Im Rahmen der Erstellung des neuen Exposées muß ich mich von lieb gewordenen Plotwendungen verabschieden, bevor sie auch nur geschrieben worden sind. Aber das passiert nicht zum ersten Mal – in den über zehn Jahren, seit ich an der Geschichte schreibe, habe ich schon manche Idee verworfen. Daß heißt aber nicht, daß sie vergessen sind, da ich ein gutes Gedächtnis habe, vor allem für Dinge, die ich nicht mehr brauche. Und ein Blog habe ich: Wo also kann ich diese ungeschriebenen Kleinodien besser parken als hier? Daher fange ich nun an, von den Dingen zu erzählen, die später kein Leser irgendwo zu Gesicht bekommen wird. Heute: Die Geschichte von Kassim und Garamanders Spiegel.
Kassim entstand ca. 2002 und sollte seinen Platz in Alexanders Teil der Geschichte finden. Er freundet sich mit Alexander an zu einem Zeitpunkt, als es diesem, von Halan verlassen, emotional sehr schlecht geht. Zum Schein baut er ihn wieder auf, nur um im entscheidenden Moment zu versuchen, ihn endgültig zu zerstören: Er verspricht Alexander, der ja die Engelsattribute zusammentragen soll, ihn zu Garamanders Spiegel zu führen, obwohl er genau weiß, daß noch jeder, der dort sein Spiegelbild sah, daraufhin den Verstand verloren hat. Der Spiegel funktioniert so: Wer hineinblickt, sieht nicht das, was er erwartet, sondern genau das Gegenteil von dem, als was er sich selbst sieht. Dann tritt das Bild aus dem Spiegel und verschmilzt mit dem Betrachter. Funktioniert totsicher. Großartiger Plan. Was Alexander in diesem Moment rettet, ist, daß sein Selbstbild dermaßen in Trümmern liegt, daß ihn Kassims diabolischer Plan ihn statt dessen gestärkt und selbstbewußt aus der Szene treten läßt.
Dramatisch? Total. Sinnvoll? Vielleicht. Aber noch bevor das Sammeln der Engelsattribute seinen Status als Hauptplot verlor, mußte Kassim die Handlung verlassen. Da konnte er noch so damatisch im Moment seiner vermeintlichen Triumphes sagen: »Verwechsle mich niemals mit Varyn. Varyn ist dein Gegenspieler – ich bin dein Feind!« Er hätte den schon nicht an Seitenlinien armen Plot nur noch weiter verschwurbelt. Alexander braucht nicht noch einen Kontrahenten, erst recht nicht, seit es gegen die Nilomaran geht.
Aber wer ist dieser Kassim, daß er Alexander dermaßen haßt? Das ist eigentlich eine Geschichte, die ich immer noch mag. Und wenn ich die Chroniken der Elomaran einmal abgeschlossen habe, was hält mich davon ab, weitere Bücher in dieser Welt anzusiedeln? Und dann bekommt Kassim vielleicht seinen eigenen Roman. Interessant genug ist er dafür. Kassim ist ein Nachfahr Aramanders, Engel des Feuers, und er wurde erzogen in dem Wissen, daß seine Familie die einzig wahren Engelsgeborenen sind. Denn während Aramanders Nachkommen heute unerkannt und im Untergrund leben und Pläne schmieden, eines Tages die Welt zu erobern und ihren Platz an der Spitze einzunehmen, wußte ihr Vorfahr genau, wo er hingehörte.
Als die Elomaran, mutmaßlich nach einer Idee ihres Bruders Damiander, vielleicht hatten sie auch eine Wette verloren, auf die Welt hinunterstiegen und ihre Kinder zeugten, hatte Aramander mit seiner Auserwählten ein Problem: Sein Feuer verbrannte die Frau in seinem Arm zu Asche, und als er in letzter Sekunde ihr noch glühendes Herz verschlang [wer sich mit nordischer Mythologie auskennt, weiß, daß ich hier schamlos gestohlen habe], wer er selbst es, der neun Monate sein Kind zur Welt brachte. Aramanders Sohn sah, wie die anderen Engelsgeborenen zu Königen gemacht wurden, und was er sah, mißfiel ihm – schließlich hatte keiner von denen das Recht, sich »engelsgeboren« nennen zu dürfen: Gezeugt vielleicht, aber geboren war nur er. So verlangte er mit Gewalt und der Kraft der ihm anvertrauten Flamme, daß alle Menschen nur ihm und ihm allein dienen sollten und er der König der ganzen Welt sein.
Die Menschen reagierten schnell und erschlugen ihn, bevor er größeren Schaden anrichten konnte. Aramander sah dies mit Schrecken, er suchte sich eine zweite Frau und gebahr ein zweites Kind, dem er einbleute, sich nicht zu erkennen zu geben, bevor seine Zeit gekommen war. Und so leben seine Nachfahren noch heute, gezeichnet von Haß, Neid und Herrschsucht, und warten auf den Moment, die Weltherrschaft zu ergreifen. Daß Kassim sich damit als ein Feind Alexanders gut eignet, ist klar. Aber das kann er auch mit jedem anderen Engelsgeborenen, und er kann ohne weiteres vierhundert Jahre vor den jetzigen Chroniken spielen, es täte seiner Geschichte keinen Abbruch. Natürlich, das bedeutet, daß er sich keinen großen Aufstand erlauben kann, dann sonst hätte man schon von ihm und Aramander gehört.
Doch ein Jungendbuch, indem Kassim als ein haßerfüllter, bitterer Teenager mit der heiligen Flamme aufbricht, um seiner Familie ihren Platz in der Welt zu bahnen, und der statt dessen lernt, was Liebe ist – das könnte ich ohne weiteres schreiben, ein Einbänder, keine vier Fortsetzungen nötig. Seine garstige Familie habe ich sogar schon ausgearbeitet, für einen Rollenspielcharakter, der zwar nicht engels- sondern drachengeboren war, aber der Rest paßt, und auch seinen Familiennamen, Nayean, kann ich gut verwenden, das könnte ebensogut Elomond sein. Also, aufgeschoben ist nicht aufgehoben, und eines Tages werden Leser die Geschichte von Kassim genießen können. Aber nicht jetzt, und nicht in diesen Chroniken. Die müssen ohne ihn auskommen, und ich muß sagen, sie vermissen ihn auch nicht.