Nachdem er seinen Eid geleistet hat, durfte Varyn sich wieder hinlegen, und er hat endlich seinen langerwarteten Traum träumen dürfen. Wie lange hatte ich das geplant! Wie sehr hatte ich mich darauf gefreut! Nun ist es also geschehen, und wie immer ist es ganz anders geworden als ursprünglich geplant. Und wie immer kann ich noch nicht sagen, ob ich mit der Szene in dieser Form zufrieden bin – dafür muß sie noch ein wenig sacken. Meistens denke ich so etwas wie: »Na ja, wenn ich sie abtippe, kann ich sie nochmal komplett überarbeiten« – und beim Abtippen: »Warum wollte ich das hier neu schreiben? Ist doch gut so!«
Gut so ist auch, daß damit ein weiteres Kapitel aus Varyns Leben endlich fertig geworden ist. Seit dem 7. September letzten Jahres hatte ich an diesem sechsten Kapitel gearbeitet – das bedeutet: Ich habe es in nur einem halben Jahr fertig bekommen! Und ich dachte, es wäre noch halbwegs schnell gegangen… Na toll – wie alt will ich denn werden, bis das Buch fertig habe? Immerhin liegt der Durchschnitt von Dämmervogel auf mehr als einem Kapitel pro Jahr. Seit 2001 arbeite ich daran – genau gesagt: Seit dem 11. März 2001, was bedeutet, daß Varyn bald seinen fünften Geburtstag feiern darf. Während Alexander schon vor drei Wochen sechs geworden ist – aber er ist ja auch innerhalb der Geschichte der Ältere.
An diesem 11. März 2001 war ich der Arbeit an Schwanenkind so überdrüssig, daß ich beschloß, diesen Teil erst einmal beiseite zu legen und mich an den Gegenpart zu machen, Varyns Vorgeschichte, von der ich keine weiteren Ideen hatte, als daß der Junge in einem Bergwerk arbeitet. Warum Bergwerk?
a) ich mag Bergwerke seit meiner frühesten Kindheit, die ich im Ruhrgebiet verbrachte. Das Bochumer Bergbaumuseum war mein allerliebstes Ausflugsziel, und ich habe dort viel gelernt, was ich später als Grundlage verwenden konnte
b) ich kannte noch keine andere Geschichte, in der ein jugendlicher Held im Bergbau arbeitet. Und die ewigen Küchenjungen hingen mir zum Halse raus.
c) ich brauchte eine Beschäftigung, bei der Varyn so schmutzig werden kann, daß seine überirdische Schönheit auf ein erträgliches Maß abgemildert wird und nicht so sehr ins Auge springt. Und im Vergleich zu solch glattgeschminkten Engelsgeborenen wie Alexander und Halan sollte er doch einen vernünftigen Gegenpol darstellen.
Ich nahm mir also einen neuen Collegeblock und fing an, munter drauflos zu schreiben, ohne Plan, aber mit viel Schwung und Freude. Während ich die ersten Seiten schrieb, wurde Varyn zu der gequälten Seele, die er heute immer noch ist – und Gaven, der überhaupt nicht geplant war, erwachte zum Leben. Zoe und Andrea, meine Mitbewohnerinnen in diesen seeligen Kölner Wohngemeinschaftszeiten, waren beide hin und weg und versicherten mir, daß sie Varyn noch mehr lieben würden als Halan, und so schrieb ich nach dem Prolog auch noch gleich ein erstes Kapitel – und dann legte ich Dämmervogel wieder beiseite und kehrte zurück zu meiner Arbeit an Schwanenkind. Denn weiterhin galt: Figuren machen noch keinen Plot. Und bevor ich den hatte, wollte ich erst mal da weitermachen, wo ich es konnte.
Warum ich das heute erzähle, und nicht am 11. März? Zwei Gründe: Erstens bin ich am 11. in Offenburg und weiß nicht, ob ich mich dort einfach ins Internet hängen kann, um an meinem Blog zu schreiben – nicht das beste Verhalten für einen Gast, wenn ich mich fragt. Und der andere Grund ist: Dieser Collegeblock, den ich damals angebrochen habe – er ist heute voll geworden. Die letzte Zeile des sechsten Kapitels füllt die letzte Zeile der 160. Seite dieses treuen, fettigen, abgenutzten und angeschmuddelten Collegeblocks. Und ich habe mir einen neuen Block genommen und die Seitenzahl 161 auf das erste Blatt gemalt, und die Worte geschrieben „Siebtes Kapitel“.
Und die Zeit wird zeigen, wie schnell ich damit fertig werde.