Ich habe dann gestern doch noch geschrieben, weil es besser ist, das Pflaster schnell abzureißen, statt sich lange den Qualen und Herzschmerzen hinzugeben – früher oder später werde ich ja doch wieder anfangen müssen. Und weil ich dachte, es tut gut, mal etwas ganz Neues zu schreiben, wenn ich schon das Alte fertig habe, habe ich mir den Ruinensammler vorgenommen. Wir erinnern uns: Das ist einer von drei Kandidaten für den freigewordenen Romanplatz, und ich habe vor, zu allen dreien ein Probekapitel zu schreiben, um mich leichter entscheiden zu können. Ein Probekapitel später kann ich sagen: Der Ruinensammler ist raus.
Es war ein besonders ambitioniertes Projekt, mit dem ich nicht mehr und nicht weniger als den Roman revolutionieren wollte: Es gibt Tagebuchromane. Es gibt Briefromane. Dies sollte der erste Blogroman werden, komplett mit Kommentaren und Spam. Die Handlung ist schnell erzählt: Lydia, die Fliedermaus, betreibt ein Blog über leerstehende Gebäude, Robert alias Feenfürst fotographiert Ruinen. Gemeinsam reisen sie in Deutschlands Mitte, um beiderseits der ehemaligen Grenze der jüngeren Geschichte in Form von Leerstand nachzuforschen, doch nach und nach begreift Lydia, daß ihre Internetbekanntschaft kein Mensch ist, sondern ein Geist, der sich von den Erinnerungen alter Häuser ernährt. Soweit, sogut. Das Dumme ist nur: Es funktioniert nicht.
Meine Bloggerin Lydia war mir spontan unsympathisch und blieb es auch – mehr noch, sie blieb ein Abziehbild und wollte sich nicht mit Leben füllen lassen. In ihrem Blog plaudert sie munter drauflos, spart auch privates nicht aus, aber alles so gefiltert, wie man es seiner Blogleserschaft zumuten möchte und dabei die eigene Privatsphäre schützen. Echte Intimität zwischen Leser und Erzähler kommt so nicht zustande. Daß außerdem Robert keinen tiefergehenden Eindruck hinterlassen hat, fällt dabei kaum noch ins Gewicht – wenn ich meine Heldin nicht mag, kann ich kein Buch über sie schreiben.
Ich habe erst gedacht, die Abneigung ginge noch auf meinen Kummer wegen der Gaukerinsel zurück, daß ich noch nicht bereit wäre, mich auf neue Figuren einzustellen, aber ich denke, das kann ich ausschließen. Sonst hätte ich es gar nicht geschafft, irgendwas zu schreiben, aber es sind über tausend Wörter geworden, und in der Frist hätte ich mich mit meinen Figuren anfreunden müssen. Ich weiß, daß das Konzept des Ruinensammlers schon verschiedene Freunde gefunden hatte, als ich Silvester davon erzählt habe, aber das wichtigste ist, daß es mir gefällt und Spaß macht, und das tut es nicht.
Das Problem ist auch, daß es wegen der besonderen Form – dem Blogeintrag ging anstelle eines Zitates ein Tweet voraus, für den ich extra die gewünschten Nicknames als Acounts angelegt habe, um nicht irrtümlich auf einen fremden Acount zu verweisen, @feenfuerst und @flydermaus sind jetzt also mein, und daß @fliedermaus selbst schon vergeben war, darauf bin ich sogar im Text eingegangen – eine sehr kurze Halbwertszeit hat. Ich fürchte, schon in drei, vier Jahren wird dieser Roman das gleiche Schmunzeln hervorrufen wie veraltete Hardware in einer ehedem hyperaktuellen Fernsehserie oder ein pixeliges Computerspiel, es veraltet einfach viel zu schnell. Und so darf ich nun nach fünf Seiten und etwas über zwölfhundert Wörtern verkünden: Das Experiment ist gescheitert. Der Ruinensammler ist gestorben. Bleiben noch zwei Kandidaten im Rennen…