Ich meine das ja nicht nur im übertriebenen Sinne, wenn ich sage, ich bin dem Wahnsinn anheimgefallen. Nachdem ich jetzt, sicherlich bedingt durch meine gesundheitlichen Probleme und die Tatsache, dass ich fast den ganzen Dezember über krankgeschrieben war, meine Stelle verloren habe, bleibt mir viel Zeit, mich auf das Schreiben zu konzentrieren, und so habe ich mich frohen Mutes auf ein Tagespensum eingelassen, mit dem ich jeden Monat ohne größere Not locker-flockige fünfzigtausend Wörter schreibe wie sonst nur im Nanowrimo. Aber jetzt beginnt der Herbst, das heißt, der echte Nanowrimo steht vor der Tür, und ich stehe vor der Frage, was ich mache. Wie schon erwähnt, ist meine Liste der Bücher, die ich schreiben will, zu lang, um sie in einem Jahr zu bewältigen.
Am Ende war ich runter auf zwei potenzielle Nano-Romane: Die Kinder des Hauses Otrempa und Geisterlied, das Buch, mit dem ich schon im Nanowrimo 2008 Schiffbruch erlitten habe. Auch der Versuch, die Naniten im Tintenzirkel darüber entscheide zu lassen, war unergiebig: Beide Konzepte bekamen ungefähr gleich viele Stimmen. Als ich mich dann, aus dem Bauch heraus und beraten von meinem Freund, für die Otrempas entschieden habe, war die Geisterfront enttäuscht, und ich irgendwie auch – und dann hat mich der Hafer gestochen. Der Nanowrimo soll eine besondere Herausforderung sein und nicht nur die Fortführung dessen, was man sonst den Rest des Jahres über macht. Also, ich habe kurzentschlossen verkündet, dass ich beides schreiben werden. Geister und Otrempas, beides auf fünfzigtausend Wörter, mit zwei verschiedenen Nanowrimo-Accounts, um das Ganze feinsäuberlich getrennt zu halten. Natürlich bin ich jeck, aber ich brauche das. Natürlich kann ich es nur machen, wenn ich im November noch nicht wieder Arbeit haben sollte, sonst kann ich das nicht durchstehen. Aber wenn ich die Zeit habe – dann wage ich das.
Und ich bin nicht mehr allein mit meinem Wahnsinn. Erfolgreich habe ich Elena herausgefordert, und es hat nicht lange gedauert, da ist sie weich geworden. Nanowrimo-Battles mit Elena haben Tradition. 2006 waren wir die ersten Tintenzirkler, die Seite an Seite den Nanowrimo bis zum Ende durchgezogen haben, und mit Ausnahme des tragischen 2008s haben wir das dann jedes Jahr wiederholt. Für uns beide ist ein einfacher Nano keine Herausforderung mehr. Ich habe mich an ein Tagespensum jenseits der anderthalbtausend Wörter gewöhnt, Elena ist in der Lage, den Nanowrimo in drei Tagen runterzuschreiben. Wir brauchen mehr. Schneller, höher, weiter. Beide balancieren wir auf einem schmalen Grat. Gemeinsam haben wir nicht nur den über die Norm hinausgehenden Ehrgeiz, beide sind wir gesundheitlich angeschlagen und nicht ganz richtig im Kopf.
Aber wir haben auch viel zu gewinnen, wir zwei. Ich muss mir beweisen, dass ich in der Lage bin, das Schreiben langfristig zum Mittelpunkt meines Alltags zu machen und das Leben eines disziplinierten Berufsschreiberlings zu führen. Elena auf der anderen Seite muss die Freude am Schreiben wiedergewinnen, ich denke, ihr Kampf wird härter als meiner – als ich erkennen musste, dass mir meine Nervenkrankheit auf Dauer bei der Karriere als Bibliothekarin im Weg stehen wird, war das nicht so schlimm, ich hatte immer noch das Schreiben. Elena, so großartig und talentiert sie auch ist, liebt ihren Beruf über alles und würde als Neurobiologin lieber den Nobelpreis für Medizin in Empfang nehmen als für Literatur, und die Worte »Du hast doch immer noch das Schreiben!« bringen sie zur Weißglut. Ich glaube aber, im Grunde ihres Herzens liebt sie das Schreiben nicht weniger als ich, und das werde ich ihr in diesem Nano beweisen. Bis zum Schmerz! Auf uns wartet der Kampf des Jahrhunderts.