Ich mag meine Plots komplex und undurchsichtig, als Leser wie als Autorin. Seit jeher bin ich sehr gut darin, die Absichten eines Autors zu durchschauen und mit erstaunlicher Treffsicherheit schon früh in der Handlung den Mörder zu nennen. Das gibt natürlich immer ein paar Gummipunkte, aber lieber ist es mir, überrascht zu werden, gar überrumpelt. Ein Beispiel für einen Film, der das geschafft hat, wäre »Snatch«, und wenn ich versuchen sollte, dessen Inhalt in einem Satz nachzuerzählen, müsste ich die Segel streichen. Blöd nur, wenn ich als Autorin beim Versuch, ein vergleichbar komplexes Vexierspiel aufzuziehen, mich in meinen eigenen Stricken verheddere. Und woran habe ich es gemerkt? Daran, dass ich den Plot der Schattenuhr nicht in einem Satz zusammenfassen kann. Angefangen damit, dass ich zwei Handlungsstränge habe, die nur wenig Berührungspunkte haben, dazu die Rahmenhandlung, und einen Helden, der gleichzeitig Detektiv, Opfer und Traumaträger ist – das klingt schon nach viel, und das ist es auch.
Im allerersten Plotentwurf war Howard – Mr. Eugene Howard, im weiteren Verlauf nur „Howard“ genannt, um ihn von seinem Vetter, Mr. Ambrose Howard, alias „Rosie“, zu unterscheiden – durch und durch ein Schurke: Ein Schwarzmagier, der Percy benutzt, um durch ihn an Geister heranzukommen, mit deren Hilfe er die Häuser ausspionieren will, in denen er die verschwundene Schwarzmagische Bibliothek seines Ahns vermutet, noch ein Howard, für dessen Geschichte ich bis in die Zeit von Heinrich dem Achten und seiner fünften Ehefrau, Catherina Howard, zurückreisen muss. Im zweiten Plotentwurf – in dem Rosie überhaupt erst ins Spiel kam – wurde Howard zu einem guten Schwarzmagier, der versucht, an die Zauberbücher heranzukommen, damit Vetter Rosie, der böse Schwarzmagier, sie nicht bekommt. Das wäre alles soweit noch leserverträglich, wäre Howard die Hauptfigur und Perspektiventräge und hätte die Möglichkeit, seine Geschichte auch zu erzählen.
Aber Howard eine Perspektive zu geben, hätte bedeutet, das Suspense-Moment gegen ihn fallenzulassen – ein vergleichbares Problem habe ich ja in meiner derzeit auf Eis liegenden Fälscher-Trilogie, wo Tymur Damarel erst dann seine blutrünstig köstliche Sicht der Dinge schildern darf, nachdem er sein wahres Gesicht gezeigt hat. Damit Howard geheimnisvoll, charmant und irgendwie nicht ganz koscher rüberkommen kann, habe ich also auf seine Perspektive verzichtet, und das bedeutet, alles in diesem Zusammenhang Interessante spielt sich hinter verschlossenen Türen ab – womit ich bei dem Buch angekommen wäre, das ich mehr gehasst habe als so ziemlich jedes andere, das ich in den letzten zehn Jahren gelesen habe: »Harry Potter und der Halbblutprinz«. Dort liegt der eigentlich interessante Plot bei Draco Malfoy und findet exklusiv abseits des Fokus statt, während Harry selbst das Buch damit verbringt, sich verschiedene Rückblenden anzusehen: Aus »The Boy Who Lived« wird »The Boy Who Watched«. Und ich muss zugeben, dass ich mich über dieses Buch derart geärgert habe, dass ich in den siebten Band bis heute keinen Blick geworfen habe. Er steht in meinem Bücherregal, ungelesen, und ich habe wenig Lust darauf.
Und nun mache ich die gleichen Fehler, die ich damals J.K. Rowling vorgeworfen habe. Es ist natürlich cool, sich mit dieser Erfolgsautorin vergleichen zu können, aber nicht auf einer negativen Ebene. Der Howard-gegen-Howard-Plot passt nicht in dieses Buch. Natürlich, noch ist alles im Fluss, ich kann einfach hingehen und noch ein paar Kapitel in Howards Perspektive schreiben, in denen er am Komplott gegen seinen Vetter schmiedet und dabei mehr Geister beschwört, als gut für ihn ist. Das Problem wäre nur: Damit würde sich das Buch spontan um mindestens vierzig bis fünfzig Prozent verlängern, und es ist schon auf ca. 600 Normseiten ausgelegt, also mitnichten ein Leichtgewicht. Und es ist ja mitnichten so, dass das Buch nur von den Howards handelt, nein, das wäre doch zu einfach. Da ist immer noch Percy, der sich seiner Vergangenheit stellen muss, was in diesem Fall noch nicht heißt, dass er die Gräueltaten erfährt, die er im Weltkrieg begangen hat (kommt noch), sondern dass er das Geheimnis seiner Taschenuhr ergründet und sich einen Geist einfängt, der es derart auf ihn abgesehen hat, dass Percy für den Rest des Buches mit Beschlag belegt ist.
Und dann ist da noch Vivian, die ins Internat abgeschoben wird und sich dort gleich wieder von einem Geist besetzen lässt, weil sie dazu bestimmt ist, denen eine Stimme zu geben, die selbst keine haben. Und nicht zu vergessen Marjorie, die versuchen muss, nicht nur Percy vor sich selbst zu retten, sondern auch noch das Wirrwarr mit den vertauschten Geistern, ein Nebeneffekt von Howards Gewurschtel, aufklären darf. Und das alles in einem Buch. Was ich wollte, war komplex. Was ich statt dessen habe, ist Chaos. Ich sehe im Moment drei Möglichkeiten: Entweder, ich fange nochmal ganz von vorne an, gebe Howard eine Perspektive, schmeiße den Teil mit der Taschenuhr raus, was bedeutet, dass ich einen neuen Titel brauche und plötzlich Percy ganz und gar passiv wird, was keine gute Idee ist. Oder ich schreibe einige ergänzenden Kapitel mit Howard, auf die Gefahr hin, dass das Buch am Ende tausend Seiten hat, was auch keine gute Idee ist, wenn ich versuchen möchte, es irgendwann einem Verlag zu verkaufen – dazu nachher mehr. Oder ich gehe schweren Herzens hin und specke meinen Plot ab, verzichte auf ein paar Wendungen, und habe am Ende eine Chance, dass das Ganze funktioniert.
Konkret würde das bedeuten, dass sich am Ende nicht Howard, sondern Vetter Rosie als Schuldiger an dem ganzen Schlamassel herausstellt. Dann hat eben nicht Howard die Geister beschworen, sondern Ambrose, und Howard wird von einem schillernden Schurken zu einem Erpressungsopfer. Ich muss nur zusehen, dass Abrose nicht erst jenseits der Buchmitte seinen ersten Auftritt hat, denn da ich dieses Buch wie eine Art von Krimi betrachte, gelten für mich als Autor die S.S. van Dine’schen Regeln fürs Krimischreiben, und das heißt, der Mörder muss vor dem fünften Kapitel auftreten. Gut, van Dine sagt nicht, wie lang diese Kapitel zu sein haben, so dass ich in meiner wildbewegten Jugend, als ich noch Krimis schrieb und keine Phantastik, mitten in einem Buch ohne Kapitelzählung die Überschrift »Fünftes Kapitel« eingefügt habe, damit der Leser weiß, woran er ist. Ich kann sogar – danke an Malinche für die Idee – ein Kapitel aus einer Howard-Perspektive schreiben, ohne dass der Leser weiß, welchen der beiden Mr. Howards er gerade vor sich hat.
Aber so oder so gilt: Weniger ist mehr. Und den Subplot mit dem unklaren Tod von Ambrose‘ älterem Bruder Algernon kann sogar noch ein Plätzchen bekommen, wenn es eben das ist, womit Ambrose seinen Vetter erpresst. Vielleicht ist Percys Howard am Ende doch kein reiner Sonnenschein? Egal wie ich mein Problem löse – es wird schwierig. Für die Mohnkinder macht meine Agentin schon Messetermine aus, und auch wenn ich davon ausgehe, dass die Schattenuhr bis zur Frankfurter Buchmesse fertig ist, wird sie erst einmal nicht nur nicht mit angeboten. Aber die Mohnkinder sind ein ziemlich breit aufgestelltes Buch, das einen interessanten psychologischen Plot hat über Schuld und Verdrängung mit ein paar Geistern im Hintergrund, und das Männer wie Frauer anspricht, sogar meinen Vater, der sonst nie etwas von mir liest. Die Schattenuhr dagegen ist deutlich spezieller, hat die Geister mehr im Vordergrund und auch noch eine schwule Liebesgeschichte. Uff.
Ich will dieses Buch auf jeden Fall schreiben, und ich mag die Geschichte, die Figuren, sogar den Plot – aber im Geiste finde ich mich damit ab, dass es für die Schublade ist und nicht für den Markt, zum Teil, weil ich es für misslungen halte, und zum Teil, weil es schwer verdaulich ist für den Massengeschmack. Schwer wird es erst dann, wenn ich einen Abnehmer für das erste Buch finde, der gerne einen zweiten Band hätte, aber nicht diesen – und ich dann gezwungen bin, mich völlig von der Schattenuhr loszulösen und wieder auf Anfang zu gehen. Sowas habe ich noch nie machen müssen, und ob ich das kann… Warten wir es ab. Da war doch mal was mit ungelegten Eiern!