Mitleidscrisis

Ich habe kürzlich meinen Geburtstag gefeiert, und es war mein neunundvierzigster. Da ich das Glück habe, ausgerechnet am Welttag des Buches meinen Geburtstag feiern zu dürfen, erinnern sich auch viele alte Bekannte an meinen Geburtstag, und ich konnte mich über zahlreiche liebe Glückwünsche freuen, die nicht nur auf der Facebook-Erinnerungsfunktion beruhten. Aber so sehr ich mich darauf gefreut habe, in ein neues Lebensjahr einzutreten, neue Chancen ergreifen zu könenn und leckeren Kuchen zu essen, ist mir in diesem Jahr doch plötzlich schmerzlich aufgegangen, dass ich wahrscheinlich die Hälfte meines Lebens – und die längere, was das betrifft – hinter mir habe und es von jetzt an nur noch bergab gehen kann. Und plötzlich bin ich wieder da, wo ich mit Anfang zwanzig war, und das nicht, um mich noch einmal jung zu fühlen.

Heute blicke ich zurück auf mein Studium als die schönste Zeit in meinem Leben, und es ist wahr, dass ich die Erfahrungen, die ich da gesammelt habe, nicht mehr missen möchte, und vieles war wirklich, wirklich schön. Aber das Ganze wurde überschattet von etwas, das ich damals meine Quarterlifecrisis nannte und heute als die erste der Depressionen betrachte, die mich seit Jahrzehnten durch mein Leben begleiten. Damals war es die Angst, dass das Paradies nicht für immer andauern würde, die dazu führte, dass genau dieses Paradies Flecken bekam, und ich begann, mit einer Angst zu leben, für die ich kein Gegenmittel hatte: Die Angst vor meiner eigenen Sterblichkeit.

Schon als ich noch zur Schule ging und mit einer Akribie, über die ich heute nur den Kopf schütteln kann, Tagebuch führte, war mir aufgefallen, dass jedes Jahr schneller zu vergehen schien als das vorhergegangene, und ich erkannte auch schnell den Grund, warum mir das nicht nur so vorkam: Der Anteil eines einzelnen Jahres am eigenen Leben schrumpft, je älter man wird. Bin ich ein Kind von drei Jahren, entspricht ein Jahr noch einem Drittel Leben. Mit zehn ist es nur noch ein Zehntes. Und jetzt, wo ich auf die Fünfzig zugehe, fliehen die Jahre nur noch so vorbei, ein Jahr ist nur noch zwei Prozent Lebenszeit, und schon ist es wieder rum … Wenn es nach dieser Wahrnehmung ginge, müsste ich dauernd Geburtstage und weihnachten feiern dürfen, aber irgendwie hat meine Theorie da noch ein paar Mängel – es fühlt sich zwar immer so an, als wäre der letzte Geburtstag gerade eben erst gewesen, aber dazwischen liegen dann doch zu viele graue Tage, ganz ohne Kuchen.

Aber zu meiner Schulzeit hatte mir das noch nicht viel ausgemacht. Gut, ich erinnere mich an ein Mal, dass ich, da muss ich gut dreizehn gewesen war, untröstlich in Tränen aufgelöst war ob der Aussicht, erwachsen zu werden, aber alles in allem bin ich doch ganz gern herangewachsen, war froh, als ich die Schule, in der ich selbst in der Oberstufe noch stark gemobbt worden bin, hinter mir lassen durfte und es ein Ende hatte mit Sport- und Philosophieunterricht (nichts gegen Philosophie, aber wenn bei jeder einzelnen Wortmeldung von mir Mitschüler Thomas B. den Kopf auf die Tischplatte schlugt, wurde mir dieses spannende Fach doch arg verleidet). Im Sommer 1994, mit meinem Abitur in der Tasche, gab es dann kein Halten mehr: Auf mich wartete mein neues Leben, die Chance, meinen Traum zu erfüllen.

Ich zog in meine erklärte Lieblingsstadt, nach Köln, ich studierte mein erklärtes Lieblingsfach, Bibloithekswesen, und so sehr ich meine Familie und meine drei jüngeren Geschwister auch liebte, war ich doch froh, auf eigenen Füßen stehen zu dürfen, in meine eigene kleine Wohnung zu ziehen, und das Studenten- und Großstadtleben in vollen Zügen zu genießen. Das Dorf, auf dem ich aufgewachsen war, hatte mich erdrückt, nun war ich frei. Und um mein Glück perfekt zu machen, lernte ich dann noch in der ersten Woche meines Studiums die beste Freundin, die ich jemals gehabt hatte, kennen, und dreißig Jahre später sind wir immer noch befreundet. Und wo ich die Stadt liebte und das Studium genoss, war es diese Freundschaft, die das Ganze perfekt machte.

Buchstäblich von einem Tag auf den anderen waren wir zwei unzertrennlich, so dass selbst die Dozenten Witze darüber machten. Ich hatte Freunde gehabt, als ich noch zur Schule ging, doch das war nicht das Gleiche, waren Zweckgemeinschaften, die meinen Fortzug nicht überlebten und die ich nicht vermisste. Erst jetzt erlebte ich das, wonach ich immer gesucht hatte, eine Gleichgesinnte, mit der ich jeden Tag verbringen konnte und ihrer nie überdrüssig werden. Wir schrieben Bücher zusammen, wir spielten in unserer Freizeit Hamlet, wir fuhren in den Semesterferien mit einem Interrailticket nach Großbritannien, wo wir an Tolkiens Grab eine Blume ablegten und tonnenweise Bücher kauften, ohne uns Gedanken darüber zu machen, dass wir die ja alle auf unseren Rücken wieder nach Hause schleppen mussten … Es war perfekt. Es war zu perfekt. Und ich wusste, es würde nicht für immer sein, und darunter brach ich zusammen.

So schön ein Fachhochschulstudium in den Neunzigerjahren war – es dauerte in der Regel nur sechs Semester. Und auch wenn wir davon träumten, im Anschluss noch ein zweites Studium dranzuhängen, wussten wir, es konnte nicht für immer sein. Drei Jahre, das war nicht mehr viel Zeit, wenn man schon über zwanzig war, und als es ins vierte Semester ging und das halbe Studium rum war, brach das über mich herein, wie es nur die eigene Sterblichkeit konnte. Ich fiel in ein Loch, aus dem noch nicht einmal meine Freundin oder Hamlet mich noch herausholen konnten. Ich schrien Gedichte mit Titeln wie »Street of Decay« oder »Die Nacht in meiner Seele«, und was jetzt wie eine augenzwinkernde Annekdote klingt, ach, diese Jugend und ihre eingebildeten Probleme, war das wirklich schwer für mich und für alle, die damals aushalten müssen. Depressionen sind niemals schön, erst recht nicht, wenn man noch keine Diagnose dafür hat und auch keine Behandlungsmöglichkeit.

Auch das Erwachsenensein war nicht so, wie ich mir das vorgestellt hatte. Letztlich war ich ohne große Vorwarnung mit neunzehn Jahren ins kalte Wasser geschmissen worden. Ich konnte eigenständig einkaufen und leidlich gut kochen, ich konnte sehr sparsam mit meinem Geld haushalten, aber ich war nicht daran gewöhnt, allein zu sein, und der Hamster, den ich mir anschaffte, um mir zumindest ein bisschen Gesellschaft zu leisten, konnte meine Familie nicht ersetzen. Und dann kamen dazu Dinge, die ich katastrophal falsch machte. Ich hatte nie wirklich gelernt, zu Anmachversuchen Nein zu sagen – tatsächlich hatte nie jemand irgendein Interesse an mir gezeigt – und als mich innerhalb kurzer Zeit zwei junge Männer nach meiner Telefonnummer fragten, fand ich keine andere Möglichkeit, sie loszuwerden, als ihnen meine Telefonnummer, meine richtige, echte Telefonnummer, zu geben.

Ja, ich kann darüber heute nur noch die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Jetzt hatten also zweie, von denen ich wirklich nichts wollte, meine Telefonnummer, und beide wollten um so mehr von mir. Andauern riefen sie an, wollten sich mit mir treffen, und ich musste dann versuchen, sie irgendwie wieder loszuwerden, ohne sie zu sehr vor den Kopf zu stoßen. Das war zu einer Zeit, als man nicht mal eben so einen Anrufer blocken konnte, als Telefone nicht auf einem Display die Nummer des Anrufenden anzeigten – man ging dran und erfuhr dann, ob es die beste Freundin war, die eigene Mutter, oder ein unliebsamer Verehrer. Ich half mir auf die einfachste Art: Ich zog den Stecker des Telefons aus der Wand und steckte ihn nur ein, um selbst jemanden anzurufen. Auf diese weise terrorisierte mich nicht das Telefon mit seinem ständigen Klingeln – aber ich war auch abgeschnitten vom Rest der Welt, war nicht erreichbar für Menschen, für die ich eigentlich erreichbar sein wollte, und ich weiß, dass meine Eltern sehr darunter gelitten haben, dass ich offline ging und buchstäblich vom Angesicht der Welt verschwand.

Das waren die Schattenseiten des Paradieses: Depressionen und eine Angststörung können einem auch die schönste Zeit überhaupt verleiden. Aber ich hatte noch Glück im Unglück: Ich war ein kreativer Mensch, und ich konnte das, worunter ich litt, in meine Geschichten ausgliedern. So vermachte ich meine ständige Angst vor dem Vergehen der Zeit einer Figur in dem ersten Roman, den ich fertigstellen sollte. Dhelin von Thoria, der sich selbst aus unerfindlichen Gründen Felder nennt, war fünfundzwanzig Jahre alt und litt unter dem Vergehen der Zeit und der Aussicht, seine Jugend zu verlieren, und oh, was habe ich mich mit ihm identifiziert! Natürlich, Felder war nicht ich, er war ein Glücksritter, Frauenheld, Alkoholiker, er hatte wirklich über die Depressionen hinaus nicht viel mit mir gemeinsam, aber die Depressionen, das war schon ein ziemliches Bindeglied, und wo ich früher meine Tagebücher geführt hatte, steckte ich jetzt diese Energie in mein Buch, und als ich es fertig hatte, war mein Studium rum und das, was ich am meisten gefürchtet hatte, eingetreten – und ich überlebte es. Es passierten andere Dinge, die nichts mit dem Vergehen der Zeit zu tun hatten, es kamen andere Probleme, realistischere, nicht so abstrakte wie »noch dreimal so alt werden wie jetzt, und dann bin ich alt« – und irgendwie, als ich dann Mitte Zwanzig war, wuchs ich aus der Quarterlifecrisis wieder raus.

Jetzt hat sie mich zurück, als klassische Midlifecrisis, und ich versuche, darüber zu lachen. Ich habe weder das Bedürfnis, mir eine junge Geliebte zuzulegen, noch einen schnellen Sportwagen, so ist es nicht – aber das Gedankenkarussell ist zurück, die Grübelei, die Angst vor dem Sterben. Meine Oma, die vor einigen Jahren gestorben ist, ist neunundneunzig geworden, und ich weiß, dass sie froh war, dass es keine hundert mehr geworden sind, aber ich … ich mag die Vorstellung nicht, dass ich wahrscheinlich nicht nochmal neunundvierzig Jahre lang leben werde.

Als ich Anfang, Mitte zwanzig war, hatte ich, realistisch betrachtet, noch keinen Grund, um meine Jugend zu bangen. Ich sah so jung aus, dass ich mich freuen konnte, überhaupt für erwachsen gehalten zu werden, und ich fühlte mich auch nicht alt – ich hatte nur Angst vor den Veränderungen, die mich in späteren Phasen meines Lebens erwarten würden, Angst, dass meine Freundschaft das Studium nicht überleben würde, so wie meine früheren Freundschaften mit meiner Schulzeit geendet waren oder davor mit meinem Wegzug aus dem Ruhrgebiet – ich hatte Angst, wieder allein zu sein. Heute sind meine Ängste andere. Ich bin glücklich verheiratet, ich telefoniere immer noch oft mit meiner besten Freundin, aber mein Körper fängt an zu verschleißen. Ich habe es in den Knien und in der Schulter, und ich fürchte, das wird in den nächsten Jahren nicht besser – wenn das die Hälfte des Lebens war, was erwartet mich dann in der zweiten?

Ich fürchte, dass meine besten Tage hinter mir liegen, weil es echt gute Tage waren und es schwer wird, das zu toppen. Aber ich habe eigentlich keinen Grund, mich zu beschweren. Meinen bisher größten Erfolg als Schriftstellerin habe ich letztes Jahr gefeiert, mit achtundvierzig, als »Unten« den Wetzlarer Phantastikpreis gewonnen hat, und weil ich merke, dass meine Bücher insgesamt immer besser werden, kann ich das auch in meiner zweiten Lebenshälfte übertreffen. Nichts gegen den Menschen, der ich mit Anfang zwanzig war, aber ich konnte echt noch nicht so gute Geschichten schreiben wie heute, und ich denke, da habe ich noch einiges an guter Entwicklung vor mir.

Realistsich weiß ich das ja alles, wirklich. Ich weiß, dass neunundvierzig nicht alt ist, nicht für einen Baum und nicht für Menschen in einer Industrienation des 21. Jahrhunderts. Ich weiß, dass ich mit mehr Sport meine Knie- und Schulterprobleme in den Griff bekommen kann. Ich weiß, dass ich keinen Grund zu jammern habe. Aber das hält mich nicht davon ab, in ein Loch zu fallen bei der Vorstellung, wie viel Zeit schon vergangen ist und wie wenig mir noch bleibt. Dass ich heute so viel besser schreibe als früher, übersetze ich mir damit, dass ich meine Jugend vergeudet habe, statt damals schon eine starke Autorin zu sein – ich war jung, ich war schnuckelig, wie gut hätte man mich vermarkten können! Mein Slogan damals war »Wenn ich groß bin, werde ich ein Wunderkind!« – hätte ich mal daran gearbeitet!

Ich hoffe, dass diese Krise in ein paar Jahren wieder vorbei ist, so wie sie damals nach ein paar Jahren wieder vorbei war (und anderen Krisen gewichen …). Ein paar Jahre, das ist ja nicht mehr viel Zeit für mich. Und dann werde ich ganz offiziell in Würde ergrauen. Und schreiben, immer besser schreiben, so lange und so gut ich das irgendwie kann.

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