Eigentlich ist es der Running-Gag schon seit Nano-Zeiten. Am 10. November verkündete ich im internen Wortzahlen-Thread: »Der letzte Plot wird verheizt!«. Seitdem habe ich an meinem derzeitigen Vergüngungswerk, der »Gauklerinsel«, knapp hunderttausend Wörter geschrieben, schätzungsweise 400 Seiten, und im Tagesrhythmus habe ich verkündet: »Der Plot ist alle!« – es grenzt an ein Wunder. Tatsächlich habe ich es immer wieder fertiggebracht, mir zumindest die nächste Szene auszudenken, und dann die nächste, und die nächste, und mich daran entlanggehangelt, ohne jemals wirklich ins Straucheln zu geraten.
Und heute ging es mir wieder so: Gestern mußte ich noch eine Nullrunde einlegen – ich kann sie mir leisten, habe einen zwei-Tages-Vorsprung vor dem Monatsziel – vordergründig, weil ich ausgerechnet an meinem freien Tag Abenddienst in der Bibliothek schieben mußte, in Wahrheit aber, weil ich keine Ahnung hatte, was ich schreiben sollte. Jeden Tag sagt mir mein Plot »Bis hierher und nicht weiter« – erst war ich am Ende, nachdem ich Roashan in die Zitadelle verschleppt hatte, dann gingen nochmal 130 Seiten damit drauf, daß sein toter Kumpel Shaun alles in Bewegung setzt, ihn wiederzufinden, und am Ende selbst in der Zitadelle landet, und dann war ich doch an dem Punkt angekommen, wo ich mir eingestehen mußte, daß ich mit dem Plot am Ende bin.
Und was habe ich heute getan? Geschrieben habe ich, nochmal sechs Seiten, anderthalb tausend Wörter. Diesmal gehe ich im Detail darauf ein, wie mein Rosi überhaupt in die Zitadelle gekommen ist an dem Tag, an dem er nicht nach Hause kehrte – also nichts, was den Plot direkt vorantreibt, sondern mehr ein Rückschritt. Langsam wird es wirklich eng. Ich weiß immer noch nicht, wie die Zitadelle von innen aufgebaut ist, wie die Vermummten ohne Mumme aussehen und die Edlen überhaupt, was mit den Gefangenen passiert, bevor sie umgebracht werden, und vor allem: Wie das Buch ausgehen soll. Wie kriege ich Rosi und Shaun aus der Zitadelle? Was wird mit den Verschwörern? Wer hat am Ende das Sagen? Nichts. Alles leer. Keine Ahnung.
Ich bin ja als Autorin nicht ganz doof und schreibe auch nicht gerade meinen ersten Roman. Ich weiß, daß man vorher plotten sollte, oder zumindest, daß man hundert Seiten vor dem Schluß wissen sollte, wie es ausgeht. Statt dessen erlebe ich hier einen Fall von History Repeating. Es führt mich weit zurück, an die Anfänge meines Fantasyautorentums, ins Jahr 1992. Ich war siebzehn Jahre alt und schrieb meinen ersten richtigen Fantasyroman. Die Worte flossen mir förmlich aus dem Füller, allein am ersten Tag schrieb ich acht Seiten, ungehörter und niegesehener Ausstoß. Ich schrieb über Shauwnee, die Diebin, und über die Barden Mervin und Nira, und über ihren bösen Widersacher, den Sprecher, der die Welt ihrer Lieder und Kultur beraubt… ich war toll. Und ich machte einen Fehler. Ich ließ meine Helden in Gefangenschaft geraten.
Auf Seite 62 lernen sich meine Helden dann kennen, im Kerker. Es gibt noch ein paar nette Dialoge, die aber über eine Sache nicht hinwegtäuschen können: Meine Helden sind Gefangene des Oberschurken, und ich habe keine Ahnung, wie ich sie aus diesem Kerker jemals wieder rausbekommen soll. Nachdem ich drei Wochen lang oder so im Feureifer an dem Projekt gearbeitet, dann zog mir der fehlende Plot den Boden unter den Füßen weg. Ich habe nicht mehr an der Geschichte weitergeschrieben, und bis heute weiß ich nicht, wie ich Shauwnee, Mervin und Nira jemals wieder aus dem Kerker hinausbekommen soll.
Und jetzt, doppelt so alt und dreimal so erfahren, ṕassiert mir das gleiche nochmal. Ich habe Roashan, Shaun und Maris in der Zitadelle – und daß ich die Szene, wie Maris in die Zitadelle kommt, noch zu schreiben habe, macht das Ganze jetzt nicht nennenswert besser – und keine Ahnung, wie ich sie da jemals wieder rausbekommen soll. Nur schade, daß ich das ganze bei meinem namenlosen Frühwerk schon nach 62 Seiten gemerkt habe und nicht erst nach 538. Es wäre so schade, das Buch jetzt vor die Wand zu fahren! Ich habe doch solchen Spaß an der Geschichte und an den Figuren, noch nie ist das Schreiben mir so leicht gefallen, war ich mit dem ersten rohen Ergebnis so zufrieden. Es kann nicht so zu Ende gehen. Es darf nicht.
Vorschläge, wie ich die Edlen bezwingen und die Helden befreien kann, werden dankbar angenommen, scheitern aber voraussichtlich an der Beschaffenheit von Helden, Zitadelle, Edlen, und mir.