Um für meine Dachdecker-Elegie das passende Zitat zur Hand zu haben, las ich heute mal wieder Jakob von Hoddis‘ »Weltenende«. Ich kann es eigentlich auswendig, aber beim Zitieren gehe ich lieber auf Nummer Sicher. Wir haben es auch in der Schule gelesen (muss im zehnten Schuljahr gewesen sein, aber ich kannte es schon vorher) und dort auch gelernt, dass Jakob von Hoddis eine literarische Eintagsfliege war – »Weltenende« hat er als sehr junger Mann veröffetlicht, danach hörte man nichts mehr von ihm. So geht’s halt mit den Wunderkindern, wenn die einmal erwachsen sind, bringen sie nichts mehr auf die Reihe …
Wo ich gerade dabei war, habe ich mir also seine Biographie zu Gemüte geführt, um herauszufinden, ob er nicht doch noch mehr geschrieben hat und warum nach dem »Weltenende« nichts Großes mehr gekommen ist. Und bin auf den Teil gestoßen, den wir in der Schule nicht gelernt haben. Warum hat Jakob von Hoddis nichts mehr zustande gebracht (nachdem er erst noch eine Reihe von Gedichten veröffentlicht hat, die aber an den Erfolg des »Weltenendes« nichts anknüpfen konnten? Weil er das hatte, was ich auch habe.
Jakob von Hoddis litt und ständig wiederkehrenden Psychosen. Im Jahr 2015 nehme ich mein Quetiapin und lebe ein weitestgehend normales Leben. In den 1920ern gab es keine Antipsychotika. Es gab private Vollzeitpflege, wiederholte Sanatoriumsaufenthalte, und nach einer Eskalation, die wohl in Gewalt gemündet ist, eine dauerhafte Einweisung. Das war das des Todesurteil für Jakob. Um 1942 wurde er, zusammen mit allen anderen Insassen der Heilanstalt, im Vernichtungslager Sobibór ermordet. Oder, um es mit meinem Deutschlehrer zu sagen: Er war eine literarische Eintagsfliege, von der man nie wieder etwas gehört hat.
Das wäre mein Schicksal gewesen, wäre ich 80 Jahre früher auf die Welt gekommen. Und Jakob von Hoddis heute wäre ein großer Dichter. Stattdessen kennt man ihn nur für das »Weltenende« – und nicht für sein eigenes.