Mitleidscrisis

Ich habe kürzlich meinen Geburtstag gefeiert, und es war mein neunundvierzigster. Da ich das Glück habe, ausgerechnet am Welttag des Buches meinen Geburtstag feiern zu dürfen, erinnern sich auch viele alte Bekannte an meinen Geburtstag, und ich konnte mich über zahlreiche liebe Glückwünsche freuen, die nicht nur auf der Facebook-Erinnerungsfunktion beruhten. Aber so sehr ich mich darauf gefreut habe, in ein neues Lebensjahr einzutreten, neue Chancen ergreifen zu könenn und leckeren Kuchen zu essen, ist mir in diesem Jahr doch plötzlich schmerzlich aufgegangen, dass ich wahrscheinlich die Hälfte meines Lebens – und die längere, was das betrifft – hinter mir habe und es von jetzt an nur noch bergab gehen kann. Und plötzlich bin ich wieder da, wo ich mit Anfang zwanzig war, und das nicht, um mich noch einmal jung zu fühlen.

Heute blicke ich zurück auf mein Studium als die schönste Zeit in meinem Leben, und es ist wahr, dass ich die Erfahrungen, die ich da gesammelt habe, nicht mehr missen möchte, und vieles war wirklich, wirklich schön. Aber das Ganze wurde überschattet von etwas, das ich damals meine Quarterlifecrisis nannte und heute als die erste der Depressionen betrachte, die mich seit Jahrzehnten durch mein Leben begleiten. Damals war es die Angst, dass das Paradies nicht für immer andauern würde, die dazu führte, dass genau dieses Paradies Flecken bekam, und ich begann, mit einer Angst zu leben, für die ich kein Gegenmittel hatte: Die Angst vor meiner eigenen Sterblichkeit.… Weiterlesen

Stubenhocker

Es ist lange her, dass ich ein Waldkind war. Damals, als ich im Ruhrgebiet gelebt habe, war ich wirklich viel draußen. Wir hatten über eine längere Zeit keinen Garten – unser Vermieter hatte das Grundstück, wo unser erster Garten war, als Bauland verkauft – aber das hat mir nicht so viel ausgemacht: Auf unserer Straße gab es etwas viel besseres. Sie endete in einer Sackgasse, danach kam ein Brennesseldickicht, dann ein Stück Brachland, wo ein alter Tiefbunker war, in dem wir Mutproben abhielten, und hinter dem Brachland kam ein riesiger Wald, der Kärling. Wenn man »kindheit im Ruhrgebiet« hört, denkt man wahrscheinlich erst einmal an dreckige Häuserschluchten, aber ich hatte wirklich viel wildes Grün, um dort zu spielen, und das habe ich, allein oder mit meinen Freunden oder Geschwistern, wirklich gern getan. Später bekamen wir dann noch einen neuen Garten, aber der war keine Konkurrenz zu dieser wunderbaren Wildnis.

Wir sind da weggezogen, als ich acht Jahre alt war, und ich trauere meiner Straße, meinen Freunden und meinem Kärling immer noch nach. Stattdessen landete ich im Münsterland, wo wir einen wirklich großen Garten hatten, aber keinen Wald mehr, wo die Kinder zu sauber und ordentlich waren, um eine Wildnis zum Spielen auch nur zu vermissen, und wo ich mich schwer tat, Fußzufassen.… Weiterlesen