Meinen zweiten Roman für dieses Jahr habe ich mir nicht ausgedacht, er ist passiert, vor ein paar Tagen, als mir aufging, dass ich das eigentlich geplante Die Kinder des Hauses Otrempa nicht würde schreiben können. Wilde Ideen fügten sich zusammen: Geisterphotographie, eine Spieluhr, Eisenbahnunglücke, ein geheimnisvolles Haus, und Percy. Vor allem Percy. Die Zwillinge kamen erst später, aber erst einmal saß ich da mit einem Scherzbold im Trenchcoat, der mir nicht viel von sich verraten wollte. Rückblickend ist es erstaunlich, dass ich nur zwei Tage später einen erstaunlich komplexen Plot hatte. Aber zum einen habe ich das schon letztes Jahr mit Geigenzauber so gemacht, und zum anderen war ich zwei Tage bei den wunderbaren Lavendelgrauen in Bielegfeld und hatte eine schöne lange Zugfahrt zum plotten (aber zum Glück ohne Unglück). Hier ist nun, mit Tusch und Trommelwirbel, der brandneue Plot für die Kinder des Mohns:
London, 1921. Der Erste Weltkrieg hat den Zwillingen Ivy und Laurel Shacklock schon Vater und Bruder genommen und sie mit ihrer Mutter mittellos zurückgelassen, da diese als Ausländerin – der Vater hat gegen den Widerspruch seiner Familie eine Französin geheiratet – keine Hinterbliebenenrente für ihn bekommen konnte. Sie sind gewöhnt, schlimme Gerüchte zu hören, dass der Vater in Wirklichkeit desertieren wollte und in Schande gestorben ist, aber den wahren Grund kennen sie nicht: Ihre Mutter ist keine Französin, sondern Deutsche, aber dieses Geheimnis nimmt sie mit ins Grab, als sie im Januar an der Grippe stirbt. Nur dem Reverend Holliday verrät sie auf dem Totenbett ihr Geheimnis, und am Reverend ist es auch, eine Unterbringung für die Zwölfjährigen zu finden, damit sie nicht in verschiedenen Waisenhäusern auseinandergerissen werden, denn das würden die unzertrennlichen Mädchen nicht überleben. Aber auch wenn ihr Großvater einst seinen Sohn verstoßen hat, der alte Mann lebt noch auf dem Familiensitz in Wales, und auch wenn er nicht will, muss er doch seine eigenen Enkelinnen bei sich aufnehmen.
Ganz allein machen sich die Mädchen mit der Eisenbahn auf den langen Weg nach St. Harmons, wo sie niemand erwartet, in ihren kleinen Koffern nur ein paar Kleider und die Spieluhr ihrer Mutter, die sie den ganzen Krieg über nicht spielen durften, weil das deutsche Volkslied ihre Mutter hätte verraten können. Es ist ein langer Tag, bis sie endlich spät in der Nacht auf müden Füßen das alte Haus erreichen – den ganzen Weg vom Bahnhof mussten sie laufen, weil der Großvater noch nicht einmal seinen einzigen Diener schicken mochte, die beiden abzuholen. Bei Tageslicht wird dann das ganze Ausmaß des Elends sichtbar: Das ehemalige Herrenhaus ist eine feuchte Bruchbude, in der Putz und Tapeten von Wänden und Decke kommen, der Garten völlig verwildert, und der Großvater weigert sich, die Mädchen zu sehen oder auch nur sein Schlafzimmer im ersten Stock zu verlassen, einziger Ansprechpartner ist der wunderliche blinde Diener Huw.
Aber Ivy und Laurel geben nicht auf. Sie wollen dieses Haus zu ihrer Heimat machen, und sie wollen endlich ihren Großvater kennenlernen, und in einem seltenen klaren Moment lässt er sie tatsächlich zu sich. Wie sie da vor ihm stehen in ihren roten Kleidern – die Mutter hat ihnen verboten, in Schwarz zu trauern; die Farbe der Liebe sollen sie tragen – und mit ihren dunklen Haaren sehen sie aus wie zwei Mohnblumen, und der alte Mann verrät ihnen, dass dies einmal der Name des Hauses war: ‚The Poppies‘. Er trägt ihnen auf, im Garten Mohn zu sähen, dann verliert er wieder das Bewusstsein, dass die Mädchen erst denken, er wäre gestorben. Aber sie stürzen sich mit Feuereifer auf die Aufgabe, den toten braunen Garten in ein flammendrotes Mohnfeld zu verwandeln und das Innere das Hauses wieder wohnlich herzurichten – während seltsame Dinge zu geschehen beginnen, angefangen damit, dass die alte Spieluhr keinen Mucks mehr von sich gibt.
Türen öffnen und schließen sich von selbst, nachts hallen unsichtbare Schritte über den Dielenboden, und vor allem haben die Mädchen das Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Auch die Menschen im Dorf verhalten sich seltsam, vor allem die sensible Ivy spürt, dass etwas nicht stimmt – aber es ist ihre praktisch veranlagte Schwester Laurel, die den Einfall hat, die Gesellschaft für das Übernatürliche in London anzurufen und auf den Fall aufmerksam zu machen. Ihr Plan: The Poppies als Spukhaus zertifizieren lassen, Führungen veranstalten und mit dem Geld das baufällige Haus wiederherstellen und vielleicht auch ein Internat für sie beide zu finanzieren, denn in die Dorfschule gehen sie nicht – Ivy fürchtet sich vor den anderen Kindern, und vor allem sprechen sie kein Walisisch.
Die Gesellschaft für das Übernatürliche reagiert schnell und schickt einen Experten – oder zumindest einen etwas überdrehten jungen Mann, der behauptet, ein Experte zu sein. Percival Jessup, der sich als Vetter Percy vorstellt und von einem kleinen Mädchen begleitet wird, das ebensogut selbst von der anderen Seite kommen könnte, ist ein Geisterphotograph. Normale Fotos kann er auch. Aber schon als er ein Bild von Ivy und Laurel aufnimmt, ist das Bild von einem seltsamen Lichteffekt überschattet. Die kleine Vivian zieht Geister an und lockt sie aus der Reserve, Percy muss nur auf den Auslöser drücken, und The Poppies hat mehr Geister, als man sich vorstellen kann – und ihre Zahl scheint mit jedem Tag zu wachsen. Percy ahnt schnell, dass etwas nicht stimmt: Hier spuken mehr Gespenster, als jemals in dem Herrenhaus gelebt haben können – aber wo kommen sie her? Und warum tragen so viele von ihnen auf den Geisterphotographien eine Weltkriegsuniform?
Sein eigenes Geheimnis kann Percy, der den Krieg mit einem Trauma und ohne Erinnerungen überstanden hat, nicht lösen. Warum Vivian nur in seltsamen Zahlenkolonnen spricht, vor allem, seit sie in das Haus gekommen sind, weiß er auch nicht. Aber zumindest diesem Haus will er seine Mysterien entreißen. Als zertifizierter Geisterjäger weiß er zu recherchieren, und er findet heraus, dass das Haus in Wirklichkeit niemals ‚The Poppies‘ geheißen hat. Dafür stößt er im Dorf auf eine Schauergeschichte, nach der vor dreihundert Jahren Robert Shacklock, der verhasste Engländer, sich mit der Dorfhexe angelegt hat, was mit dem Tod der Hexe endete und mit einem Pfarrer, der, eingeschüchtert durch Shacklock, sich weigerte, die Frau auf seinem Kirchhof zu begraben. Statt dessen soll sie in Shacklocks Garten verscharrt worden sein, und seither, so heißt es, liegt auf dem Grundstück ein Fluch.
Das Geheimnis sind die Blumen. Sie öffenen ein Portal ins Geisterreich: Ein rastloser Toter, dessen Körper unter einer Blume begraben ist, die in diesem Garten wächst, wird förmlich nach ‚The Poppies‘ gesogen, wo er fortan umhergehen muss. Und Mohnblumen, ausgerechnet, wachsen in den Flandrischen Feldern, wo Hunderttausende von Weltkriegstoten in unruhigem Schlaf liegen. Was zuerst aussieht wie der Racheakt eines hasserfüllten alten Mannes, der seine eigenen Enkelinnen lieber von einer Armee von Geistern aus dem Haus treiben lässt, als ihnen eine neue Heimat zu ermöglichen, entpuppt sich als eine Verzweiflungstat: Weil er im Leben nicht den Frieden mit seinem Sohn machen konnte, hofft Großvater Shacklock, dass ihm zumindest der Geist vergeben wird…
Das Geheimnis scheint gelöst, aber Percy ringt mit sich, ob er auch das andere traurige Geheimnis der Shacklocks lüften soll, auf die Gefahr hin, zwei jungen Mädchen das Herz zu brechen: Er weiß, was beide Zwillinge erfolgreich verdrängt haben – dass Ivy und Laurel auf der Fahrt nach Wales in einen Eisenbahnunglück verwickelt waren, das nur eine von beiden überlebt hat. All die Weltkriegstoten und Mohnschatten sind nur bleiche Schemen. Der eigentliche Geist, der in diesem Haus umgeht, ist Ivy. Aber diese Wahrheit wird auch Laurels Leben zerstören…
Bleibt noch zu erwähnen, dass die Zahlenreihen, die Vivian von sich gibt, Jahres- und Opferzahlen von Eisenbahnunglücken sind, und dass Percy in diesem Buch nicht das Geheimnis seiner Herkunft klären kann, womit er sich, wenn er das Potenzial hat, zu seinem Serienhelden qualifizieren könnte. Auch wenn er nicht der Hauptperspektiventräger dieser Geschichte sein wird – ich kann mir vorstellen, dass ein gewisser Percival Jessup noch das Zeug zum Wiedergänger hat.