Was macht der dicke Mensch, der dringend abnehmen muß? Richtig: Er schaut fern. Das deutsche Fernsehen beschert mir gerade eine Sendung, die mir das Gefühl gibt, eine schlanke Grazie zu sein, weil die Menschen, die dort gezeigt werden, noch viel dicker sind als ich. Und wenn die mal nur noch soviel wiegen wie ich, sind die richtig glücklich. Ich sollte also zufrieden sein mit dem, was ich habe. Aber ich bin ja für Fernsehmüll immer zu haben, und von den Gerichtsshows brauche ich dringend eine Pause, also gibt es derzeit für mich The Biggest Loser, ein besonders perfides Format, das von sich behauptet, seine Kandidaten nicht vorzuführen, sondern ihnen in einer Notlage zu helfen. In Wirklichkeit werden hier kranke, hilflose Menschen ausgenutzt im Namen der Quote und vermeintlicher Aufklärungs- und Aufrüttlungsarbeit und machen das alles auch noch freiwillig, in dem Glauben, ihre letzte Chance überhaupt zu nutzen.
Wer wissen will, wie diese Sendung funktioniert und um was es geht, der findet im Netz eine Menge an Literatur und Kritiken, und ich habe keine Lust, hier zu wiederholen, was zig Leute vor mir geschrieben haben. Nein, ich bin ein Fernsehjunkie der besonderen Art. Ich schaue nicht nur die dritte Staffel Biggest Loser und habe auch schon die ersten beiden Staffeln gesehen. Nein, ich schaue auch seit einigen Wochen das amerikanische Original der Serie, und das in einem Maße, daß ich jetzt in der neunten Staffel angelangt bin (von derzeit elf). Und was besonders interessant ist, sind die Unterschiede zwischen Biggest Loser USA und Biggest Loser Deutschland, auf die ich hier eingehen möchte. Denn auch wenn die lokalisierte Kopie sehr eng an der Vorlage bleibt, gibt es doch einige sehr interessante Abweichungen.
Bilden die Dicken in Deutschland noch mehr eine Minderheit, sind sie in den USA ein alltäglicher Anblick. Das ist nichts Neues und kann sicher damit zusammenhängen, was dort gegessen wird und in welchen Mengen – wenn schon das, natürlich auswärts eingenommene, Frühstück aus Bratkartoffeln, Speck und Würstchen, ertränkt in Sauce Hollandaise, besteht; wenn man im Restaurant nicht eine kleine Cola bestellt, sondern so viele Refills bekommt, wie man nur haben will, dann schießen die Pfunde in die Höhe. Diesen Juli fliege ich nach Amerika und wirklich, mir graut davor, hinterher all meine mühsam abgestrampelten Pfunde wieder drauf zu haben, so wie ich schon im Sommer 2008 nach nur zweimal Frühstücken bei Bob Evans gefühlt drei Kilo zugenommen hatte. Selber kochen tun viele Amerikaner nicht, vor allem nicht diejenigen mit klinischem Übergewicht. Und die Sendung versucht auch nicht, sie hier wirklich zum Umdenken zu bewegen.
In vielen Staffeln gibt es daher die Eat-Out-Week, in der die Küche komplett verschlossen bleibt und die Kandidaten jede einzelne Mahlzeit beim Bringdienst bestellen müssen – so sollen sie sensibilisiert werden, die richtigen Sachen zu bestellen, und müssen lernen, beim Mexikaner um die Ecke die als Snack dargebotenen Tortillachips abzulehnen und daß ein Cesar’s Salad zwar ein Salat ist, aber ungefähr soviel Kalorien hat wie zwei Pizzas. Mit massivem Product Placement – dazu später mehr – werden die Kandidaten dann erzogen, statt zu McD und KFC zu Subways zu gehen, wo es gesundes und kalorienarmes Fast Food gibt. Und wo doch mal selbst gekocht wird, muß es schnell und einfach gehen – schieb ein Stück Putenbrust oder etwas Brokkoli in einen Ziploc-Beutel, ab in die Microwelle, fertig. Erziehung zur Leidenschaft fürs Kochen und gute Ernährung stelle ich mir anders vor. Und was immer man dem deutschen Biggest Loser vorwerfen muß – das wäre hier undenkbar. Hier müssen die Kandidaten richtig kochen, für diese Staffel haben sie zum Beispiel eine ganze Hotelküche zur Verfügung.
Überhaupt, das Product Placement. Das ist in Amerika keine Schleichwerbung, sondern Stampfwerbung. Immer wieder müssen sich die Kandidaten mit ihren Trainern über die Vorzüge von Ziploc-Beuteln, Subways, Brita-Wasserfiltern, Wriggley’s zuckerfreiem Kaugummi, der Muckibudenkette 24hour Fitness und den Hauseigenen Nahrungsergänzungsmitteln und Proteinpülverchen unterhalten, denn an dem erfolgreichen Format hängt längst eine ganze Industrie. Wieder ein Punkt für die deutsche Serie, wo es zumindest so dargestellt wird, als ginge Abnehmen auch ohne Chemie. Ob man so wirklich die großen Mengen abnehmen kann, um die es sich hier dreht – fünf bis zehn Kilo pro Woche sind nicht das normale und auch nicht das, was die meisten Ärzte für gesund halten – sei mal dahinstellt, aber zumindest erziehen sie uns nicht zu Pillen und Pulvern.
Das sind Unterschiede zwischen den beiden Versionen, die man nach und nach bemerkt. Wirklich auffällig ist aber ein anderer: Der Tonfall der Serie. Und das ist wirklich gravierend. Wie erwähnt, ist der Durchschnittsamerikaner eher dick und der Durchschnittsdeutsche eher nicht, und das gilt auch für die Zielgruppe. Amerika will die Dicken erreichen. Die Kandidaten werden auf der einen Seite als Helden dargestellt, die für die gute Sache (hier: Ihre Gesundheit) kämpfen und leiden, die Role Models sein wollen und das dicke Amerika zum Dünnwerden aufrufen. Auf der anderen Seite werden sie, vor allem in den ersten Folgen, auch als ganz besonders krank dargestellt, ihre reduzierte Lebenserwartung wird betont, wir sehen CT-Scans von durch Fettgewebe zusammengeschobene Gedärme, und wenn die Kandidaten dann auf dem Laufband kollabieren, beim Ein-Meilen-Lauf das Bewußtsein verlieren oder beim Training mit Bob und Jillian vor Schmerzen schreien, hält die Kamera voll drauf: Hier soll nicht gezeigt werden, daß man arme Menschen heillos überfordert mit einem Programm, das ein ganz anderes Fitnesslevel erfordert, sondern dem Publikum sagen: Seht her, wie krank sie sind, weil sie fett sind, und ihr seid das auch!
In Deutschland dagegen muß das alles irgendwie lustig sein. Die Dicken sind lustig – ja, sie klagen über das Leben als Dicker, sonst wären sie nicht in dieser Sendung, sie leiden darunter, auf der Straße angestarrt zu werden, und nein, dick sein ist nicht schön – müssen aber trotzdem Lebensmut und -Freude vertströmen. Schaut man sich die Kandidaten auf der Kabel Eins-Webseite an, müssen sie alle vergnügt und abenteuerlustig aus ihren Speckrollen blicken, als wollten sie dem Publikum sagen: Ja, heute lacht ihr noch über uns, aber morgen sind wir so dünn wie ihr, und dann werden wir sehen, wer zuletzt lacht. So betont auch Trainerin Silke, daß das Workout bei ihr bei aller Anstrengung immer Spaß macht – ihrem amerikanischen Pendant Jillian kämen solche Worte nicht über die Lippen, die stellt sich auch schon mal auf einen Liegestütz machenden Kandidaten, damit es für ihn schwerer wird, und beim Trainig wird nicht gelacht, es wird geächzt und geschrien und geheult.
Dazu paßt auch der Kommentar, der Sprecher aus dem Off: Die amerikanische Fassung hat keinen. Punkt. Hier sprechen die Bilder, hier sprechen die Kandidaten, hier sprechen die Trainer, und vor allem die Moderatorin, Seifenoperndarstellerin Alison Sweeney. Aber Biggest Loser Deutschland hat keinen Moderator und keinen Host, sie haben als »Teamchefin« Regina Halmich, und wenn die mit stierem Blick hölzern Text vorträgt, als lese sie von einem Zettel ab, merkt man, daß auch hier nicht alles Reality ist und ein guter Teil auch per Script vorgegeben wird. Für alles andere gibt es den Kommentator. Für wirklich alles. Er kommentiert das offensichtliche, das banale, er interpretiert Gesichtsausdrücke in mutmaßliche Gedanken und Gefühle der Kandidaten, und bleibt dabei immer leutselig und vergnügt. Wenn die Dicken noch nicht lustig genug sind, sorgt der Kommentar für den nötigen ironischen Unterton, damit wir auch wirklich begreifen, wie unglücklich sich die Moppelchen bei ihren verschiedenen Aufgaben schlagen. Natürlich hat das den Vorteil, daß wir nicht mehr hingucken müssen und uns der Anblick von unästhetischen Fettleibigen erspart bleibt, aber was es in Wirklichkeit tut ist, es macht die Kandidaten lächerlich und die Sendung unerträglich.
Und da können der Sender und Regina Halmich noch so oft betonen, daß sie ihre Kandidaten niemals vorführen – es macht doch einen Unterschied, ob man die Szenen mit martialischer Musik, die aus einem Filmsoundtrack stammen könnte, unterlegt, oder mit der Titelmelodie von Löwenzahn oder der Sesamstraße. Sieht sich das amerikanische Format als patriotischen Kreuzzug gegen die fortschreitende Verfettung des Landes, versucht KabelEins das ernste Thema mit einem Augenzwinkern zu präsentieren, der nicht zu dem durchaus ernsten Leiden der Kandidaten paßt. Abnehmen rettet Leben, sagt Amerika. Abnehmen macht Spaß, sagt Deutschland. Und, unterschwellig: Seht nur, wie schnell hier die Pfunde purzeln! Die blöden faulen Dicken sind doch selbst schuld, wenn sie dick sind… Welche Version nun die ehrlichere ist? Sie sind beide verlogen, aus unterschiedlichen Beweggründen. Amerika zeigt uns mit vielen Homestories und extra Tränen das Leid der Schwergewichte, Deutschland die geballte Jo-wir-schaffen-das-Kumpeligkeit der immer irgendwie gemütlichen Dicken.
Der Verlierer auf beiden Seiten ist der Kandidat – was glaubt ihr, warum die Sendung The Biggest Loser heißt, dachtet ihr etwa, der Titel wäre ironisch gemeint? Menschen, die krank sind, deren Gesundheit wirklich gefährdet ist und die in dieser Sendung ihre letzte Chance auf ein normales Leben sehen, manchmal sogar überhaupt auf Leben, werden auf der einen Seite der Lächerlichkeit preisgegeben, auf der anderen Seite zu immer riskanteren Rekorden getrieben. Dabei werden Tränen vergossen, wenn in einer Woche nur drei Kilo abgenommen werden (Hallo? Ich verliere ungefähr eines im Monat!), ungeacht der Tatsache, daß ein so schneller Gewichtsverlust von Experten nicht für gesund gehalten wird. Haben die Kandidaten vorher Schindluder mit ihrem Körper getrieben, treiben sie nun Raubbau und verzichten auch schon mal einen Tag vor dem Wiegen auf Flüssigkeitszufuhr, um ein möglichst dramatisches Ergebnis zu erzielen.
Daß die Ergebnisse nicht so strahlend sind, wird unter den Tisch gekehrt. Nicht umsonst erscheinen die Kandidaten in den ersten fünf, sechs Wochen barbäuchig zum Wiegen und zeigen uns ihre Speckrollen, Tonnenbäuche und Männerbrüste. Ab Woche sieben stehen sie dann züchtig im T-Shirt da, damit man nicht die unschönen Hautlappen und Fettschürzen sieht, die nicht von selbst weggehen und meistens am Ende operativ entfernt werden müssen. Aber das Fernsehen will uns schöne, schlanke Menschen zeigen, die am Ende in die Kamera strahlen, von ihrem neugefundenen Lebensglück schwärmen und erzählen, daß sie jetzt auch außen so schön sind, wie sie es von innen immer waren. Und dann reiten sie alle in den Sonnenuntergang…
Wird das Format in Deutschland überleben in seiner veränderten Form? Hätte es mehr Erfolg, wenn es den verbissenen Ernst des Originals verströmen würde? In Amerika ist das Format ein riesiger Erfolg, ein lukrativer Franchise hängt daran, Nahrungsergänzung, DVDs, Spinn-Offs mit den Fitnesstrainern, die Gewinnsumme liegt bei 250.000 Dollar für den Erstplazierten. In Deutschland bekommt der Sieger 25.000 Euro und hat eine Chance, später von der Bildzeitung interviewt zu werden, und nachdem die erste Staffel auf ProSieben ein Flop war, läuft das Ganze nun relativ verborgen, angeblich aber mit guten Quoten, bei KabelEins. Wollen wir hoffen, daß ein Trend des Originals es nicht nach Deutschland schafft. Dort muß es immer spektakulärer werden, bei immerhin elf Staffeln, zweinen pro Jahr, muß sich das Format stetig steigern, sonst wird es uninteressant. Immer dicker werden die Kandidaten von Staffel zu Staffel, immer kränker, immer schneller müssen die ersten hundert Pfund (etwa fünfundvierzig Kilo) runter sein, immer mehr Gewicht auf dem Campus verloren werden und immer mehr Gewicht von den »Dann schaffst du das auch!«-At home-Contestants – so lange, bis es wirklich den ersten Herzinfarkt gibt. Ich warte drauf. Ist bestimmt gut für die Quote.