Da dachte ich, ich hätte das Patentrezept gefunden, um wie ein professioneller Autor zu leben und nie wieder einen Durchhänger zu haben: mit eisernem Willen und Disziplin. Nachdem ich 2020, 2021, 2022 wirklich maue Schreibjahre hatte, in denen ich weit hinter meinen selbstgesteckten Zielen zurückgeblieben bin, sollte ab 2023 alles besser werden. Mit dem ersten Januar startete ich ein Schreibregime, wie es strenger nicht sein konnte, und ich hatte Erfolg damit. An jedem Tag, jedem einzelnen Tag, schrieb ich brav mein Pensum von mindestens 1.390 Wörtern, egal ob ich gesund war oder krank, zuhause oder unterwegs.
Ich verpasste meinen geliebten Filkzirkel auf der Convention im Herbst, weil ich keine Schreibsession auslassen durfte, ich saß auf dem Tintenzirkeltreffen mit meinem Ipad und schrieb, umgeben von ebenfalls schreibenden Kolleg:innen, wie ein echter Profi, und selbst mit Covid und Fieber brachte ich mein Pensum zu Papier. Ich wusste, es war nicht das gesündeste Verhältnis zum Schreiben, das ich da entwickelt hatte, doch mir war wichtiger, meine Streak am Laufen zu halten, und unterm Strich schöpfte ich aus dieser Leistung so viel Zufriedenheit und Kraft, dass ich alles in allem mit einem Plus herauskam und meiner zunehmend besorgten Umgebung versicherte, dass sie sich keine Sorgen um mich zu machen brauchten.
Ich durchbrach die Schallmauer und übertraf mein Jahresziel um ein Drittel, und ich war darüber so stolz wie nur irgendwas. Das einzige, was ich jetzt noch tun musste, war, diese Leistung im Jahr 2024 zu übertreffen. Denn das war möglich: 2023 hatte ich eine Streak von 365 Tagen eingefahren, aber 2024 ist ja ein Schaltjahr, da kann ich auf 366 Tage kommen! Und so, ohne mir auch nur einen einzigen Tag Verschnaufpause zu gönnen, machte ich Anfang 2024 da weiter, wo ich aufgehört, oder eben nicht aufgehört, hatte. Das ging so lange gut, bis ich im Februar krank wurde, und anders als bei meinem doch recht milden Covid-Verlauf im letzten Herbst war ich zumindest einen Tag lang zu krank zum Arbeiten.
Es brach mir das Herz, aber ich hatte keine Wahl, und wirklich, niemand soll sich dafür entschuldigen müssen, krank zu sein. Da ging sie hin, meine Siegessträhne – aber nur einen Tag später war ich wieder auf den Beinen, oder besser, saß mit meinem Laptop im Bett, und schrieb wieder, bereit, die neue Strähne wieder bis zum Jahresende durchzuziehen, als wäre nichts passiert. Vielleicht schrieb ich danach sogar noch freier als vorher, hatte ich doch verstanden, dass ein Tag Pause nicht das Ende aller Tage bedeutet, dass man auch mal loslassen muss, und dass es wichtigere Dinge gibt, als immer nur verbissen auf die Streak zu starren. Aber letztlich mache ich genau so weiter, wie ich aufgehört hatte. Gönnte mir keine freien Wochenenden, saß abends nach dem Chorworkshop noch mit dem Schreibzeug im Hotel, um mein Pensum in den Kasten zu bekommen …
Und dann passierte etwas, das ich mir nicht erklären konnte. An einem Tag Anfang Mai hörte ich auf zu schreiben. Einfach so. Es war nichts passiert. Ich war nicht krank, und auch nicht sonstwie verhindert. Alles, was los war, war, dass ich keine Lust hatte. Ich schob das Schreiben auf bis zum späten Abend – und dann beschloss ich, dass ich müde war und ins Bett gehen wollte. Und so ging ich ins Bett. Ich sagte mir, dass ich einen Tag Pause wahrlich verdient hatte. Und ich erinnerte mich daran, wie ich im Februar nach einem Tag Krankenpause ja auch ganz schnell wieder auf die Beine gekommen war. Ich nahm mir vor, am anderen Tag zum Ausgleich schon vormittags zu schreiben, und dann nochmal am Abend, um den Rückstand auszugleichen. Aber dazu kam es nicht. Am nächsten Tag schrieb ich nicht, und am übernächsten nicht, und am Tag drauf immer noch nicht.
Urlaub, sagte ich mir. Das war es. Ich hatte mir einen Urlaub verdient, und wirklich, ich denke, das hatte ich auch. Ich war ganz sicher urlaubsreif nach eineindrittel Jahren Dauerarbeit. Ich verbrachte die Zeit mit Lesen, mit Computerspielen, ich ruhte mich aus, und ich vermisste das Schreiben überhaupt nicht. Mit jedem Tag ging es leichter, mit jedem Tag ließ das schlechte Gewissen nach, bis meine Woche rum war und ich wieder mit der Schreibarbeit anfangen wollte – und nicht richtig reinkam. Ich hatte keine Lust, ich hatte keinen Plot, und so schrieb ich ein bisschen und hörte wieder auf und beschloss, den Urlaub noch um ein paar Tage zu verlängern.
Es waren ein paar zähe Verhandlungen, die ich mit mir selbst fühhrte, hin- und hergerissen zwischen dem Drang nach Erholung und der Selbstverpflichtung, jeden Tag zu schreiben, aber letztendendes gönnte ich mir einen Urlaub bis Ende Mai. Dreieinhalb Wochen sollten mir die volle Erholung bringen, und nach dem Motto »Alles kann, nichts muss« konnte ich jeden Tag aufs Neue überlegen, ob ich schreiben wollte oder nicht. An den allermeisten Tagen wollte ich nicht. Der Spaß war weg. Ich hatte keine Ideen, weder für etwas Neues, noch für die Werke, an denen ich bereits gearbeitet hatte, und je mehr sich der Mai zum Ende neigte, desto mehr wuchs meine Besorgnis, das Schreiben wieder verloren zu haben.
Dunkle Erinnerungen wurden wach. 2020 hatte ich, um die gleiche Jahreszeit herum, eine so schwere Depression bekommen, dass ich über Monate nicht schreiben konnte und beim Verlag ein ganzes Jahr Verlängerung für das »Gefälschte Land« ausbedingen musste. Und 2022 hatte mich das Weltgeschehen in die Knie gezwungen, bis ich an einem Punkt war, wo ich nicht mehr weiterleben wollte und ans Schreiben auch nicht mehr zu denken war. Das jetzt – war das noch Urlaub? Oder war es nicht doch vielmehr eine Depression? Ich wusste, dass ich psychisch nicht so gut dabei war, wie ich sein sollte. Meine Angstzustände hatten mich so fest im Griff – haben das auch heute noch – dass ich es nur noch mit Begleitung vor die Tür schaffte. Eine Depression obendrauf kam da nicht so unerwartet.
Aber ich wehrte mich. Der Juni kam, und ich beschloss, das Schreiben wieder aufzunehmen. Eine tolle Challenge im Tintenzirkel sollte mir den verlorenen Spaß zurückbringen, und der »Sturmtrinker«, für den ich noch Plot übrig hatte, sollte mir helfen, wieder aus dem Loch rauszukommen. Ich schaffte drei Tage. Und dann ging wieder nichts mehr. Jetzt war ich mir sicher: Ich hatte das Schreiben verloren. Und jedes Mal, wenn das passiert, fühlt es sich an, als wäre es für immer. Ich kämpfte mit mir, ich rang um neue Ideen – ich hatte mir doch vorgenommen, meiner Agentin ein neues Kinderbuchkonzept zu schicken, als Nachfolger für die »Vierte Wand« – und mir fiel nichts ein. Ich rang mit mir, ich wrang mein Hirn aus – normalerweise muss ich nach neuen Ideen nie lange suchen, sie springen mich an, ob ich will oder nicht, und darum ist meine Liste ungeschriebener Bücher so lang. Aber diesmal fiel mir nichts ein.
Der Druck, den ich mir machte, war groß. Es ging ja nicht um irgendeine Geschichte. Ein Nachfolger, der sowohl der »Vierten Wand« als auch »Unten« das Wasser reichen konnte, ein Buch, das nicht nur eine Geschichte erzählte, sondern noch dazu eine Botschaft transportierte, sei sie nun politisch oder philosophisch – und alles, was mir in den Kopf kam, waren Bonbons. Genauer, eine Geschichte über einen verzauberten Bonbonladen. Nun sind Bücher über verzauberte kleine Läden ja gerade total modern, aber ich konnte aus dem Aufhänger wirklich nichts Maja-Mäßiges machen. Am Ende hatte ich eine Stadt, die unter Bonbonmasse verschwindet, eine neurodivergente Hauptfigur, die sich über eine weggefutterte Süßigkeit mit ihrer besten Freundin entzweit, einen entwurzelten Jungen namens Kip, und das Schlagwort »Candypunk« – und beim besten Willen kein Buch. Nichts, was wir meiner Lektorin hätten schicken können. Mehr etwas, mit dem man nach einem unruhigen Traum aufwacht und denkt »Daraus lässt sich was machen!«, nur um im Wacherwerden ein »Nein, doch nicht« dranzuhängen.
Meine Agentin war, wie immer, großartig. Ich legte meine Karten auf den Tisch: ich war ideenlos, hatte keinen Plan für einen würdigen Nachfolger – und sie spielte mir ein paar Stichwörter zu, ein paar Anreize, ein paar Aufhänger. Und plötzlich kam eines zum anderen. Erst ging mir auf, dass ich eines meiner aktuellen Projekte mit ein paar Modifkationen zu einem Jugendbuch mit Mehrwert machen konnte, auch wenn es bedeutete, ziemlich viel Text zu streichen und am konzept zu schrauben. Und als nächstes sprang mich ein Konzept, das ich vor dreizehn Jahren entwickelt und niemals umgesetzt hatte. Auch das musste ich gehörig tweaken – schmerzloser, diesmal, denn es gab ja überhaupt noch keinen Text, also auch nichts zum Streichen – und so setzte ich mich hin, entwickelte Exposés, und schickte sie an die Agentin. Und als sie mir zurückschrieb, dass sie beeindruckt war, fühlte es sich an, als wäre ein Felsbrocken von meiner Seele gerollt.
Ich bin ja normalerweise nicht so vage, was meine aktuellen Projekte angeht, aber die Exposés liegen jetzt bei meiner Lektorin, und ich will nicht meine Chancen auf ein tolles Buchprojekt riskieren, indem ich zu früh zu viel verrate. Alles, was ich jetzt sagen kann, ist, dass ich doch noch Ideen habe – und wenn es nicht für Neue reicht, dann habe ich immer noch Alte. Es ist doch gar nicht so schlecht, eine lange Liste an ungechriebenen Büchern zu haben, die nur darauf warten, irgendwann einmal aus der Schublade geholt zu werden.
Und jetzt, seit über einer Woche, schreibe ich wieder. Jeden Tag, eisern, mein Pensum. Ich will eine Leseprobe zustandebringen, die ich anbieten kann, falls der Lektorin das Konzept gefällt – bis jetzt habe ich für das neue alte Buch ja nicht mehr als ein Exposé, und etwas mehr brauche ich schon, um zu überzeugen. Und es klappt. Ich kann mich zum Arbeiten bringen. Im Moment fließt es noch nicht wieder so sprudelig, wie es sollte, es tröpfelt mehr vor sich hin, aber immerhin, es kommt wenigstens etwas, und es kommt jeden Tag ein bisschen mehr. Ich will an der neuen Geschichte schreiben und an der, die ich umstellen muss und von der ich gerade 180 Seiten Text in die Tonne getreten habe, weil er nicht mehr passt, und wenn nebenbei gibt es immer noch den »Sturmtrinker«, und dann habe ich noch eine »Traumstadt«, die eigentlich dieses Jahr fertig werden sollte, und dann war da noch was mit den »Elomaran«, und überhaupt … Irgendwas fällt mir schon ein. Irgendwas finde ich zu schreiben, jeden Tag.
Ich weiß nicht, wie ich den Mittelweg beschreiten soll – schreiben mit regelmäßigen Wochenenden, freien Tagen, nach denen ich wieder eine reguläre Arbeitswoche hinlege. Ich kann, zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt, nur ganz oder gar nicht, entweder jeden einzelnen Tag oder gar nicht. Im Moemtn mit ich mit »jeden einzelnen Tag« zufriedener. Aber ich arbeite dran. Für die Zukunft. Erstmal muss ich wieder auf die Beine kommen. Den alten Schwung wiederfinden, und die Liebe zu meinem Handwerk, zu meiner Kunst. Aber ich bin dabei. Ich bin wieder dabei.
Mehr davon? Dann abonniert meinen Newsletter!