Wenn man einen historischen Roman schreibt, muss man anständig recherchieren, und das gilt auch dann, wenn dieser Roman nur ein Fantasy/Horror/Supernatural-Roman in historischem Gewand ist. Nach wie vor drücke ich mich ja davor, Die Tochter des Goldmachers zu schreiben, einen reinen historischen Roman auf Basis einer von meinen Eltern beim Ahnenforschen ausgegrabenen hochinteressanten Räuberpistole aus dem Jahr 1785 – das liegt nicht mal daran, dass mich das Historiengenre wenig reizt, auch nicht als Leser, oder ich zu faul zum Recherchieren bin, sondern dass ich mit einem phantastischen Roman debutieren will und nicht auf Dauer auf ein mir fremdes Genre festgenagelt werden will. Aber für meine geliebten Mohnkinder recherchiere ich, bis mir die Finger bluten. Denn ich bin, wenn auch glücklich arbeitslos, eine Bibliothekarin, und Recherche steckt mir in den Knochen. Auch wenn das heißt, dass es mir mehr Spaß macht, die Literatur aufzutreiben als sie hinterher durcharbeiten zu müssen – aber was ich für meinen 1921er Spukroman brauche, sind keine dicken Wälzer, sondern ganz ganz viele kleine Details.
Weltpolitisch ist die Zeit für mich keine große Herausforderung. In britischer Geschichte bin ich sehr firm, die Zeit zwischen den Weltkriegen habe ich fürs Abitur gepaukt, und hinzu kommt, dass ich nicht über Königskinder oder Premierminister schreibe, sondern über normale Leute, die relativ wenig mit politischen Entscheidungen zu tun haben, dafür aber um so mehr mit Alltäglichkeiten. Nun bin ich über das Leben in den Zwanzigerjahren aus erster Hand informiert durch die sehr lebendigen Erzählungen meiner Großmutter, Jahrgang 1919, aber natürlich ist das ein Unterschied, ob man im deutschen Münsterland aufwächst oder in London oder Wales. Vor allem an der Frage nach den Lebenshaltungskosten habe ich lange geknabbert. Es hilft nicht, das sehr komplizierte System der vorreformatorischen britischen Währung zu kennen mit all ihren Münzen, wenn man nicht weiß, was was kostet. Entspricht ein Penny eher einem Euro oder mehr dem Zehn-Cent-Stück? Ist ein ganzes Pfund ein solcher Reichtum, wie ich mir das immer vorgestellt habe?
Abhilfe verspricht mir das Zeitungsarchiv, Abteilung für Werbung und Kleinanzeigen. Und weil ich sowieso alte Zeitungsartikel brauchte, da ich die gute Marjorie Konstantijn zum Recherchieren schicke und wissen wollte, wie man zeitgenössisch über das Eisenbahnunglück von Abermule berichtet hat und es den Zugang zum Onlinearchiv nur gegen Geld gab, habe ich zugeschlagen und nicht nur die Artikel, sondern die ganzen Ausgaben von der ersten bis zur letzten Seite runtergeladen. Und die 6,60 Pfund (moderner Rechnung), die ich für den Zweitageszugang bezahlen musste, haben sich wirklich gelohnt. Nicht nur hat sich herausgestellt, dass mein Zugunglück nicht nur unter ‚ferner liefen‘ angehandelt wurde, sondern zwei Tage lang die Titelseiten bestimmt hat. Aber als noch wertvoller haben sich dann tatsächlich die Kleinanzeigen herausgestellt.
Eine Ausgabe des Daily Mirror, 16 Seiten mit vielen Fotos, kostet einen Penny. Ein Hühnerei, sinngemäß Güteklasse A, kostet zweieinhalb Pence. Da Eier heute eher zu bauernfeindlichen Kampfpreisen angeboten werden und die billige Massentierhaltung noch nicht existiert, orientiere ich mich eher am Zeitungspreis und überschlage mal, dass ein Penny ungefähr die Kaufkraft von 50 Eurocents haben sollte. Dann passt es auch, dass mit einem Artikel berichtet wird, dass ein Mann seinen Kindern zehntausend Pfund hinterlassen hat. Und ein Pfund, das immerhin 240 Pence hat, ist damit wirklich ein Batzen Geld, mit dem Laurel und Ivy eine Weile hinkommen können. Auch die Preise für einen neuen Kinderwagen (sechs Pfund) oder einen Pelzmantel (siebzehn Pfund, fünf Schilling) passen in mein so entdecktes System. Damit kann ich rechnen.
Aber um den Geist einer Zeit zu erfassen, braucht es mehr als ein Währungssystem. Mit Absicht habe ich mich nicht in der neutralen Times eingekauft, sondern im Tabloidpaper Mirror, das immer schon polarisiert hat und Politik, vor allem gegen die Deutschen, gemacht. Dass der Fritz seine Reparationsschulden blechen muss bis auf den letzten Heller, versteht sich von selbst. Interessant war die Aufstellung, wie viel Steuern ein Normalbürger im Kriegsgewinnerland Großbritannien zahlen muss im Vergleich zu einem Deutschen – der natürlich, ob’s stimmen mag oder nicht, ein viel, viel besseres Leben zu haben scheint. Erwähnte ich schon, dass der Fritz bluten muss? Doch das Bezeichnendste fand ich dann im Kleinanzeigenteil. Suche/Biete in einer Zeit, die noch nicht unsere heutige Wegwerfmentalität hat, ist hochinteressant. Aber wer hätte gedacht, dass es dort eine eigene Rubrik gibt für gebrauchte falsche Zähne? Also, nicht nur ein oder zwei Inserate von geizigen Freaks, die ohne Ekelfaktor geboren wurden, sondern eine ganze Kategorie? Gebrauchte Falsche Zähne?
In erster Instanz schüttelt es mich. In zweiter denke ich, wie praktisch, das kann ich gleich unterbringen, habe ich doch den lieben Opa gerade umgebracht. Denn nichts ist mir lieber, als mit kleinen Details von Lokal- und Globalkolorit beim Leser ein Gefühl für eine Zeit zu erschaffen, das über das bloße Herunterbeten von historischen Daten hinausgeht. Wurde ich an Silvester nach einer kleinen Lesung schon gelobt für das lebendige Bild von London, das ich vermittlet habe – ohne im Leben auch nur einmal in London gewesen zu sein, von zweimal Umsteigen und einer U-bahnfahrt mal abgesehen – möchte ich, dass sich meine Leser in meinem Jahr 1921 mal genauso zuhause fühlen wie der gute alte Percy. Und das ist mir auch viele Stunden Recherche und ein paar Pfund für den Onlinezugang wert.