: Licht, Dunkel, Bannzauber, Schwarzmagie, Opium, und die Lügen, die alles zusammenhalten. Alles andere kommt auf den Prüfstand. Und ich freue mich drauf. Ich habe Lichtland immer geliebt, ich liebe es immer noch, und ich freue mich darauf, wieder daran zu arbeiten. Wann ist es soweit? Wann, wenn nicht im Nano? Wann, wenn nicht dieses Jahr? Ja, ich weiß, es läuft mir nicht weg, ich kann es auch nächstes Jahr machen oder in drei Jahren oder zehn. Aber mein Herz sagt: Mach es jetzt.