Wir schreiben das Jahr 2010, noch. Ein kleines Mädchen wird gemobbt, weil sie stolz ihre Star-Wars-Trinkflasche zur Schule mitgebracht hat. Ein Junge wird gehänselt, weil er Mein Kleines Pony liebt. Die vierjährige Tochter einer Schauspielerin trägt Hosen und kurze Haare, und die Medien mutmaßen, ob ihre Mutter aus Eifersucht die Schönheit des Kindes unterdrückt oder ob das Mädchen vielleicht transsexuell ist. Familienministerin Schröder läßt sich darüber aus, daß Feminismus heute nicht mehr nötig, ja sogar schädlich ist. Und was hat das mit mir zu tun? Eine Menge, nicht nur, weil ich kurze Haare getragen habe und viele Jahre lang als Berufswunsch ‚Seeräuber‘ angegeben habe. Im Moment beschäftigt mich dieses Thema schon allein wegen Geigenzauber.
Worum geht es? Um den Schluß, natürlich, denn zum Glück kann ich sagen, daß viel mehr als der Schluß auch nicht mehr zu plotten ist. Aber ich trage mich schwer mit der Form des Happyends, zu dem ich ob eines ungeschriebenen Gesetzes verpflichtet scheine: Ein Happyend, das Mia in den Armen eines süßen Jungen platziert. Nein, sie wird Branwell nicht bekommen. Branwell hat sie nur ausgenutzt, für Branwell war sie nur ein Werkzeug, um in seine verbotene Heimat zurückzukehren. Er sieht schnuckelig aus, aber ganz ehrlich, so einen will man nicht, wirklich. Also, wen bekommt Mia am Ende? Vielleicht den kleinen dicken István, der Gesangsunterricht nimmt und sich auch aus dem Schatten eines übermächtigen Freundes herauslösen muß? Oder doch lieber Brandon, den armen Jungen, dessen Leib und Leben von einer Fee gestohlen wurde und der viel Liebe und Zuneigung braucht? Wie wär es mit – gar keinen?
Ich kämpfe seit über fünfundzwanzig Jahren gegen Klischees und Vorurteile, und ich habe das Gefühl, daß es mit den Geschlechterrollen seitdem eher schlimmer als besser geworden ist. Meine Freundin Martina, ein ganz normales zehnjähriges Mädchen des Jahres 1985, spielte mit Emiliy Erdbeer – und He-Man. Natürlich, es gab damals schon dediziertes Mädchen- und Jungenspielzeug, die meisten Jungen hatten keine Puppen und hätten sie auch sicher nicht zur Schule gebracht; Hänseleien wären ihnen genauso sicher gewesen wie heute. Aber sollte das nicht heute viel, viel besser sein? Homo- und Transexuelle haben heute eine ganz andere Akzeptanz als 1985, aber ebenso leicht wird ein Mensch, der es wagt, von den vorgefertigten Geschlechterrollen abzuweichen, in so eine Schublade gesteckt – ist ja nicht schlimm, macht ja nichts, wenn er schwul ist… Denn ein richtiger, normaler Junge, der spielt weder mit Puppen noch mit My Little Pony.
Zurück zu Geigenzauber und worum es mir hier eigentlich geht, denn über diese Genderdiskussion könnte ich mich stundenlang auslassen und aufregen – aber ich möchte mich einfach nicht zum Teil einer Maschinerie machen, die so tut, als könnte man als Mädchen oder Frau wahres Glück nur in den Armen eines Kerls erlangen. Warum muß Mia denn am Ende einen Freund haben? Kann sie nicht auch so ein Happyend finden? Sie muß lernen, offen mit der Krankheit ihrer Mutter und Schwester umzugehen, ohne ein Geheimnis daraus zu machen, sie muß sich damit abfinden, daß es sie genauso treffen kann oder auch nicht, sie muß ihrer ‚Freundin‘ Carolin ins Gesicht sagen, daß sie auf solche Freunde nicht angewiesen ist – das Glück liegt für Mia nicht in heißen Küssen und Händchenhalten, sondern in Stolz und Selbstbewußtsein.
Natürlich, wenn sie will, darf sie sich verlieben, es ist sogar sehr sehr wahrscheinlich, daß das früher oder später passieren wird. Aber wenn ihr mich fragt, eher später. Sie ist gerade fies verarscht worden und ausgenutzt, und wenn ich sie wäre, hätte ich danach von Jungs erstmal die Nase voll – wirklich, das hatte ich meine ganze Jugend lang, ich hatte meinen ersten richtigen Freund mit dreiundzwanzig, nachdem mein erster Versuch mit fünfzehn Jahren so kläglich gescheitert ist, daß ich mir lange vorwerfen mußte, einen Jungen, der blind in mich verliebt war, in die Jugendpsychiatrie gebracht zu haben. Sowas prägt, aber wirklich, meine Jugend war nicht besser oder schlechter als die meiner Freundinnen mit ihren ganzen Freunden. Und ich kenne heute viele Erwachsene, die keinen Partner haben. Manche sind deswegen nicht glücklich, andere ganz zufrieden, die Welt ist rund und bunt, so sei es.
Aber wo ist jetzt das Problem? Warum kann das Buch nicht einfach damit enden, daß Mia allein in den Sonnenuntergang reitet? Wer zwingt sie in Brandons oder Istváns Arme? Ich nicht. Aber vielleicht der Markt. Denn ich will dieses Buch verkaufen. Mein erster Versuch, ein marktgerechtes Jugendbuch zu schreiben, ist nicht so gut gelaufen. Ich habe mich verbogen, was den Stil anging und eine Heldin, die ich persönlich schnarchlangweilig finde, und am Ende haben die Verlage auch nicht begeistert darauf reagiert – zum Glück, muß ich heute sagen, denn es bekräftigt mich darin, so zu schreiben, wie ich es selbst mag. Auch hier werde ich mich wohl gegen ein Herzchenhappyend entscheiden, denn ich mag das Buch sehr und möchte mich nicht auf einen Schluß einlassen, der mir nicht gefällt. Kein Verlag wird die Geschichte zu Gesicht bekommen, bevor sie nicht fertig ist.
Aber ich ahne schon, daß dann die Probleme beginnen, denn die Schublade, in die sich Geigenzauber marketingmäßig quetschen läßt, ist ‚Teenie-Romanze‘. Warum? Weil ein Mädchen, ein Junge und die Liebe vorkommen. Natürlich, es geht auch um Feen, manische Depressionen, Angst und Selbstbewußtsein, aber der Stempel ist Romantasy. Und sowas braucht, in Stein gemeißelt, ein rosarotes Happyend. Weil es sich an Mädchen richtet. Tut es das? Vermutlich, die Heldin ist weiblich. Und Mädchen brauchen Liebe. In echt und im Buch. Niemand schreibt Teenie-Romanzen für Jungen. Warum eigentlich nicht? Wollen nicht all die romantischen Mädchen am Ende nicht einen ebenso romantischen Jungen? Muß man die nicht irgendwie ranzüchten, damit sie sanft und liebevoll werden, statt sie mit Fußball und Transformers hart zu machen?
Ich ahne schon. Das würde kein Mensch kaufen. Lieber als Bücher für Mädchen und Frauen schriebe ich Bücher für Kinder und Menschen – das verdoppelt meine Zielgruppe und die potenziellen Käufer. Ich selbst war als Leserin nie für Romantik zu begeistern, auch nicht in meiner Jugend. Eine Teenie-Romanze hätte ich nie in die Hand genommen. Gibt es heute noch Bücher für Kinder wie mich, denen damals das Geschlecht egal war und heute das Gender? Die nicht homo-, hetero- oder bisexuell sein wollen, sondern einfach nur Menschen, die Menschen lieben? Ich weiß es nicht. Aber wenn, dann wäre ich gern diejenige, die sie schreibt. Und mit Geigenzauber fange ich an.