Wieder einmal ist es soweit, die Arbeit an einem Roman neigt sich dem Ende zu, aber statt dass ich meiner üblichen Buchschlusspanik verfalle und jammere, dass ich meine liebgewordenen Helden verlassen muss, zeige ich mich vor allem unentschlossen. Ich habe noch vier Tage lang zu schreiben, dann bin ich fertig, und eigentlich sollte ich genau wissen, was ich da zu schreiben habe. Aber genau an einer entscheidenden Stelle war ich bis zuletzt unentschlossen: Gibt es ein Happyend, oder gibt es keines? Natürlich, das Wort ‚Happyend‘ ist bei den Mohnkindern so oder so falsch gewählt. Es ändert nichts mehr daran, dass ein kleines Mädchen tot ist und nicht mehr ins Leben zurückgeholt werden kann, egal wie ich mich entscheide. Die Happyend-Frage betrifft in diesem Fall nur das überlebende Mädchen, Laurel. Wird sie lernen, mit dem Tod der Zwillingsschwester zu leben und ein eigenständiges Leben zu führen? Oder lässt sie sich von Ivys Geist überzeugen, dass sie zusammengehören, für immer, und nimmt sich ihr eigenes Leben?
Der eine Schluss ist versöhnlich und hat einen positiven Ausblick, der andere kommt dafür bestimmt überraschender, und ich habe meine Leser immer schon gerne überrascht. Außerdem hatte ich seit der Flöte aus Eis kein trauriges Ende mehr – und das war 1997. Meine Betaleser wünschen sich einen positiven Ausgang, was mich erfreut, denn das heißt, die Figuren liegen ihnen am Herzen. Aber ich, unentschlossen bis zum Schluß, habe die Entscheidung von einer Wendung in meinem Leben abhängig gemacht: Für heute konnte ich endlich von meiner Agentin die Rückmeldungen der Verlage zu meinem Roman erwarten, und da ich wusste, wie sehr mich Absagen runterziehen würden und in welcher Stimmung ich danach weiterschreiben muss, habe ich das beliebte Gänseblümchenspiel »Sie liebt mich, sie liebt mich nicht« auf meine Geschichte übertragen: Gute Nachrichten – Laurel lebt. Schlechte Nachrichten – Laurel stirbt.
Und dann kam die Mail. Sie war niederschmetternd. Von acht Verlagen haben zwei noch nicht geantwortet – und sechs abgesagt. Sechs Verlage, gute Verlage, in die ich all meine Hoffnungen gesetzt hatte (bis auf die zwei, die noch im Rennen sind, natürlich). Ich war am Boden zerstört und bin es immer noch, niedergeschlagen, zerschmettert. Mir läuft die Zeit davon, nie war es wichtiger, einen Vertrag zu bekommen, und nie schien es in greifbarerer Nähe zu sein… Ich darf eigentlich nicht vorschnell trauern, denn noch ist nicht alles verloren, noch sind zwei großartige Verlage im Rennen, die beide Ja sagen können – und sollen – und selbst wenn die auch noch absagen, gibt es immer noch mehr Verlage, die noch keine Chance hatten, einen Blick auf das Buch zu werfen. Und selbst wenn es noch dicker kommt, wenn der Roman Geigenzauber nachfolgt und überall durchfällt, habe ich immer noch meine Mohnkinder in der Hinterhand, und irgendwann wird es schon klappen – aber irgendwann ist nicht jetzt, und irgendwann hilft mir nicht, den Gründungszuschuss für den Start in die Selbständigkeit zu bekommen. Also, was die Nachrichten dieses Freitags anging, sie waren letztlich so negativ, wie sie nur irgendwie sein konnten.
Also, Laurel stirbt? Nein. Laurel stirbt nicht. Mich interessiert nicht mein Geschwätz von gestern, ich hatte einen Tag mehr, um über meinen Plot nachzudenken, und ich will, dass Laurel lebt. Gänseblümchen schreiben keine Bücher. Autoren tun das, und Autoren treffen ihre eigenen Entscheidungen. Was hat den Ausschlag gegeben? War es der Gedanke, dass das Buch mit einem positiveren Ende verkäuflicher sein könnte? Nein, das war mir in dem Moment schnurz. Ich habe mir noch nie vom Markt vorschreiben lassen, wie meine Bücher zu enden haben. Habe ich im letzten Moment kalte Füße bekommen, eine Zwölfjährige vor einen Zug zu stoßen? Nein, das hätte ich getan, und dabei geheult wie ein Schloßhund. Der Grund war ein anderer. Der Grund ist der gleiche, warum ich keine Buchschlusspanik habe: Es ist ja nur das Ende dieses Buches, nicht das Ende Percys, der mir erhalten bleiben soll für noch mindestens zwei großartige Bücher. Aber für Laurels Tod hätte sich Percy die Schuld gegeben und damit vermutlich sogar richtig gelegen. Und Percy ist auch so schon verkorkst genug. Ich hänge an Percy. Und darum bekommen meine Mohnkinder am Ende doch den positiven Ausblick, den sich meine Betaleser so sehr wünschen.