Heute vor sechs Jahren starb einer der größten Schriftsteller, die ich jemals die Freude hatte zu lesen, Sir Terry Pratchett – ein Mann, dessen warmherzige Philosophie mich zutiefst berührt hat und dessen Humor mich in einer vollbesetzten S-Bahn vor Lachen fast hat ersticken lassen. Es war bekannt, dass er an Alzheimer erkrankt war, doch sein Tod kam unerwartet und hat mich kalt erwischt.
Es war während der Leipziger Buchmesse, ich saß mit einigen anderen Tintenzirklern beim gemütlichen Abendessen, als die Nachricht reinkam und plötzlich alles ganz still wurde. Seitdem sind viele Leute gestorben, auch viele Autoren, aber es ist Sir Terrys Tod, der mir immer noch am nahesten geht. Terry Pratchett hat mein Leben durch mehr verändert als nur durch seine Bücher, und das hängt zusammen mit der Spanischen Inquisition.
Im März 2001 war Pratchett in Köln, im Rahmen der LitCologne trat er im Gürzenich auf. Die Karten waren fast sofort ausverkauft, und ich habe keine mehr bekommen, aber am Tag vor der Lesung bekam ich einen Anruf von einer Freundin – ich wäre doch ein Pratchett-Fan, ob ich Interesse hätte, auf die Veranstaltung zu gehen? Ihr Bruder hatte eine Karte, war aber verhindert, und für zehn D-Mark könnte ich seine Karte haben. Natürlich habe ich zugesagt.
Der Große Saal des Gürzenichs, wo sonst die Prunksitzung im Karneval stattfindet, war ein überdimensionierter, dunkel und verstaubt wirkender Ort – und sowohl das Publikum als auch der Autor selbst wirkten völlig fehl am Platz, zu jung, zu frisch, zu wenig steif. Aber es war einer von Kölns größten Sälen, und er war voll bis auf den letzten Platz. Sir Terry stand auf der Bühne, wo er trotz seines Hutes fast verloren wirkte, und davor stand unten ein einsames Mirkophon.
Die Veranstaltung, so stellte sich heraus, war gar keine Lesung. Pratchett war da, um zu erzählen – aus seinem Leben, von seinen Büchern, über das Schreiben, und das Publikum sollte ihm Fragen stellen. Nur, um das zu tun, musste man aufstehen, unter aller Augen einen elendig langen, elendig braunen Läufer entlangschreiten und dann am Mikrophon auf Englisch seine Frage stellen – und niemand traute sich.
Sir Terry ließ sich davon nicht stören. Er hatte auch so genug zu erzählen, um drei solcher Abende am Stück zu füllen, aber er versuchte, uns die Scheu zu nehmen – schließlich, so meinte er, müssten ja nicht wir die Angst haben, wir wären so viel mehr als er, und er wäre derjenige, der da quasi der Spanischen Inquisition gegenüberstand. Gefolgt von einer Annekdote: Wie er als Gast auf einer Finnischen Convention war, und die Veranstalter zu seinen Ehren, Hauptsache englischer Humor, den Monty Python-Sketch »The Spanisch Inquisition« aufführten – auf Finnisch. Und Sir Terry, der sich jetzt nicht mit Monty Python auch nicht wirklich identifizieren konnte, verstand kein Wort, außer ab und zu »Kardinal«.
Dann habe ich einen Blackout, und das nächste, was ich weiß, ist, wie ich unten am Mikrophon stand. Wie ich dahingekommen bin – ich weiß es bis heute nicht, ich erinnere mich nicht mal, aufgestanden zu sein, aber ich war am Mikro, und Sir Terry Pratchett stand vor mir und über mir und blickte, wohlwollend lächelnd, auf mich hinunter. Also gut. Luft holen. Dann stellte ich, als erster Gast in einem proppevollen Sitzungssaal, meine Frage: Wie ist es Sir Terry gelungen, an seinen ersten Buchvertrag zu kommen? Ist er einfach reinspaziert und hat gesagt »Ich bin der Douglas Adams der Fantasy«, oder hat er es zigmal versucht und ist zigmal abgelehnt worden, bis es endlich geklappt hat?
Sir Terry blickte auf mich hinunter und lächelte, und in diesem Augenblick wusste er genau, wer ich bin und warum ich frage. Ich glaube, er hat in seinem Leben viele dieser Veranstaltungen gehabt, und es hat viele dieser kleinen Majas gegeben, die eine Variante dieser Frage gestellt haben, mit dem ersten eigenen Roman in der Schublade und vielleicht auch schon den ersten Ablehnungsschreiben vom Traumverlag. In meiner Schulade lag meine »Flöte aus Eis«, zusammen mit dem freundlichen Schrieb der damaligen Klett-Cotta-Lektorin, weswegen sie sich gegen das Buch entschieden hatte. Ich schrieb an meinen »Chroniken der Elomaran«, und bis zu meiner nächsten Verlagsbewerbung sollte es noch sechs Jahre dauern. Und ich wünschte mir, Sir Terry würde mir sagen: Alles wird gut. Und er sagte es.
Sir Terry begann zu lachen. Als er seinen ersten Verlagsvertrag unterschrieben hat, erzählte er, war Douglas Adams noch ein Schuljunge. In kurzen Hosen. Der junge Terry war auch noch Schüler, hatte ersten Roman fertig, und suchte einen Verlag dafür. Und das tat er in den Gelben Seiten. Der kleine Regionalverlag, dem er dann sein Manuskript schickte, machte eigentlich gar keine Belletristik, aber Terrys Roman gefiel dem Verleger, und so bekam der Teenager seinen ersten Vertrag. Das war keine Geschichte, die ich so hätte nachmachen können – ich war schon 25, konnte kein Wunderkind mehr werden, und meine ersten gescheiterten Versuche hatte ich schon hinter mir. Aber ich verstand, was wichtig war: Es einfach versuchen. Und dann, mit dem richtigen Manuskript zur richtigen Zeit, einfach Glück haben.
Irgendwie schaffte ich es auf meinen Sitz zurück, und nachdem das Eis jetzt gebrochen war, trauten sich auch andere aus dem Publikum ans Mikrophon, aber mir schwirrte der Schädel, und ich erinnere mich an nichts mehr von dem, was Pratchett sonst noch an dem Abend erzählte. Nach der Veranstaltung signierte Sir Terry mitgebrachte Bücher, und ich reihte mich in einer kilometerlangen Schlange ein, um mein Lieblingsbuch »Hogfather« signiert zu bekommen. Ich hatte Glück: Weil ich die erste Frage gestellt hatte, signierte er mir noch ein zweites Buch, und dann wünschte er mir viel Glück, und wir wussten beide, wofür.
An dem Tag, als Terry Pratchett starb, hatte ich auf der Buchmesse selbst eine Lesung gehabt. Mein erster Roman, »Das Puppenzimmer«, war anderthalb Jahre früher erschienen, und ich hatte einen noch ganz frischen Verlagsvertrag in der Tasche. Beim Traumverlag. Und irgendwie, da war ich mir sicher, verdankte ich das alles nur Sir Terry Pratchett.