Wir sind mitten im Advent, es ist eine Zeit der Freude, der Hektik und des Schnees. Eigentlich sollte ich also gut drauf sein, aber das Gegenteil ist der Fall. Seit Wochen bin ich müde und erschöpft, schlafe ununterbrochen, und wenn ich nicht schlafe, würde ich es zumindest gerne. Ich habe eine wache Phase, in der es mir verhältnismäßig gut geht, zwischen 18:00 und 21:00 Uhr und baue danach wieder rapide ab. Vermutlich hängt es mit meinen Depressionen zusammen; ich hatte letzte Woche meinen großen Ab-35-Gesundheitscheck, und der hat nichts ergeben, was organisch zu solcher Erschöpfung führen könnte. Ich bin abgearbeitet und ausgebrannt, und das schlägt mir jetzt auf die Psyche.
In der vergangenen Woche, am Donnerstag, hatte ich einen Termin bei meiner Nervenärztin, und sie hatte mir angeboten, mich für eine Woche krankzuschreiben, was ich abgelehnt habe – schon weil auf der Arbeit eine Kollegin krankheitsbedingt seit ein paar Wochen ausgefallen ist und ich vertretungsweise ihre Arbeit mache, so gut ich kann, allerdings begleitet von Angstzuständen was passiert, wenn sie wiederkommt und sieht, was ich aus ihren Daten gemacht habe. Ich dachte auch, über das Wochenende – das für mich mit einem freien Freitag anfängt – könnte ich mich hinreichend erholen. Aber das Wochenende kam und ging, und hinterher geht es mir schlechter als vorher.
Gestern auf dem Heimweg bin ich fast ausgerastet, weil in einem völlig überfüllten Bus, wo ich nur einen Stehplatz hatte, eine Frau irgendwo weiter vorne zu laut in ihr Handy gesprochen hat, und seitdem weiß ich, es geht gar nichts mehr. Ich fühle mich wie am Beginn einer Psychose, nur ohne die Schlaflosigkeit, und wenn ich nicht aus dem Verkehr gezogen werde, um mich langfristig zu erholen, ich weiß nicht, was mit mir passiert. Also habe ich versucht, bei meiner Nervenarztpraxis anzurufen und einen kurzfristigen Termin zu vereinbaren. Aber es ist leichter, an eine Papstaudienz zu kommen.
Meine Nervenärztin arbeitet in einer Gemeinschaftspraxis von gefühlt hundert Neurologen und Psychiatern, und die haben gemeinsam nur ein Telefon. Gestern habe ich den ganzen Nachmittag versucht, dort anzurufen, und immer nur das Besetztzeichen zu hören bekommen, bis es 16:00 Uhr war und die Sprechzeit vorbei. Heute habe ich mich auf der Arbeit krankgemeldet und weiter versucht, die Praxis zu erreichen, bis halb eins ist sie ja besetzt, danach nicht mehr, weil Mittwoch ist. Um kurz vor zwölf habe ich es endlich geschafft, am Telefon durchzukommen – ein Erfolgserlebnis, als hätte ich bei 9live die richtige Leitung erwischt. Für heute war also nichts mehr zu machen, also habe ich vorsichtig gefragt, ob ich kurzfristig morgen drankommen könnte.
»Waren Sie schon einmal bei uns?« fragte die Sprechstundenhilfe, und nachdem ich bejate, »Wann sind Sie geboren?« Das ist wohl so etwas wie die Paßwortabfrage. »Ich sehe, Sie haben schon einen neuen Termin.«
»Der ist erst im Februar«, sagte ich, »es geht mir aber jetzt schlecht.« Sie fragte nicht, wie schlecht. Ich versuchte zu erklären, daß meine Ärztin mich schon letzte Woche krankschreiben wollte und es jetzt aber gar nicht mehr geht. Ich wollte mich aber nicht in Details überschlagen, es geht um heikle Sachen, die ich nicht ohne Grund sonst mit meiner Ärztin bespreche.
»Ich schaue nach, ob vielleicht jemand angesagt hat«, sagte die Sprechstundenhilfe. Sie blieb dabei freundlich, die ganze Zeit über.
»Danke«, sagte ich. »Ich weiß wirklich nicht mehr, was ich sonst noch machen soll.«
Es dauerte einen Moment, dann war die Frau mit dem Nachsehen fertig. »Tut mir leid«, sagte sie, »aber da ist nichts mehr frei.«
»Aber ich bin – ich bin ein Notfall«, sagte ich. »Ich bringe auch Wartezeit mit und so.«
Aber es war nichts mehr zu machen. »Tut mir leid«, sagte die Sprechstundenhilfe. »Wir sind ausgebucht bis Ende des Jahres.«
Und da stehe ich nun. Ich bin seit etwas über anderthalb Jahren in dieser Praxis in Behandlung, und wenn ich Anfang Dezember als Notfall komme, verweist man mich darauf, daß ich doch schon einen Termin im Februar habe? Ich habe kein Fieber. Ich blute nicht. Mir fällt nicht das Bein ab, wenn ich nicht sofort einen Arzt sehe. Aber ich bin manisch Depressiv, und es geht mir schlecht, sehr schlecht. Weiß diese Frau nicht, daß es bei Depressiven ein gewisses Risiko gibt, daß sie sich umbringen? Ich habe in der Zeit erst einmal einen Notfall gelten machen, im August 2009, als ich eine leichte Psychose hatte, es ist also nicht so, daß ich laufend den Notruf mißbrauche. Ich bin nervenkrank, ich vertraue dieser Ärztin, und man läßt mich nicht zu ihr. Ich bin völlig fertig, fühle mich vor den Kopf geschlagen, wie wenn man auf jemanden eintritt, der schon am Boden liegt.
Ich werde mich nicht umbringen. Morgen habe ich einen Termin bei meinem Hausarzt, der mich normalerweise bei psychischen Sachen immer an meine Nervenärztin verweist, aber ich brauche einen Arzt, und besser ein Allgemeinmediziner als gar keiner. Jetzt werde ich mir wohl einen neuen Nervenarzt suchen. Zum Glück gibt es in Aachen mehr als eine Praxis. Trotzdem, ich trauere meinem alten Kölner Arzt hinterher, bei dem es keine festen Termine gab und man in einem Notfall einfach in die Praxis kam. Auch wenn man dann vielleicht drei Stunden warten mußte, lang über die Praxiszeit hinaus bis acht, neun Uhr abends, mein Arzt hat sich immer Zeit genommen, auch wenn es einem wirklich schlecht ging. Erst recht, wenn es einem wirklich schlecht ging… Aber eines weiß ich: In diese perfekt organisierte pieksaubere Großpraxis gehe ich nicht mehr.