Kein Sex für Sandro

Eigentlich kann ich die Uhr danach stellen: Immer, wenn ich es gerade am allerwenigsten brauchen kann, kommt eine neue Idee, die, statt sich artig hinten an und dann erst vorzustellen, gleich mit der Tür ins Haus fällt und geschrieben werden will, jetzt, sofort, unbedingt. Ich sag ja gar nichts dagegen, aus einem paar dieser Ideen sind tolle Bücher geworden, und es ist mir immer noch lieber, zu viele Ideen zu haben als zu wenige. Aber eigentlich brüte ich immer noch über Kettlewood, und dazu kommt, dass diese neue Idee mit einem Protagonisten im Gepäck kommt, der auf Machtspielchen besteht, bevor er auch nur seinen ersten Auftritt hinter sich hat. Sandro weiß genau, was ich zu schreiben habe. Sandro will Sex. Sandro ist sehr präzise, was er gerne hätte. Sandro will einen Blowjob. Und damit deckt er sich mit meinen Vorstellungen zu exakt null Prozent.

Die Geschichte dahinter liebe ich. Sie ist doppelbödig und vielschichtig, spielt mit Traum und Wirklichkeit, hat dafür einen so eng begrenzten Spielort, wie ich ihn seit der Gauklerinsel nicht mehr hatte, ermöglicht mir, meinen Figuren wilde Drogen zu verabreichen, und hat das Zeug dazu, endlich der Gaukler-Nachfolger zu sein, nach dem ich seit fünf Jahren suche: ein Buch, an dem ich zehn Jahre lang schreiben kann und das mich immer noch nicht wieder loslässt, eines, das in einer Stadt spielt, in der ich jede Straße und jede Gasse und jeden Menschen kenne, eins, das es nicht eilig hat, dafür aber um so hartnäckiger ist – und leider auch eines, für das sich kein gescheiter Titel findet.… Weiterlesen

Was tische ich auf?

Enid Blyton war in ihren Büchern ungeheuer gründlich darin, zu beschreiben, was ihre Protagonisten essen. Wenn sich Dinah eine Dose mit Pfirsiche aufmachte, während sich Lucy am Thunfisch genüglich tat und Jack und Philip die Kekse verkimmelten, erfuhren die Leser jedes Detail, ob sie es wissen wollten oder nicht – in meinem Fall eher nicht. Ich kann mir Spannenderes vorstellen als seitenlange Beschreibungen von Dosenobst und Crackern, vor allem, wenn das Buch ansonsten spannend ist. Aber so habe ich dank Blyton eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was englische Kinder in den Vierzigern/Fünfzigern sich unter einem Festmahl vorstellen. Und wenn ich mal ein Buch in der Zeit ansiedle – was durchaus geplant ist – werde ich die Blyton als Primärquelle heranziehen, natürlich nur, nachdem ich mich vergewissert habe, dass es sich auch wirklich um die echte Blyton handelt und nicht um eine ihrer deutschen Ghostwriterinnen.

Leiden spielen die Spiegel von Kettlewood nicht zu Blytons Zeiten – und ich musste feststellen, dass ich mich wirklich gut mit der viktorianischen Zeit auskenne, wenn es um Politik, Zeitgeschichte, Mode oder Menschenrechte geht – aber über die Cuisine nicht wirklich Bescheid weiß. Ein paar Sachen bekomme ich auf die Reihe, weil sie bei Alice im Wunderland eine Rolle spielen: So kenne ich zum Beispiel Mockturtlesuppe, bei der anstelle von Schildkröten Kalbskopf in den Topf kam, und kann annehmen, dass dann in vornehmeren Haushalten echte Schildkröten auf den Tisch kamen (muss das aber verifizieren, ehe ich es verwende).… Weiterlesen

Plagiahi, Plagiaho, Plagiahihahoppsassa

Ich habe abgeschrieben. Und es tut mir leid. Es ist bald dreißig Jahre her. Ich war im achten Schuljahr hatte im Englischunterricht eine Sechs geschrieben, sehr zu meinem Leidwesen und erst recht dem meiner Eltern, im Diktat. Zum Glück sollte es die einzige Sechs meiner Laufbahn bleiben, aber die Folgen waren drastisch. Rechtschreibung war noch nie meine Stärke, aber Englisch eigentlich eines meiner Lienblingsfächer, und dann sowas … Meine Mutter hatte den rettenden Einfall: ich sollte englische Texte abschreiben. Aus der Stadtbücherei lieh ich mir ein Drei-Fragezeichen-Buch aus, auf Englisch. Gutsortierte Bücherei war das, und Drei Fragezeichen habe ich schon immer geliebt. Also musste ich jeden Tag eine Seite aus dem Buch abschreiben, um mir die Rechtschreibung einzuprägen.

Ich wollte das Nützliche mit dem Angenehmen kombinieren: In dem Jahr hatte ich gerade meine erste Schreibmaschine bekommen, und es war an der Zeit, richtig tippen zu lernen. Meine Theorie: Wenn ich nach jedem Buchstaben erst eine Minute suchen muss, prägt sich mir die Rechtschreibung doppelt gut ein! Meine Mutter war wenig überzeugt, glaubte sie doch, nur handschriftlich ließen sich nachhaltige Erfolge erzielen, doch die Hauptsache war, ich tat überhaupt was für meine Englischkenntnisse. Gut anderthalb Kapitel habe ich auf diese Weise geschafft.… Weiterlesen

Wat kütt? Dat kütt! IV

Silvester steht vor der Tür – Zeit für meine jährlichen guten Schreibvorsätze, aka. WKDK: Die Liste der Werke-in-Arbeit, die aus dem alten Jahr ins Neue mitgenommen werden. Das heißt nicht, dass die alle jetzt fertig werden müssen – aber zumindest ein paar von ihnen will ich hier in einem Jahr nicht mehr sehen. Namentlich diejenigen, die schon auf meinem letzten, vorletzten und drittletzten WKDK gestanden haben, meinen Schreibvorsätzen für 2011. Die umfassten damals nur sechs Titel – und zwei von denen sind immer noch nicht fertig. Inzwischen ist die Werksliste auf zehn Bücher angestiegen (zwischenzeitlich waren es mal dreizehn …) – und auch wenn ich schon des öfteren gegen meinen Grundsatz verstoßen habe, nur dann etwas Neues anzufangen, wenn auch etwas Altes fertiggeworden ist: Diesmal meine ich es ernst. 2016 gibt es also von mir:

Die Spiegel von Kettlewood
England, 1871. Iris Harding ist erst vierzehn Jahre alt und hat doch schon länger als ihr halbes Leben in der Textilfabrik gearbeitet, als ihre Mutter stirbt und sie noch ärmer als zuvor zurücklässt. Mit einer alten Schachfigur, die sie im Nachlass der Mutter gefunden hat, macht sich Iris auf zum Herrenhaus Kettlewood in Essex, wo die Mutter einmal gearbeitet hat und wo auch Iris‘ leiblicher Vater zu finden sein muss.… Weiterlesen

Nano Nano

Wie in jedem Jahr seit 2006 habe ich auch in diesem Jahr am Nanowrimo, dem (Inter)National Novel Writing Month, teilgenommen, und wie immer seit 2011 mit mehr als einem Projekt: Seit ich mich zur hauptberuflichen Schriftstellerin erklärt habe, ist das Nano-Pensum von 50.000 Wörtern im Monat nicht mehr so ungewöhnlich für mich, und weil ich mich fordern möchte und meine Grenzen ausreizen, verdopple ich und lege einen zweiten Roman drauf. In diesem Jahr waren es die Neuauflage von Lichtland, meiner Nano-Nemesis von 2007, und mein neuer Gaslichtroman Die Spiegel von Kettlewood. Gewonnen habe ich mit keinem von beidem, und statt mit 100.000 Wörtern bin ich »nur« mit knapp 65.000 aus dem Monat gekommen – aber anders als in früherem Jahren, in denen ich mein Ziel verfehlt habe, macht es mir diesmal weniger aus. Ich habe zwei tolle Bücher begonnen, an denen ich jetzt fleißig weiterschreiben werde und zu denen ich sehr positive Rückmeldung bekommen habe: Da sehe ich nicht die 15.000 Wörter, die mir zum Sieg fehlen, sondern die 35.000, die ich habe. Und die kann mir keiner wegnehmen.

Der Neuaufguss von Lichtland stellte sich erst einmal ziemlich sperrig heraus. Da ich den Charakter meiner Hauptfigur Nomi radikal verändert habe, musste ich aufpassen, nicht gleich wieder in alte Muster zu verfallen, und ich musste die ersten Seiten nochmal schreiben, als Nomi sich, kaum dass er den Mund aufmachte, wieder in den arroganten kleinen Schnösel aus der ersten Fassung zu verwandeln drohte.… Weiterlesen

History-Buff oder History-Bluff?

Ich wollte nie historische Romane schreiben, ehrlich. Zum einen ist es ein Genre, dass ich nicht besonders gern lese, zum anderen hat mich die Bandbreite dessen, was man falsch machen kann, schlichtweg abgeschreckt. Als Schülerin hatte ich einmal angefangen, eine Geschichte zu schreiben, in der ein Mädchen aus den Achtzigern/Neunzigern (also damals zeitgenössisch) merkt, dass sie schon einmal in den Zwanzigern gelebt hat – und scheiterte daran, dass ich mir zu unsicher war, wie Menschen in dieser alten Zeit gesprochen haben sollten. Danach ließ ich von allem, was wie ein historischer Stoff aussah, geflissentlich die Hände. Auch, als meine Eltern beim Ahnenforschen auf eine richtig knackige Räuberpistole stießen, die regelrecht danach schrie, zu einem Roman gemacht zu werden, war ich nicht zu erweichen: So interessant der Stoff aus dem Achtzehnten Jahrhundert auch sein mochte, und so leicht sich ein Buch mit dem Titel Die Tochter des Goldmachers auch verkaufen lassen würde – es war einfach nicht mein Genre. Keine historischen Romane für mich, und keine von mir.

Übermorgen beginnt der Nanowrimo, und an den Start geht mein neuer Mystery-Roman. Für Die Spiegel von Kettlewood habe ich das harte Leben der englischen Textilarbeiterinnen im Jahr 1871 recherchiert, unter besonderer Berücksichtigung der Gesetzeslage zur Kinderarbeit und Fragen der allgemeinen Schulbildung.… Weiterlesen

»Ich hasse Bücher!«

Gestern traf ich meine Nichte. Ich sehe sie nur selten, im Schnitt nicht öfter als einmal im Jahr, da mein Schwager mit seiner Familie in Norddeutschland lebt, eine ganze Ecke weg von uns. Aber da gestern meine Schwiegermutter ihren Geburtstag feierte, war das eine von den Gelegenheiten, wo die ganze Familie zusammenkommt, und so traf ich meine Nichte. Sie ist acht Jahre alt, gerade ins dritte Schuljahr gekommen, und ich kenne sie als ein intelligentes, wissbegieriges Mädchen. Wie wir, ist auch ihre Familie gerade in ein neues Haus gezogen, wir unterhielten uns übers Umziehen, sie fragte, ob wir wirklich in einer Villa wohnten, und ich zeigte ihr ein paar Fotos von unserem Haus – darunter auch eines von unserem Bücherregal im Esszimmer, das über die ganze Breite der Wand und sogar noch um die Ecke geht und fertig eingeräumt war, lange bevor wir auch nur an die Montage der Küche dachten.

Meine Nichte starrte das Bild an, und ich wartete auf einen Ausruf der ungläubigen Bewunderung. »Sind das alles Bücher?«, fragte sie. »Das alles?« Ich nickte. »Auch die da?« Sie hatte die Perry-Rhodan-Sammlung meines Mannes entdeckt, deren metallisch glänzende Buchrücken tatsächlich sehr futuristisch aussehen und ebensogut etwas anderes hätten sein können, aber natürlich auch Bücher sind.… Weiterlesen