Alles aus einer Hand

Ich fahre zur Zeit nicht besonders gerne Bus. Nachdem ich fast den ganzen Dezember über unter einer Psychose gelitten habe, die mich vor allem im Umgang mit anderen Menschen oder auch nur in ihrer Umgebung sehr aggressiv gemacht hat. Und da gibt es kaum etwas schlimmeres als einen überfüllten Bus voller Leute, die lärmen und müffeln und drängeln und stören. Die Alternative ist, zu Fuß zu gehen, was mir nur gut tut und auch zu meinem Ansinnen paßt, dreißig Kilo zu verlieren, aber bei diesem Wetter… Drei Kilometer durch den Regen, das ist auch kein Vergnügen, und da fahre ich dann doch lieber mit dem Bus. Wenn ich Glück habe, kriege ich einen Platz ganz vorne und muß keine anderen Leute sehen, sonder kann vorne rausgucken, aber der Platz ist natürlich als erster weg.

Also habe ich heute einem Mann gegenübersitzen müssen – dachte ich zumindest. Denn ganz schmal und auf den ersten Blick fast zu übersehen, daß neben dem Mann am Fenster noch ein ganz kleiner Junge. Ich würde ihn auf drei Jahre oder so schätzen, und der Vater war so in meinem Alter. In jedem Fall wußte das Kind, was es wollte. »Lies mir eine Geschichte vor!«
Wie schön, ein Kind, das schon in jungen Jahren dem Zauber verfallen ist… Aber der Vater mußte ihn vertrösten. »Ich habe keine Bücher mitgenommen«, sagte er. Macht man ja auch nicht unbedingt für eine Busfahrt von zwanzig Minuten… Egal, das Kind war unerbittlich.
»LIES MIR EINE GESCHICHTE VOR!« Da half nichts. »DU SOLLST MIR EINE GESCHICHTE VORLESEN!«
»Ich kann dir ja etwas erzählen, schlug der Vater vor, aber lesen ist lesen: »VORLESEN!«
»Also gut«, sagte der Vater. »Dann lese ich dir was aus meiner Hand vor.« Und er streckte dem Sohn eine seiner großer Männerhände hin, quer wie ein Buch, damit man auch wirklich gut darin lesen kann. Und es wirkte. Das Kind war still.

»Jetzt mußt du mir nur noch sagen, was in der Geschichte vorkommen soll«, sagte der Vater.
Das Kind brauchte nicht lang zu überlegen. »Mumin!« rief es, und mein Herz tat einen Hüpfer – es gibt also auch heute noch Kinder, richtige Kinder, die wie ich mit der Muminfamilie aufwachsen. »Und eine große Glocke!« – »In der Stadt oder auf dem Land?« – »Stadt!«
Und so erzählte der Vater dann die Geschichte, wie Mumin und die Muminmutter in der Stadt zusehen, wie ein Loch in den Kirchturm gemacht wird, damit die große Glocke, die kaputtgegangen ist, rausgeholt und in der Glockenfabrik repariert werden kann. Letztlich ging es dann mehr um die Glocke als um die Mumins, aber trotzdem, es war ein zauberhafter Moment. Und als die beiden dann am Elisenbrunnen ausstiegen, war ich richtig traurig, daß ich nicht mehr erfahren konnte, wie die Geschichte denn nun ausgegangen ist.

So war das früher auch, wenn ich mit meinem Vater unterwegs war. Wir sind so gern Bus und Bahn gefahren, daß wir Tagesausflüge mit dem Namen »Bus und Bahnfahrt« unternommen haben, die das beste und tollste überhaupt waren – ein Auto hatten wir damals noch nicht. Daß wir in Dortmund-Hoerde eine brennende Mülltonne gesehen haben, hat mich auf Jahre beeindruckt, und dazu kamen noch die Geschichten, die mein Vater mir unterwegs erzählt hat… Ich wünsche dem kleinen Jungen, daß er sich in dreißig Jahren genauso gern an diesen Tag erinnern wird wie ich an den Tag, als mein Vater mir weisgemacht hat, daß die Straßenbahn in Wirklichkeit Ritzenwurst heißt. Und an die Mumins, natürlich.

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