Als ich meinen ersten Roman fertiggestellt hatte – ein erhebendes Gefühl nach all den Fragmenten, die ich in die Welt gesetzt hatte – wusste ich genau, was mit ihm passieren sollte. Natürlich, ich wollte, dass er veröffentlicht wird, und es war keine Frage, wo. Warum mich mit etwas Geringerem abfinden als dem renommiertesten Verlag für Fantasy und Phantastik, den ich mir nur vorstellen konnte? Ich wollte dahin, wo meine Lieblingsbücher erschienen: Das Letzte Einhorn. Die Brautprinzessin. Gormenghast. Dass der Verlag außerdem die deutschen Rechte an Tolkiens Werken hatte, interessierte mich in dem Moment weniger, aber beeindruckend war es schon – und ehrfurchtseinflößend genug, dass ich wusste, dass ich noch gut genug war. Das Buch musste erst überarbeitet werden, und das war ein Prozess, der sich zwei Jahre lang hinzog. Endlich, 1999, war Eine Flöte aus Eis fertig, überarbeitet, bis zum Glanz poliert, und mit einem Exposée versehen, bereit, nach Stuttgart geschickt zu werden. Die Adresse hatte ich aus dem Verlagsadressbuch Banger, auf das ich als Buchhandelsazubi Zugriff hatte, das Exposee nach bestem Wissen und Gewissen, aber mit wenig Können angefertigt, und dazu gab es das erste Kapitel als Leseprobe, weil in meinem Autorenratgeber stand, dass man nicht das ganze Manuskript schicken sollte.
Dann begann das Warten. Ich wusste nicht, mit was ich rechnen sollte – es war meine erste Verlagsbewerbung überhaupt, ich hatte keinen Kontakt zu anderen Autoren, die schon einmal etwas an einen Verlag geschickt hatten, aber ich wusste, dass es nicht selbstverständlich war, eine positive Antwort innerhalb von zehn Tagen zu bekommen – und genau das passierte. Der Lektorin, Frau Dr. Killer, gefiel meine Einsendung genug, um den Rest des Manuskripts anzufordern – im Nachhinein erstaunlich, denn das Exposee war grottig und das erste Kapitel schön geschrieben, aber arm an Ereignissen, aber ganz schlecht kann mein Erstling nicht gewesen sein. Es sollte viele, viele Jahre dauern, bis wieder ein Verlag ein Manuskript von mir anfordern sollte, und nie wieder durch einen unverlangten Versuch in Eigenregie, ohne meine Agentur im Rücken. Ein paar Tage lang schwebte ich auf Wolke Sieben, ein Paket reiste nach Stuttgart, und das lange Warten begann. Ich hoffte, ich betete, aber ich ahnte im Grunde meines Herzens, dass ich wohl keine Zusage bekommen würde. Trotzdem, als nach gut sechs Monaten die Absage kam, war ich am Boden zerstört. Sie war begründet, auch das ist ein seltenes Glück, und nach einiger Zeit konnte ich zugeben, dass Frau Dr. Killer recht hatte. Das Buch krankte an einem dicken strukturellen Fehler, der sich nicht mit einer Überarbeitung hätte beheben lassen – ich war vierundzwanzig Jahre alt und das Buch war so gut, wie ich es nur irgendwie konnte. Aber wir beide, Buch und ich, waren noch nicht gut genug.
Jahre vergingen. Ich schrieb weiter, ohne meinen Traum jemals aus den Augen zu verlieren, und ich wusste, das nächste Buch, das ich an einen Verlag schicke, geht wieder als allererstes an Frau Dr. Killer, damit sie sehen kann, dass ich dazugelernt habe. Aber ein begonnenes Buch auch fertigzustellen, war immer noch nicht meine große Stärke, und es sollte 2003 werden, bis ich mit der Spinnwebstadt das nächste veröffentlichungswürdige Manuskript hatte, 2005, bis es überarbeitet war, und 2007, bis ich ein Exposee hatte, das ich für gelungen hielt. Und in dieser Zeit war das Schlimmste eingetreten: Frau Dr. Killer hatte den Verlag verlassen. Mein Plan, ihr das Manuskript zu schicken, an den Kontakt von 1999 anzuknüpfen und mich als gelerhrt und geläutert zu präsentieren, war gescheitert. Ihr Nachfolger, ein Herrn Askani, kannte mich noch nicht, und ich wagte es auch nicht, mich ihm vorzustellen. Bis heute gibt es keinen Verlag, dem ich Die Spinnwebstadt jemals angeboten hätte, und auch wenn das Buch für eine Endzwanzigerin sicher richtig, richtig gut war, entspricht es jetzt, mehr als zehn Jahre nach der Fertigstellung, nicht mehr dem Stand meines Könnens. Chance vertan. Ein gutes Buch mehr für die Schublade.
Ende 2008 kam ich an meine Agentur wie die Jungfrau zum Kind. Ich hatte vorgehabt, mir eine zu suchen, ich wollte mich mit der Spinnwebstadt dort bewerben, wo schon ein gutes Dutzend meiner Tintenzirkelkollegen unter Vertrag standen, aber aus genau dem Grund schreckte ich davor zurück: Es zu versuchen, und abgelehnt zu werden, nachdem schon so viele andere Erfolg gehabt hatte, war eine zu niederschmetternde Aussicht. Als eine Münchener Agentur, die im Internet über meine Chroniken der Elomaran gestolpert war, mich anschrieb, ob ich an einer Vertretung interessiert war, schwankte ich zwischen Euphorie und Skepsis. Die Agentur war noch kein Jahr alt, hatte nur wenige Autoren unter Vertrag, gerade erst einen Roman verkauft und überhaupt keine Erfahrung mit Fantasy nachzuweisen. Aber sie waren von mir begeistert, das war ein Pluspunkt, und ich war wagemutig und mochte die Vorstellung, nicht in eine Genre-Schublade gesteckt zu werden, sondern unter dem Label »Literatur« vermittelt zu werden. Ich wusste, die Agentur muss noch wachsen, aber ich wusste auch, das gleiche galt für mich. Ich telefonierte, wir waren uns sympathisch, ich unterschrieb, und es gibt wenig, was ich im Leben seltener bereut habe.
Mit der Agentur gab es 2009 einen neuen Versuch bei dem Stuttgarter Verlag – ich hatte nicht damit hinter dem Berg gehalten, dass ich mir Arme und Beine abreißen und fortan nur noch mit der Nase tippen würde, um dort zu landen, und das, obwohl meine Nase eher klein ist. Meine Chroniken der Elomaran wurden, auch ohne Frau Dr. Killer, durchaus wohlwollend aufgenommen – aber bemerkenswerter war wohl unsere Chuzpe, ein Werk anzubieten, von dem noch nicht mal ich als Autorin auch nur ungefähr sagen konnte, wie viele Teile es denn werden sollten, oder wann ich damit fertig werden würde. »Äh … zehn Teile?« war auch nicht das, was ein Verlag von einer unveröffentlichten Autorin hören möchte – so ein Mammutwerk kann man vielleicht verkaufen, wenn man schon ein paar erfolgreiche Titel gelandet hat, und selbst dann ist es immer noch viel zu lang. Wir verkauften meine Chroniken dementsprechend nicht. Aber ich habe immer noch ein As im Ärmel, immer noch eine Idee im Hinterkopf, und immer noch ein paar Bücher zu schreiben.
Die nächsten Romane, die von mir fertigwurden, passten thematisch nicht in den Verlag. Er macht High Fantasy, ich machte Mystery, Jugendbücher, Grusel und Übernatürliches – ich hätte nicht erwartet, dass meine Agentur irgendetwas davon bei meinem Traumverlag einreichen würde, aber sie hielten die Mohnkinder für so gelungen, dass sie es 2012 trotzdem versuchten. Es folgte die beste Absage, die ich je erhalten habe: Nein, thematisch passte das Buch leider nicht, aber man hielte mich für eine gute Erzählerin, und aus den Unterlagen war wohl hervorgegangen, dass der Verlag schon mal High Fantasy von mir geprüft hatte, und ob ich nicht nochmal ein Fantasywerk einreichen wollte, abgeschlossen in einem Band oder maximal eine Trilogie? Und ob sie durften! Drei Werke standen zur Auswahl: Die Gauklerinsel in ihrer ganzen gewichtigen Glorie, Die Fälscher-Trilogie, bei denen ich nach einem fertigen ersten Band mitten im zweiten plotlos festsaß, und Schattenklingen, auch als Trilogie angelegt, bei dem ich gerade mit großem Elan am ersten Band schrieb, aber auch nicht sagen konnte, wie und wann ich alle drei Teile fertighaben sollte. So fiel unsere Vorentscheidung, was wir anbieten würden, auf die Gaukler, nicht ohne das Werk einer gründlichen Überarbeitung zu unterziehen und von 802 auf 703 Normseiten zu straffen – immer noch lang, aber immerhin runder an der Seitenzahl 500 als an der 1.000. Auf der Leipziger Buchmesse 2013 erhielt der Lektor das Manuskript, und meinerseits begann ein banges Warten.
Es sollte das längste und bangste Warten meines Lebens werden. Zwischendurch spaßte ich schon darüber, meiner Einsendung einen Geburtstagskuchen zu backen, während der Lektor beteuerte, an der Sache dran zu sein, sich aber noch nicht entschieden zu haben. Am Ende sollten es gut anderthalb Jahre werden. Ich bin ein geduldiger Mensch. Ich bin unerschüttlich hoffnungsvoll, und wo ich das nicht bin, ist es meine Agentin. Aber ich bin auch ein Realist. Wenn der Lektor nach anderthalb Jahren noch nicht entschieden ist, kann er nicht derart vor Begeisterung geflasht sein, wie ich mir das erhofft hatte. Ich rechnete zunehmend mit einer Absage, und wenn es eine Art gibt, wie man als Autor nicht auf eine Absage reagierren sollte, dann ist es, postwendend das nächste Manuskript hinterherzuschieben. Aber wenn man dem quasi vorgreift und das Manuskript anbietet, nur für den Fall, dass ihm die Gaukler doch nicht so sehr zusagen sollten …? Zu dem Zeitpunkt war von den Schattenklingen der erste Teil fertig, aber von zu vielen Betalesern für arg blutrünstig befunfden worden, und die Fälscher-Trilogie keinen Schlag weiter als bei den letzten Überlegungen. Was tun? Ich versprach meiner Agentin, dass ich das Plotloch stopfen, den ersten Teil überarbeiten und die Trilogie bis zum Ende detailliert auszuarbeiten, und tatsächlich: Wenn man sich einmal auf den Hosenboden setzt und Hirnschmalz investiert, löst sich auch ein drei Jahre altes Plotproblem in Wohlgefallen auf.
Zur Frankfurter Buchmesse 2014 probten wir den Gefangenenaustausch: Die Gauklerinsel hatte, wie befürchtet, dann doch nicht gänzlich überzeugen können, zu ausgefallen, zu flapsig, aber die Fälscher wollte er sich gerne ansehen. Ich war vorbereitet, nochmal anderthalb Jahre zu warten, und an meinem Traum hatte sich nichts geändert in der Zwischenzeit, wenn überhaupt, hatte ich mir nur noch ein dickeres Sitzfleisch antrainiert – aber so weit musste es nicht kommen. Wenige Wochen nach der Buchmesse kam eine Rückmeldung vom Lektor. Er war interessiert, mich kennenzuleren, und ob man mal telefonieren könnte? Zitternd vor Aufregung willigte ich ein, und er bekam meine Kontaktdaten. Leider zitterte ich immer noch vor Aufregung, als wir dann telefonierten, brachte kaum einen vollständigen Satz heraus, und war so hin und weg vor Ehrfurcht, dass ich mich hinterher in den Hintern beißen mochte, felsenfest überzeugt, es ruiniert zu haben. Ob ich den Namen des Windes gelesen hätte? Nein. Einen bestimmten Essay von Kleist? Auch nicht. Und den Prolog von Fontanes Stechlin? Fehlanzeige. Da saß ich, die selbsternannte Hochliteratin, und fühlte mich unfähig. Der Lektor muss an mir verzweifelt sein. Er wollte mit mir über den Text sprechen, am literarischen Beispiel seine Überlegungen verdeutlichen, und ich Vollpfosten hatte meine Hausaufgaben nicht gemacht. Ich fühlte mich so schäbig, dass ich mich hinterher per Mail für den schlechten Eindruck entschuldigt habe. Wer mich kennt, weiß, dass ich selten sprachlos bin. Ich war es.
Aber wir vereinbarten einen zweiten Telefontermin. Ich las Kleist, Stechlin und den Anfang vom Namen des Windes. Am Freitag um vierzehn Uhr sollte mich der Lektor perfekt vorbereitet vorfinden. Stattdessen fand er mich am Freitag gegen zehn in der Frühe, als er fragen wollte, ob wir das Telefonat verschieben oder eventuell vorziehen konnte. Da ich wie üblich bis nach Mitternacht gearbeitet, und dann vor Aufregung nicht hatte schlafen können, hatte ich zu dem Zeitpunkt vielleicht drei Stunden Schlaf hinter mir. Es wäre besser gewesen, gar nicht erst ans Telefon zu gehen, aber es lag neben mir auf dem Kopfkissen, und ich nahm es und grunzte dem Lektor, bei dem ich unbedingt landen wollte, Sinnloses ins Ohr. Schlimmer wurde es noch durch die Tatsache, dass ich mit dem Gefälschten Siegel ein Buch über einen Typen eingereicht hatte, der morgens um zehn Uhr nicht ansprechbar ist, weil er die ganze Nacht durchgesoffen hatte – und zu viele Autoren schreiben autobiographisch … Es gibt keine zweite Chance für einen ersten Eindruck, wohl aber eine Menge Chancen, einen schlechten ersten Eindruck noch weiter zu ruinueren. Es ist erstaunlich, dass mich der Lektor trotz allem sympathisch fand. Noch erstaunlicher, dass es ein drittes Telefonat gab. Und was soll ich sagen? Es lief super.
Heute habe ich meinen unterschriebenen Verlag in die Post gegeben. Voraussichtlich im Frühjahr 2016 erscheint mein Gefälschtes Siegel im Verlag Klett-Cotta, dort, wo ich hin wollte, bevor ich auch nur einen fertigen Roman vorzuweisen hatte. Es ist ein langer Weg gewesen, und ein langer Blogeintrag. Aber nachdem ich fünfzehn Jahre auf diesen Moment hingearbeitet habe, darf es auch mal etwas epischer sein. Ich habe einen Buchvertrag. Mit meinem Traumverlag. Und das Beste: Meine Arme und Beine durfte ich trotzdem behalten, was gut ist – ich schreibe heute deutlich bessere Bücher als 1999. Aber meine Nase ist immer noch sehr, sehr klein.