Gerade zieht an unserem Haus der Martinszug vorbei, mit Blaskapelle, vielen Kindern mit Laternen und gefühlt noch zweimal so vielen Eltern. Da bekomme ich ein leichtes Déjà-vu-Gefühl, denn letzte Woche ist auch schon so ein Zug am Haus vorbeigelaufen, auch mit Blaskapelle, aber vielleicht machen die das hier im Frankenberger Viertel ja nicht ohne Generalprobe? Vielleicht ist heute nicht der beste Tag für so etwas, immerhin ist heute Volkstrauertag, und von mir aus hätte man den Zug auch direkt an St. Martin machen können – aber vielleicht ist das ja auch Absicht mit Hintergedanken, denn am Martinstag begehen alle Weltkriegsbeteiligten außer den Deutschen den Armistice Day (auch Veterans‘ Day, Poppy Day), den Tag des Waffenstillstands, der den Ersten Weltkrieg beende, und während sich in Deutschland die Jecken ihre roten Pappnasen aufsetzen, stecken sich anderswo die Veteranen eine rote Mohnblume ans Revers. Der Volkstrauertag ist in Deutschland der Ersatz dafür, und so passt es vielleicht ganz gut, den Martinszug auf diesen Tag zu verschieben.
Zum Volkstrauertag passt auch, dass von den Kindern da draußen keines gesungen hat. Die Blaskapelle spielt »Ich gehe mit meiner Laterne«, und der restliche Zug hüllt sich in andächtiges Schweigen. Ich war kurz davor, ein Fenster aufzureißen und lauten Gesang anzustimmen, aber ich habe es dann doch gelassen. Mit Sankt Martin verbinde ich eine der bittersten Erinnerungen meiner Kindheit, und das kam gerade alles wieder ein bisschen hoch. Auch wenn zu unserer Zeit alles besser war und wir einen richtigen Martin hatten, der hoch zu Pferd dem Zug voranritt mit wehendem roten Mantel und einem Helm, wie bei Asterix die Zenturios tragen, hat sich doch 1984 eine Anekdote zugetragen, an die sich sicher außer mir niemand mehr erinnert, ich aber dafür um so mehr.
Ich bin und war schon immer eine ebenso begeisterte wie begnadete Sängerin, und in meiner Grundschulklasse, damals im vierten Schuljahr, eine der beiden Besten. Conni, die andere, wollte Sängerin werden, und ich muss über sie sagen, dass sie auch wirklich gut singen konnte, außerdem war sie eine Freundin von mir, eine der besseren, und ich möchte gleich klarstellen, dass sie für diese Ereignisse keinerlei Schuld traf. Meine Schule richtete, zusammen mit dem nebenan liegenden Kindergarten, jedes Jahr eine große Martinsfeier aus, und da wir auf dem Dorf lebten, hieß das, so ziemlich jede Familie mit Kindern war an diesem Abend auf dem Schulhof. So war es eine große Ehre für mich, dass ausgerechnet ich ausgewählt wurde, Solo zu singen, richtig mit Mikrophon, mit dem unsäglichen Lied »Sankt Martin, bist ein guter Mann.« Wirklich, ich habe das Lied gehasst, aber Ehre ist Ehre.
Vor allem störte mich folgende Textzeilen:
Sankt Martin, bist ein guter Mann,
schenkst uns Kindern eine Tüte.
Da sind so viele Sachen drin,
wir danken dir für deine Güte.
Schenken? Güte? Ich wusste, es bekam nicht etwa jedes Kind eine Tüte mit Süßigkeiten, sondern nur die, deren Eltern vorher drei Mark bezahlt hatten, und ich war mit meinen neun Jahren sicher schon eine glühende Kommunistin – trotzdem, was tut man nicht alles für ein bisschen Ruhm, und ich war bereit, das Lied zu singen, genauso verlogen und verheuchelt, wie es auf dem Zettel stand. Weil eben richtig mit Mikrophon gesungen werden sollte, war ich für den Nachmittag zum Soundcheck bestellt, und kam auch brav und pünktlich und etwas aufgeregt zum Schulhof, wo meine Lehrerin schon auf mich wartete – und mich wieder nach Hause schickte.
»Du singst das Solo heute nicht«, sagte sie. »Conni singt es.« Ich verstand die Welt nicht mehr. War ich zu schlecht? Aus heiterem Himmel? Wieso war Conni plötzlich besser als ich? Aber ich bekam keine Erklärung. Ich ging wieder nach Hause, einfach so, und als dann am Abend die Martinsfeier war und Conni das große Solo sang, stand ich da mit meiner Tüte voll Süßigkeiten und weinte, aber nur ganz leise, um nicht den Gesang zu stören. Ich weiß nicht, wie ich später die Hintergründe erfahren habe, ob meine Lehrerin sie mir erzählt hat oder meinen Eltern, aber auf jeden Fall war an dem Tag Folgendes passiert: Meine Klasse – ich weiß nicht, wie groß die Delegation war, aber meine Klasse bestand aus 22 Kindern, und nach allem was ich weiß, waren auch meine vermeintlich besten Freundinnen darunter – gingen nach dem Unterricht zu meiner Lehrerin und setzten ihr die Pistole auf die Brust: »Die Conni soll das Solo singen. Wenn die Maja das singt, kommen wir nicht.«
Meine Lehrerin war eine erbärmliche Pädagogin. Sie war eine nette Frau, sicherlich, sie meinte es immer gut, aber als Pädagogin war sie ein Griff ins Klo. Sie hätte so viele Möglichkeiten gehabt. Sie hätte sagen können »Fein, dann kommt ihr eben nicht.« Sie hätte sich darauf besinnen können, dass das Lied zwei Strophen hatte und jede von uns eine singen lassen. Sie hätte betonen können, dass sie nicht erpressbar ist. Aber was sie tat, war sagen, sinngemäß: »Das ist aber nicht nett!« und »Dann wird die Maja aber traurig sein«, und, als dieser grandiose Appell an das Gewissen nicht fruchtete, zusagen, dass Conni an meiner statt das Lied singen durfte. Conni wusste wie ich nichts von diesem Händel. Wir haben später über die Geschichte gesprochen – erstaunlich, ich habe ihr nie die Schuld an der Sache gegeben, und unsere Freundschaft hat, wenn sie auch nie eng war, noch Jahre über die Grundschule hinaus gehalten. Hätte Conni gewusst, unter welchen Umständen sie an das Solo gekommen ist, sie hätte sich geweigert aufzutreten. Das ist ein Trost, immerhin.
Conni ist wie ich keine große Sängerin geworden, sondern Verkäuferin in einem Bekleidungshaus. Wir haben schon lange keinen Kontakt mehr. Den Texts des Liedes kann ich noch auswendig, jede einzelne Zeile. Aber noch heute, sechsundzwanzig Jahre später, werde ich traurig, wenn ich einen Martinszug höre.